Eine verborgene Welt

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Eine verborgene Welt
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Alina Tamasan

Gniri Noromadi

Eine verborgene Welt

Band 1

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2014

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2014) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Covergestaltung Winfried Dung

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Auf der Wiese (Rì-thìnia-tuth haas)

Tanz am Feuer (Mès-mès-m!-òrit)

In der Psychiatrie (Giri-ù thra-ha)

Im Haus (Ia-ra hì)

Auf dem Weg (Iàk-thon har)

In der Zivilisation (Màr-nok | hoar-hoàriits)

Sieh hin! (Gèrthan-dhaar)

Zu Gast (Mei-niòk)

In der Elfenhöhle (Ir-thra paar | dh’Ililya)

In Liebe (Ktsòthan-dhaar)

Im Maulbeerbaum (Isìk-thaar huur)

In der Hoffnung, dass … (Merk-nour | wàtheri)

Daheim (Èsokth-haar)

Verrückt (Tici-tici)

Im Umbruch (Daar à-i àdar)

Bei Parthion (Sa-ra Parthion)

Die große Versammlung (Chia-hat | za -zàwghri)

Personenverzeichnis

Stichwortverzeichnis

Zeichen der Naturwesensprache

Endnoten

Auf der Wiese (Rì-thìnia-tuth haas)

So sehr sie sich ihre langen spitzen bekrallten Finger auch schrubbte, die braunen Verfärbungen gingen einfach nicht ab. Finilya betrachtete skeptisch ihre sehnigen Hände. Dabei dachte sie an ihre Mutter Irukye, die der Ansicht war, dass nur eine saubere Frau eine gute Frau war. Sie konnte wirklich nichts dafür. Sie arbeitete nun einmal jeden Tag mit Erde, und das, so hatte ihr auch die ortsansässige Heilerin gesagt, sei normal: ‚Die Haut erhält die Farbe dessen, womit du arbeitest.‘

„Ah, was mühe ich mich ab? Es hat doch sowieso keinen Sinn“, murmelte die junge Frau in der Singsangsprache ihres Volkes, einer Spezies von Naturwesen, die sich Gniri nennt. Sie wischte ihre Finger am trockenen Moos ab und fuhr sich durch das Haar. Die schwer definierbare Farbe ihres Haars mit seinen verschieden farbigen Strähnen – auch wieder so etwas, das eine hübsche Gnirifrau im heiratsfähigen Alter nicht haben durfte. Gerade erst vor zwei Tagen hatte ihre Mutter sie dazu überreden wollen, sie sich zu färben. Woher diese schlammige Haarfarbe stammte, das hatte Irukye ihr eisern verschwiegen.

„Finilya, wo bleibst du denn?“ Die junge Frau zuckte zusammen und sah für einen kurzen Moment in ihr erschrockenes Gesicht, das von der Wasserfläche des irdenen Kruges widergespiegelt wurde. Mit einer beiläufigen Bewegung schüttete sie das gebrauchte Wasser, das sie in einer Holzschale für sich abgeschöpft hatte, aus dem Fenster. Draußen machte es laut platsch. Sie richtete kurz ihre großen spitzen Ohren auf und horchte. Als die Stimmen der Beschwerde auslieben, nickte sie und eilte zur Feuerstelle, wo sie sich neben ihrem Vater und ihren zehn Geschwistern niederließ. Inmitten der knisternden Flammen brodelte Suppe in einem Kessel. Aufeinander gestapelte Holzschalen lagen auf der Erde. Finilya verteilte sie schnell. Ihre Mutter fuhrwerkte in einer Ecke des Raums herum, die im Dunklen lag. Aber das machte der alten Frau nichts, auch in ihrem Alter hatte sie noch Augen wie ein Luchs.

„Die Suppe ist fertig“, murmelte sie und trat mit einer Kelle an den Kessel. Sofort hielten ihr alle Familienmitglieder ihre Schalen hin. Irukye befüllte sie nach einem bestimmten System: Zuerst kam ihr Mann an die Reihe, er war das Oberhaupt der Familie, dann waren die Kinder dran, zuerst die Kleinsten. Finilya half, sie zu versorgen. Sie verteilte einen hellen mehligen Brei aus einem Tiegel, den sie von Irukye erhielt.

„Schau, was für ein schönes Mädchen du geworden bist“, lobte ihr Vater Rìa sie stolz.

„Schön?“ Irukye hob skeptisch eine Augenbraue, „wohl eher schön faul, willst du sagen. Eine Tagträumerin ist sie, aber …“, das runzlige Gesicht der alten Frau bekam eine freundlichere Note, „eine Tagträumerin, die einem brauchbaren Mann den Kopf verdreht hat!“ Sie lächelte und leckte sich verschwörerisch über die langen spitzen Zähne. Finilya schüttelte seufzend den Kopf.

„Mama? Was ist da drin?“ Der kleine Pindra war soeben dabei, es heraus zu finden. Irukye konnte gerade noch verhindern, dass er den glühend heißen Kessel anfasste.

„Lass das!“, fuhr sie ihn an und gab ihm eine Backpfeife, worauf der Kleine herzzerreißend zu weinen anfing.

„Naa, nicht weinen“, Finilya nahm ihn in den Schoß und strich sanft über seine nassen runden Wangen, „es gibt lecker Essen!“

„Von wegen Essen! Wieder diese dünne Wurzelsuppe, die wir schon gestern und vorgestern hatten“, hörte sie ihre Schwester Mèfai sagen.

„Sei froh, dass wir etwas haben“, mahnte Finilya ruhig, „andere haben noch nicht einmal das! Außerdem haben wir heute reichlich Zutaten, der Nachbar war sehr freigiebig!“ Rìa seufzte leise, sagte aber nichts. Er war der Ernährer der Familie und was hatte er ihr gebracht? Nichts als Armut, andererseits – so sinnierte der Alte, während er sich durch das graue borstige Haar strich – hatte er seiner Familie, die zunächst noch heimatlos gewesen war, eine Bleibe organisiert: das Geäst einer gesunden jungen Buche, die seine große Familie zwar nur dürftig, aber noch bereitwillig ernährte und beherbergte. Er runzelte die Stirn und seufzte leise. Er war der Heilerin Pythera, die Anführerin des Volkes, zu dem sie gehörten, noch immer dankbar, dass sie ihn, seine Frau und die damals drei Kinder bereitwillig aufgenommen hatte.

‚Drei Kinder …‘, gedankenverloren schweifte sein Blick über seine Sprösslinge und blieb an dem kleinen Pindra hängen, dem Jüngsten. ‚Man sagt, Mutter Natur regle, wie viele Kinder, wann zur Welt kommen. Eine Weile lang wollte ich glauben, dass sie es gut mit uns meint, wenn Irukye wieder schwanger wird, aber …‘, sein Blick wanderte zu der eingefallenen Gestalt seiner Frau, ‚irgendwie verstehe ich sie nicht, die Mutter. Wohlhabende Familien klagen oft über zu wenig Kinder und wir …‘ Der alte Mann senkte betrübt den Kopf. ‚Aber‘, sinnierte er weiter und ein Lächeln erhellte seine Gesichtszüge, ‚ich würde mich schrecklich allein fühlen, ohne sie …‘

Finilya schien seine Gedanken erraten zu haben, denn sie nickte ihm aufmunternd zu. Ihren kleinen Bruder auf dem Schoß haltend, wartete sie geduldig, bis auch Irukye Platz genommen und sich bedient hatte. Finilyas Mutter löste etwas Brei in ihrer Suppe auf, setzte sich die Schale an die Lippen und begann loszuschlürfen. Wann immer ein Stück Wurzel in die Nähe ihrer Zunge schwamm, schnellte diese hervor, umfasste es wie der Frosch eine Fliege und zog es in ihren Mund hinein. Ihr Schlürfen war indes für die anderen das Zeichen, ebenfalls mit dem Essen zu beginnen. Rìa vernahm mit genügsamer Zufriedenheit, wie sich seine Familie schmatzend und schlürfend über die Mahlzeit her machte. Irukye sah ihn stirnrunzelnd an und schob ihm die Schale hin. ‚Iss‘, sagte ihr Blick. Rìa nickte, schob sich langsam einen Bissen Brei in den Mund und leckte sich die dunklen Krallen. Dann spülte er etwas Suppe hinterher. Seine Frau nickte zufrieden und wandte ihre Aufmerksamkeit Finilya zu. ‚Ein Abbild ihres Vaters‘, schoss es ihr durch den Kopf und sie beobachtete, wie ihre Tochter den kleinen Pindra mit mundgerechten Häppchen fütterte, die er gurrend verspeiste.

„Iss was, Kind“, ermahnte Irukye Finilya laut. „Der Kleine muss langsam lernen, selbst zu essen.“

„Ja, Mama.“ Als wollte sie beweisen, dass sie eine brave Tochter sei, nahm sie einen kleinen Schluck von der Wurzelsuppe. Die alte Gniri gab ein entrüstetes Fauchen von sich.

 

„Nicht nur das, auch von dem Riàt1, iss mehr davon, du bist eh schon so dünn, brauchst mehr Fleisch auf die Rippen, wenn du deinem Kerl den Kopf weiter verdrehen willst!“ Finilya hatte keinen Hunger. Sie hatte eigentlich nie Hunger, nur ab und an Appetit auf bestimmte kleine Genüsse, die sie sich gönnte, wenn sich die Gelegenheit bot – eine kleine Beere hier, eine Nuss dort, am allerliebsten aß sie Feigen, aber die gab es hier nicht. Sie war nur ein einziges Mal in den Genuss dieser Rarität gekommen.

Als vor einiger Zeit Retasso zu Besuch da gewesen war, hatte er welche aus seiner Heimat mitgebracht. Getrocknet schmeckten sie herrlich süß. Finilya liebte Süßes. Bei dem Gedanken an die Köstlichkeit leckte sie sich mit ihrer spitzen langen Zunge genüsslich über die Lippen. Dann schob sie Pindra erneut einen Happen in den Mund und hielt ihm die Schale zum Trinken hin. Irukye bedachte ihre Tochter mit einem strengen Blick.

„Wenn’s sein muss, mache ich es!“, zischte sie und deutete auf Finilyas Portion. Finilya löste widerwillig etwas von dem breiigen Riàt in ihrer Suppe auf und setzte die Schale an die Lippen. Sie schlürfte langsam und kaute bedächtig an den Wurzelstücken, die sie flink mit der Zunge herausfischte. Irukye nickte zufrieden. Als die Mahlzeit beendet war, erhob sich ihre Tochter und nahm ihren kleinen Bruder auf den Rücken.

„Das geht nicht!“, entrüstete sich Irukye. „Du gehst nicht raus, es wird bald dunkel. Außerdem ist er viel zu schwer für dich, gib ihn mir!“ Ohne Widerworte reichte Finilya ihrer Mutter den Kleinen. Seine murmeligen dunkelblauen Augen begannen vor Freude zu glänzen.

„Mama“, gluckste er und streckte seine haarigen Ärmchen nach ihr aus. Kaum, dass sie ihn zu fassen bekommen hatte, krallte sich der Kleine in ihrem dichten Rückenhaar fest. Mit seinen kräftigen Beinchen umklammerte er ihren ebenso behaarten Bauch.

„Was ist denn das?“, rief die Gniri beim Anblick seiner Klauen bestürzt aus, „wir müssen dir die Krallen schneiden! Finilya, warum hast du das nicht getan?!“ Sie sah ihre Tochter groß an.

„Warum muss ich das immer machen?“, brummte diese entrüstet, „er hält nie still, und ich will ihm nicht jedes Mal ins Fleisch schneiden. Du bist kräftiger, das hast du selbst gesagt.“ Finilya bemühte sich, dem strengen Blick ihrer Mutter standzuhalten. Und tatsächlich, wie schon oft vorher, gab Irukye einen einlenkenden Laut von sich und wandte sich anderen Aufgaben zu. Die junge Frau atmete erleichtert auf und blickte versonnen durch das Fenster ihrer Behausung, die auf einem in den Baumstamm eingelassenen Holzfundament ruhte. Sie wollte gerade hinaushüpfen und wie ein Äffchen über Äste und Stamm nach unten klettern, als sie von hinten jemand am Schopf packte. Sie drehte sich um und blickte in das sanfte Augenpaar ihres Vaters, der freundlich, aber bestimmt den Kopf schüttelte.

„Hör bitte auf deine Mutter“, ermahnte er sie leise. Dann zog er sie hinter sich her, bis sie wieder am Feuer saßen. „Ich weiß, wo du hin willst“, brummte er leise. Finilya senkte verlegen den Blick und knetete nervös an ihren langen Fingern.

„Rangiolf ist ein guter Mann, ein Barde mit hohem Ansehen, was deiner Mutter sehr gefällt, aber du bist für eine Ehe auf jeden Fall noch viel zu jung!“ Die Gniri erwiderte nichts darauf. Was wollte sie ihm auch widersprechen? Er hatte ja recht! Sie sah stirnrunzelnd an sich herunter. Sie war ein nacktes Kind, genau wie ihre Geschwister. Einen bunten Rock, wie ihre Mutter, würde sie erst tragen, wenn sie verheiratet war – ja, wenn sie verheiratet war. Irgendwann musste auch eine junge Frau mal heiraten, nicht wahr? Oder würde sie ewig ein Kind bleiben?

Sie mochte es, abends bei ihrem Vater zu sitzen und den Geschichten aus seiner Jugend zu lauschen oder mit ihm über die Arbeiten des nächsten Tages zu beratschlagen. Wenn er sie dann so liebevoll ansah und ihr sanft durch das Haar strich, fühlte sie sich sehr wohl. Es war doch ganz gut, noch ein wenig länger bei der Familie zu bleiben, anstatt sich in einen Mann zu verlieben, den sie sowieso nie haben würde, weil Rìa ihnen keine Mitgift mitgeben konnte! Herzklopfen hin oder her – eins war klar: Sie konnten sich eine Hochzeit, geschweige denn eine Ehe nicht leisten. Andererseits liebte sie den etwas älteren Rangiolf – und das war keine Jungmädchenschwärmerei, wie viele Leute munkelten, sondern ein Argument für sie, welches immer alle Zweifel beiseite fegte, für einige Zeit jedenfalls. So träumte sie auch diesmal, während sie gedankenverloren Rìas knorrige Hand streichelte.

„Ich glaube, du hörst mir nicht zu.“ Lächelnd blickte er sie an.

„Ich kenne deine Argumente, Papa“, erwiderte die junge Frau. „Hast du dir heute schon das Haar gekämmt?“, geschickt wechselte sie das Thema. Der alte Gniri schüttelte den Kopf. Finilya holte seinen Kamm und fuhr ihm damit vorsichtig durchs dichte borstige Haar. Von Moosfasern über Blätter, bis hin zu kleinem Getier, es gab fast nichts, was sich im Laufe eines oder mehrerer Tage nicht darin ansammelte. Seine Tochter bearbeitete Rìas Haar so lange, bis es sauber war. Irukye, die den Boden fegte und die Kinder anwies, sich bettfertig zu machen, schaute verstohlen zu ihnen hinüber.

„So, Papa, fertig“, sagte Finilya und zupfte Rìa das Haar zurecht. „Mama, möchtest du auch?“ Die Gniri winkte mit dem Kamm.

„Ich habe doch meinen eigenen Kamm“, erwiderte Irukye mit einem stolzen Unterton in der Stimme, „außerdem muss mir jemand Pindra abnehmen, sonst geht das nicht! Er muss sowieso ins Bett … Mèfai“, schrie sie in den Schlafraum hinein, „nimm den Kleinen, er muss ins Bett! Wenn er unruhig wird, gib ihm die Brust, ja?“ Finilyas jüngere Schwester kam angerannt und beäugte stirnrunzelnd das kleine haarige Bündel, das an Irukyes Rücken hing.

„Aber, Mama, ich habe doch gar keine Milch, geschweige denn etwas, woran er saugen kann!“

„Fürs Nuckeln reicht’s“, erwiderte ihre Mutter und fuhr mit der Hand sanft über Mèfais drei Brüste, die zwar noch nicht ausgewachsen, aber auch nicht mehr so klein waren, dass sie für solche Zwecke nicht hätten benutzt werden können. Mèfai stieß ein entrüstetes Fauchen aus.

„Warum immer ich? Finilya hat viel größere. Daran kann er saugen!“

„Finilya kämmt mich jetzt, nun gib keine Widerworte, nimm ihn!“ Mit gekonntem Griff packte Irukye ihren Sohn und gab ihn Mèfai. Der Kleine begann erwartungsvoll vor sich hin zu schmatzen. Das Mädchen nahm ihn und trug ihn in den Schlafraum.

„Na, komm“, hörte Finilya Mèfai flüstern, „ich weiß doch, was du willst.“ Sie lächelte Irukye wissend an. Diese leckte sich verschwörerisch über die Lippen und zwinkerte Finilya zu. Dann griff sie in die große Tasche ihrer braunen Schürze und holte einen kleinen, alten schwarzen Kamm hervor.

„Aus Eichenholz“, erklärte sie stolz und reichte ihn Finilya.

„Ich bin müde.“ Rìa gähnte. „Macht ihr beiden nur, ich geh ins Bett.“ Er schlurfte zu den anderen in den Schlafraum. Finilya begann ihre Mutter geduldig zu kämmen.

„Immer noch so dicht wie eh und je“, sagte sie leise.

„Ah, hör auf mir zu schmeicheln, Kind!“ Die Stimme der Alten klang mit einem Mal müde und gar nicht mehr so streng, wie man es von ihr gewohnt war. „Ich werde alt, das ist eben so. Aber du bist ein wunderschönes Kind geworden, nur essen musst du mehr, sonst fällst du mir vom Fleisch … Dieser Rangiolf, der ist gut für dich, gut genährt! Der kann dich füttern! Wenn du es schaffst, ihn zu heiraten, ohne dass wir ihm eine Mitgift geben müssen, bist du eine gemachte Frau, hohes Ansehen wird er dir bringen! Du musst ihn umgarnen, ihm schmeicheln, dann erbarmt sich vielleicht seine Familie. Außerdem munkelt man, dass Pythera ihn mag und ihn deswegen ausbildet! Vielleicht spendet sie dir was für die Heirat. Überleg dir das mit der Haarfarbe noch mal.“

„Mama! Ich werde mir dieses Zeug nicht in die Haare schmieren. Es ist sowieso schon widerspenstig, damit kleistere ich es mir total zu!“

„Ich kämme dich dann. Die Reste kriegen wir raus. Meine Freundin Safra schwört darauf!“, erbot sich ihre Mutter wie bereits in vergangenen Gesprächen.

„Nein!“ Finilyas Antwort duldete keine Widerworte mehr.

„Na gut, na gut, muss ja nicht sein, ich zwinge dich nicht.“ Damit war das Gespräch beendet.

Finilya kämmte ihrer Mutter noch das Rückenhaar und ließ sich anschließend von Irukye kämmen. Dann betraten sie gemeinsam den Schlafraum. Während sich Irukye im Gewimmel der kleinen und großen Körper, die sich auf der überdimensionalen Liege aneinandergekuschelt hatten, zu ihrem Mann gesellte, wählte Finilya einen Platz bei ihrer Schwester Mèfai. Leises Schmatzen verriet, dass Pindra immer noch an deren Brüsten nuckelte. Es dauerte nicht lange, da spürte sie einen kleinen Stich in ihren Rücken.

„Psst, hey …“

„Was ist?“ Finilya sah ihre Schwester fragend an.

„Kannst du ihn mal nuckeln lassen? An meinen saugt er schon so lange, du weißt ja, wie es mit seinen Zähnen ist.“

„Gib ihn her.“ Sie schob ihrem Bruder eine ihrer prallen Brüste ins Mäulchen. Einige Augenblicke später bildete sich ein milchiger Film um die Mundwinkel des kleinen Jungen.

„Hast du etwa Milch?“, fragte ihre Schwester verwundert.

„Ähm, ja“, antwortete Finilya wahrheitsgemäß, um dann hinzuzufügen: „Manchmal lasse ich das Mädchen unseres Nachbarn saugen. Die Kleine macht das so gut, dass ich mittlerweile etwas produziere.“

„Und das sagst du mir nicht?!“, fuhr Mèfai sie an.

„Ich habe das heute erst festgestellt“, wehrte sich die junge Gniri, „ehe du noch was sagst, ich habe eben Mama gekämmt.“

„Ist ja gut.“ Mèfai machte eine wegwerfende Geste. „Ich schlafe jetzt, hoffentlich hat er bald genug.“

„Ah“, kicherte Finilya liebevoll, „der hat wohl nie genug. Er ist zwar der kleinste, aber auch der kräftigste von uns allen.“ Finilya drehte sich zum Fenster und erblickte den Mond, der sein fahles Licht über ihr Antlitz ergoss, sie strich Pindra gedankenverloren durchs Haar. Der gurrte friedlich.

Im Haus war es nun totenstill. So schien es jedenfalls, denn eigentlich herrschte auch jetzt noch rege Betriebsamkeit. Es war nicht mehr das Tappen der breiten Gnirifüße und auch die Vögel waren im Schlaf verstummt, aber der Wind sang nach wie vor seine Melodie und das Holz der Buche knackte dann und wann, wie um allen, die noch horchten, zu sagen: ‚Mir geht es gut, ich wachse und gedeihe!‘ Plötzlich richtete Finilya ihre großen tellerförmigen Ohren auf. – Da! Da war doch was! Es hob sich von Pindras Gurren und Schmatzen deutlich ab. „Krr, krr“, dazwischen eilig dahingeflüsterte Worte. Finilya erkannte die Stimme ihres Vaters. Er schien Irukye etwas ins Ohr zu flüstern, etwas … Sie hörte es und errötete sogleich vom Scheitel bis zur Sohle. Ihre Mutter antwortete mit einem hohen Laut, der Finilya wie Öl in die Gehörgänge tropfte. Sie spürte, wie sich eine elektrisierende Hitze ihres Körpers bemächtigte und zuckte verlegen zusammen. Pindra machte all das nicht das Geringste aus, er war an ihrer Brust saugend, eingeschlafen. Finilya löste ihn sanft von ihrem Körper und schob ihn zu Mèfai, damit er schön warm lag. Dann drehte sie sich wieder dem Mond zu und wartete, derweil die Hitze in ihr arbeitete …

‚Irgendwann müssen sie ja mal fertig sein‘, ging es ihr durch den Kopf, ‚und endlich schlafen.‘

Rangiolf kratzte sich am Rücken und runzelte die Stirn. Was da an Heilsteinen auf dem Boden in Reih und Glied noch versammelt war, konnte nicht mehr als viel bezeichnet werden.

„Es ist zum Verrücktwerden“, grummelte er vor sich hin. „Da schaffst du dir welche an, es vergeht eine lange Zeit und keiner braucht sie. Dann, wenn Hiara, die Ràktsia2, wieder hier vorbeikommt und mir welche anbietet, nehme ich sie nicht, weil ich denke: Es herrscht ja kein Bedarf! Just dann, wenn sie wieder fort ist, kommen sie alle an: ‚Rangiolf, ich habe Kopfschmerzen, Rangiolf ich habe mir die Hand verbrannt, Rangiolf hier, Rangiolf da …‘“ Der junge Gniri fuhr sich durch das dichte braune Haar. Dann wanderte sein Blick zu dem ledernen Beutel mit den Raupen, der neben den Steinen lag und seine Miene wurde wieder ein wenig heiterer.

‚Wann will sie wieder vorbeikommen? Ah ja, morgen … Lange hält sich die Ware ja nicht, die ich ihr als Tausch anbiete. Sie braucht die Raupen, dringend. Ein Bussard hätte Junge gekriegt, sagte sie, und müsse nun gefüttert werden … Ja, Raupen gibt es viele in diesem Jahr. Ich habe etliche gefunden, dafür gibt es sicher viele Heilsteine‘, sinnierte er und lehnte sich nun etwas entspannter zurück. Ohne es zu merken, nestelte er an der Steinkette, die er am Hals trug. Ein Lächeln umspielte seine Lippen und er gurrte bei dem Gedanken, der ihn gerade anfuhr, zufrieden auf.

 

„Ja“, rief er leise, während sein Blick zum Fenster wanderte, „es hat schon seine Vorteile, ein Barde zu sein. Ich habe mein eigenes Zimmer, kann kommen und gehen, wann ich will, ohne dass es jemand mitbekommt … Hoffentlich kommt sie!“ Es klopfte an der Tür und Rangiolf fuhr erschrocken zusammen.

„Wer ist da?“, fragte er ungewollt angespannt.

„Das Essen ist fertig“, hörte er seine Mutter Yhsa. „Komm jetzt! Steine zählen kannst du später.“ Rangiolf erhob sich stirnrunzelnd.

‚Woher weiß sie, was ich mache?‘, fragte er sich verdutzt. ‚Manchmal ist sie mir direkt unheimlich. Andererseits ist es keine Kunst, das vorherzusehen, ich habe nun mal damit zu tun.‘ Eine Melodie pfeifend betrat er den Raum, in dessen Mitte, in einem Steinkreis, ein Feuer munter prasselte.

„Endlich bequemt sich der Herr zum Essen, wir haben gewartet“, schalt ihn die Mutter mit erhobenem Zeigefinger. Das tat sie immer und es ging ihm ungemein auf die Nerven.

‚Als gönne sie mir mein Zimmer und meinen Bardenstatus nicht, weil jemand, der den Weg des Heilers geht, angeblich keine Familie gründen kann, denn er reist ja viel, ist sozusagen eine wichtige Person!‘, kam es dem jungen Gniri in den Sinn, als er in die Gesichter seiner zahlreichen Familienmitglieder blickte. Während einige seiner Geschwister gelangweilt an den Krallen ihrer breiten Füße herumzupften, betrachteten ihn andere mit Neid. Aus Yhsas Augen sprach dagegen unverhohlene Abscheu.

‚Wie konntest du es wagen, mich so zu enttäuschen und Barde zu werden?‘, fragte wie so oft ihr stechender Blick. ‚Du weißt, dass ich mir für dich eine Ehe gewünscht habe!‘ Rangiolf atmete geräuschvoll aus, gesellte sich zu ihnen und begann zu essen. Er mied den Blick auf seinen Vater Gabra.

„Na, na, mein Junge“, hörte er ihn sagen, „brauchst nicht so geknickt zu sein. Hiara kommt doch morgen und bringt dir Heilsteine.“ Stolz schwang in seinen Worten mit. Yhsa räusperte sich umständlich. Rangiolf sank noch mehr in sich zusammen. Sein Bruder Brafar versetzte ihm einen Stoß in die Rippen.

„Lass das!“, fuhr Rangiolf ihn an.

„Lass den Unsinn“, setzte Gabra hinterher.

„Papakind“, blaffte Brafar. „Glaubst wohl, du bist was Besonderes, was? Hast dein eigenes Zimmer, für deine blöden Steine, während wir uns im Schlafraum zusammendrängen müssen.“

„Tu nicht so, als wolltest du alleine schlafen“, antwortete Rangiolf knapp.

„Schluss jetzt!“, mahnte Yhsa, „esst jetzt oder es setzt was!“ Gabra schüttelte seufzend den Kopf. Er verstand das einfach nicht: Sein armer Junge bekam sämtliche Sticheleien ab und nur, weil er einen Weg beschritten hatte, den kein anderer vor ihm gegangen war. Sein Blick wanderte zu Brafar. ‚Nicht, dass ich ihm den Weg des Heilers nicht gönne‘, grübelte der alte Gniri, während er sich nachdenklich hinter seinem Ohr kratzte, ‚aber er hat einfach kein Talent! Wenn Rangiolf nicht heiratet, muss Brafar eine Familie gründen, ob er will oder nicht! Und das ist auch das einzig richtige für ihn – Rangiolf ist anders. Er ist etwas Besonderes!‘ Als hätte Rangiolf die Gedanken seines Vaters gehört, schüttelte er unmerklich den Kopf. Er schlang den Rest seiner Mahlzeit hinunter, erhob sich und verließ den Raum wie ein geprügelter Hund. Als sich die Tür seines Zimmers hinter ihm schloss, atmete er erleichtert auf. Erst jetzt merkte er, dass er am ganzen Körper zitterte. Er torkelte zu seiner Liege und ließ sich darauf nieder.

„Eine Liege ganz für mich allein“, murmelte er müde, „als wäre das so ein Vorzug …“ Der große Schlafraum drängte sich ihm als Bild vor sein inneres Auge. Dort saßen sie vor dem Schlafengehen noch beisammen und kämmten sich die Haare, dann umarmten sie sich und schliefen so gemeinsam ein. „Mich kämmt nur Finilya. Wenn sie nicht wäre …“ Der junge Gniri spürte, wie ihm eine Träne über die Wange kullerte und er erinnerte sich an Pytheras Worte, als er damals seine Ausbildung bei ihr antrat:

„Der Weg des Heilers ist ein ehrbarer Weg mit vielen Herausforderungen, die du im Dienste des Volkes und der Allgemeinheit bewältigen wirst. Dieser Weg macht jedoch einsam. Denke an einen hohen Berg. Unten, zu seinem Fuße, da wandern noch viele Leute mit dir. Je höher du steigst, desto weniger werden es sein. Irgendwann stellst du fest, dass du ganz alleine bist. – Früher einmal, als die Welten der Menschen und der Naturwesen noch vereint waren, gab es noch viele von uns. In den Zeiten sammelten sich Barden, Ovaten und Druiden an heiligen Orten, die teilweise heute noch existieren. Ich wünsche dir, dass du eines Tages an einen solchen Ort gelangst. Möge das deinem Herzen Frieden bringen.“ Pythera hatte mit einer seltsamen Melancholie in der Stimme gesprochen. Wenn er es genau betrachtete, war eindeutig, dass sie sich sehr einsam fühlte.

„Sie hat keinen Mann“, sagte Rangiolf nachdenklich, „geschweige denn Kinder. Ja, sie hat überhaupt keine Familie, nur diese Schwester. Ob es das Schicksal eines Barden, Ovaten und Druiden ist, für immer allein zu sein? Ob das anders war, bevor die Welten auseinanderbrachen?“

Menschen kannte der junge Gniri nur vom Sehen, wenn sie auf ihren Wegen durch den Wald liefen. Retasso, ein älterer Ovate, der manchmal zu Besuch kam, hatte ihm erklärt, dass sie das SPAZIEREN GEHEN nannten. Andere gingen JOGGEN, das heißt, sie rannten durch den Wald. So mancher aus ihrem Volk hatte sich nach dem Grund ihres Handelns gefragt, aber keine plausible Antwort dafür gefunden.

„SPA-ZIEREN GÄHN … DSCHOGKEN“, stammelte Rangiolf unbeholfen und schüttelte missmutig den Kopf. Dann hielt er inne. Retasso hatte gesagt, die Sprache der Menschen, die in der Nähe seines Volks leben, heißt DOITSCHI und sie leben in DOITSCHILAND. Rangiolf ließ die Worte innerlich nachwirken. „Seltsame Gestalten, diese Menschen“, murmelte er nach einer Weile, „so groß wie Pythera, ja teilweise noch viel größer, mit viel zu kurzen Armen. Man sagt, eine Menschenhand fühle sich wie Pudding an, irgendwie weich, und ihre kleinen Ohren, kein Wunder, dass sie so laut reden. Wenn man so taub ist, geht es eben nicht anders. Und diese winzigen Füße, die stecken sie in diese Dinger, die … wie nannte Retasso sie?“ Rangiolf zupfte sich nachdenklich am Ohr. „SCHUHE.“ Er sah auf seine breiten Gnirifüße und wackelte mit seinen 20 Zehen. „Dafür gibt es keine SCHUHE, die wären alle zu klein.“ Er betrachtete seine kräftigen dunklen Krallen und nickte. „Irgendwann gehe ich meinen Freund Sutia besuchen. Der wohnt in einem PARRK.“ So seltsam Rangiolf die Menschen auch fand, so neugierig war er darauf, sie einmal aus nächster Nähe zu betrachten.

„Man sagt, im PARRK lassen die Menschen die Bäume stehen und pflegen die Natur, nicht wie hier bei uns, wo sie kommen und sich Holz nehmen, uns heimatlos machen, damit sie es im Winter warm haben. Dort sind auch viele Wege, wo sie SPA-ZIRRN und Gras, wo sie sitzen und sich ausruhen … Rrrr“, gurrte er bei dem Gedanken und strich sich aufgeregt über die Borsten seiner Unterarme. „Was Finilya wohl dazu sagen würde? Menschen sind sicher nicht ihr Ding.“ Der Gniri seufzte leise. „Am liebsten würde ich sie sofort heiraten“, er strich über den Stoff seines hellen Lendenschurzes. Wie stolz er war, ihn zu tragen! Es zeigte, dass er im heiratsfähigen Alter war und sich eine Frau suchen durfte und auch musste, denn das tat jeder junge Gniri!

„Aber ihre Eltern können die Mitgift nicht zahlen und das würde meiner Mutter gar nicht gefallen, denn Finilya ist arm. Wo würden wir leben? Ihre Familie hat keinen Platz, unsere hat keinen Platz, und dann bin ich ja Barde. Bald erhalte ich meine Ovatenweihe und werde reisen müssen. Ob Finilya mit mir reist? Heimatlos und ohne Hab und Gut?“ Rangiolf kuschelte sich unter seine warme Moosdecke und schloss die Augen. „Ich muss mich ausruhen“, flüsterte er, „bis alle schlafen. Ich hoffe, sie kommt. – Ich komme ganz bestimmt!“ Mit diesen Worten auf den Lippen schlief er ein.

Als alle eingeschlafen waren, erhob sich Finilya sacht und huschte durch das Fenster nach draußen. Indem sie sich mit ihren spitzen kräftigen Krallen an der Rinde festhielt, kletterte sie kopfüber am Stamm der Buche entlang. Der Waldboden roch nach nasser Erde, feuchtem Moos und dem zarten Blattgrün des Frühlings. Finilya liebte diesen Duft und sog ihn tief ein. Sie richtete sich auf, blickte zum fast vollen Mond, der mit seinem blassen Licht ihren Weg erhellte und lächelte. Schnell wie der Wind und leise wie ein Panther hastete sie weiter, ihrem Ziel entgegen.

Es war ihm, als hätte jemand neben ihm gestanden und ihn sanft an der Schulter gerüttelt, denn Rangiolf war mit einem Mal hellwach. Stirnrunzelnd betrachtete er die Decke seines Zimmers. Das Gefühl, jemand anderes, unsichtbares sei im Raum, entschwand ihm jedoch wie ein flüchtiger Traum. Mit einem Gefühl der Vorfreude warf er die Decke beiseite und erhob sich. Er schlüpfte lautlos durch das Fenster, jagte flink über Äste und Zweige und stand mit einem Satz auf dem Boden. Dann rannte er los, rannte so schnell ihn die kräftigen Beine trugen. Vor Freude jauchzend genoss er den Wind, der durch sein dichtes Haar wehte, das Klirren seiner auf und ab hüpfenden Steinkette klang ihm wie Festmusik. Bald erreichte er eine duftende Wiese mit bunten Blumen und saftigem Gras, mitten im Wald. Jetzt, im Frühling, war sie besonders schön. Er lief hinein und warf sich in das weiche, noch zarte Grün. Sein Herz klopfte wild in seiner Brust und ein Lächeln umspielte seine dünnen Lippen. Eine Weile lag er so da und genoss, wie es im Verborgenen der Wiese zirpte und raschelte. Dann runzelte er ungeduldig die Stirn!