Reilly und Sunfrost: Chronik der Sternenkrieger 8 Romane

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5

Gran-Teron schaltete den Hitzestrahler auf eine breit gefächerte Wirkung. Das Eis und der verfestigte Schnee tauten recht schnell weg. Darunter kam das massive Metall zum Vorschein, das so typisch für die Außenhaut eines Qriid-Schiffes gleich welcher Größe war.

Die wenigen Qriidia-Wochen, in denen die Verbindung zur Besatzung des Raumbootes abgebrochen war, hatten vollkommen ausgereicht um es vollständig zu begraben. Irgendwann wäre das Raumboot dann Meter für Meter hinab gesunken und vielleicht gar nicht mehr zu orten gewesen.

Nirat-Son bemerkte einige kanalartige Löcher im Eis, die kaum größer als die Innenfläche einer Qriid-Kralle waren.

Er richtete sein Ortungsgerät auf eines dieser Löcher und ließ sich die Daten auf dem Brillendisplay anzeigen.

„Da ist irgend etwas!“, stellte er fest. „Das müssen diese sich bewegenden Objekte sein, von denen der Pilot sprach!“

Bras–Kon wandte sich herum. „Spezifizieren!“

Nirat-Son konnte lediglich verfolgen, wie sich ein bewegendes, quasi lebendiges Objekt etwa zwei Meter unter der Oberfläche seine Bahn durch das Eis bohrte – und das mit einer Geschwindigkeit, die frappierend war.

„Ich messe starke elektrische Entladungen“, stellte Nirat-Son fest. „Sie erzeugen mit Hilfe von Elektrizität Hitze und schmelzen das Eis in ihrer unmittelbaren Umgebung!“

„Objekt nähert sich der Oberfläche!“, stellte einer der anderen Tanjaj fest.

Das fiel auch Nirat-Son auf.

Das Ding hatte plötzlich die Bewegungsrichtung radikal geändert und strebte nun an die Oberfläche.

Bras–Kon zog seinen Handlaser.

„Achtung! Bereit machen zur Verteidigung!“

Mit einem knarzenden Geräusch entstand plötzlich ein Loch im Eis. Etwas zischte. Funken sprühten. Ein augenloses, aber dafür mit zahllosen Extremitäten ausgestattetes Wesen von der Größe einer Qriid-Kralle sprang empor. Der eigentliche Körper war wie ein Ellipsoid geformt. Es gab mehrere Öffnungen mit Beißwerkzeugen. Ein optisches Orientierungsorgan war nicht zu erkennen, für eine Spezies, deren Angehörige sich die meiste Zeit über jedoch unter der Eisoberfläche in lichtlosen Räumen aufhielten, war das sicher kein Mangel.

Das Wesen landete auf einem Teil seiner sowohl zum Laufen als auch zum Greifen geeigneten Extremitäten.

An der größeren der zwei Mundöffnungen waren Beißwerkzeuge zu finden. Außerdem Antennen artige Fortsätze, zwischen denen immer wieder Funken sprühten.

Das Wesen sprang auf Bras–Kon zu.

Dieser reagierte sofort und feuerte seinen Hand-Traser ab.

Der blassgrüne Strahl erfasste das Wesen sofort.

Es taumelte zu Boden. Seine Oberfläche wirkte verkohlt, noch regte sich leicht. Sein Überlebenswille schien noch nicht gebrochen zu sein, aber es konnte sich jetzt nur noch kriechend und außerdem sehr langsam fortschleppen.

Bras–Kon machte dem ein Ende.

Er schaltete seinen Traser auf eine höhere Intensitätsstufe und im nächsten Augenblick war das Wesen nur noch ein Haufen verkohlter Asche, die der stete Wind mit sich nahm.

Anschließend deutete Bras–Kon auf das inzwischen ja frei gelegte Außenschott des Beiboots.

„Nirat-Son?“

„Ja, Kommandant?“

„Du kennst dich doch mit Schlössern aus!“

„Ich bin mit der Programmierung der internen Rechner einigermaßen vertraut“, sagte er.

„Dann versuch das hier bitte zu öffnen. Ich will wissen, was aus unseren Tanjaj-Brüdern geworden ist.“

Nirat-Son ließ sich das nicht zweimal sagen.

Er setzte ein Modul, das zu seiner Ausrüstung gehörte, an das Außenschott des Raumboots an und versuchte anschließend einen Zugang zum internen Rechnersystem zu bekommen, das der Steuerung des Schotts diente. Dann nahm er ein paar Schaltungen vor. „Vollkommene Fehlfunktion des internen Rechners“, kommentierte Nirat-Son das, was ihm über das Brillendisplay angezeigt wurde.

„Sind elektrische Entladungen eine mögliche Ursache?“, fragte Bras–Kon.

„Durchaus.“

„Aber das würde bedeuten, dass diese Wesen auf irgendeine Weise nach innen gelangt sind, denn von außen ist das Schott gegen elektrische Impulse abgeschirmt“, gab Nirat-Son zu bedenken.

Wenig später gelang es ihm, das Schott zu öffnen.

Knarrend schob es sich zu zwei Dritteln zur Seite, ehe es sich aus irgendeinem Grund verkantete. Aber die Öffnung reichte, um die Schleuse zu betreten.

Nirat-Son ging voran.

Dann folgte Bras-Kon, der Tanjaj-Nom dieser Mission.

Das innere Schleusenschott wies ein Loch auf, das von der Form her auf frappierende Weise den Schächten im Eis glich, die von den ellipsoiden Vielbeinern gezogen worden waren.

„Offenbar besitzen sie auch die Fähigkeit, Metall zu durchdringen“, stellte Nirat-Son fest.

Gran-Teron ging mit seinem Ortungsgerät näher an die Stelle heran. „Eine Kombination aus Säure und Elektrizität, würde ich sagen.“

„Die Temperatur liegt hier drinnen nur unwesentlich über dem Niveau der Oberfläche“, stelle Nirat-Son fest. „Auf jeden Fall wäre es unmöglich für einen Angehörigen des Gottesvolkes, hier zu überleben.“

„Öffne das Schott der Innenschleuse!“, befahl Bras–Kon an den Tanjaj-Rekruten gerichtet.

„Jawohl, ehrenwerter Tanjaj-Nom“, erwiderte dieser.

Wenig später hatte es Nirat-Son geschafft, auch das Innenschott zu öffnen.

Sie betraten die Passagierkabine. Es war ziemlich dunkel hier. Abgesehen von dem Licht, was durch die geöffnete Schleuse fiel, gab es hier ansonsten keinerlei Lichtquellen. Die Innenbeleuchtung war deaktiviert. Sämtliche Systeme schienen tot zu sein.

Nirat-Son verschlug es die Sprache. Der grauenvolle Anblick, der sich ihm und den anderen Qriid bot, ließ ihn unwillkürlich die Schnabelhälften gegeneinander reiben.

Auf den der Qriid-Anatomie perfekt angepassten Schalensitzen saßen fünf Qriid-Skelette. Die leeren Augenhöhlen schienen die Ankömmlinge vorwurfsvoll anzublicken.

„Mein Gott, in welche Heidenhölle sind wir hier geraten?“, wisperte Nirat-Son leise vor sich.

In diesem Augenblick krabbelte einer der ellipsoiden Vielbeiner aus einem Loch in der Wand, nur eine Kralle breit neben der Steuerkonsole. Das Wesen huschte mit einer beängstigenden Geschwindigkeit über den Boden.

Ehe einer der Qriid seinen Strahler benutzen konnte, hatte der Vielbeiner Gran-Teron erreicht. Mit einem Teil seiner offenbar auch zum greifen fähigen Extremitäten klammerte sich das ellipsoide Wesen an Gran-Terons rechtes Bein. Der Qriid schrie auf, als elektrische Funken sprühten und sich der Stoff des Thermoanzugs, der das nach hinten geknickte Qriid-Bein bedeckte, unter Einwirkung einer stark ätzenden Substanz aufzulösen begann.

Bras-Kon feuerte mit seinem Hand-Traser auf das Bein des Tanjaj. Er hatte die Waffe auf die höchste Intensitätsstufe gestellt. Der Strahl verschmorte sowohl das Bein Gran-Terons als auch den ellipsoiden Vielbeiner vollkommen. Schwer fiel Gran-Teron zu Boden.

Nirat-Son beugte sich über ihn und aktivierte die medizinische Diagnosefunktion seines Ortungsgerätes.

„Gran-Teron ist tot“, stellte er krächzend fest.

„Der Traser-Schuss kann dafür nicht verantwortlich sein“, erwiderte Bras-Kon.

„Es spricht alles dafür, dass es ein elektrischer Schlag war, der den ehrenwerten Tanjaj-Bruder außer Gefecht setzte“, erklärte Nirat-Son.

Bras–Kon trat etwas näher. „Dann wissen wir jetzt immerhin, was unseren Tanjaj Brüdern zugestoßen ist“, erklärte er. Er aktivierte seinen Kommunikator. „Hier spricht Tanjaj-Nom Bras–Kon! Alle Abteilungen bitte umgehend melden! Höchste Alarmstufe! Ich wiederhole: Höchste Alarmstufe!“

„Hier Pilot Ruu-Di!“, kam es aus dem Kommunikator, auf dessen Minibildschirm das Gesicht des Piloten erschien, der die KLEINE KRALLE hier her gesteuert hatte. „Aktueller Statusbericht: Alles ruhig und keine besonderen Vorkommnisse.“

„Gruppe Re-Lim, bitte melden!“, forderte Bras-Kon. Er hatte seinen Kommunikator auf Konferenzmodus geschaltet, sodass Ruu-Di alles mithören konnte.

Bras-Kon wiederholte seinen Aufruf an die Vierergruppe um Re-Lim, die den Auftrag bekommen hatte, die Umgebung zu erkunden.

Aber es erfolgte keine Antwort. Die übliche Frequenz blieb tot.

„Pilot Ruu-Di, wann hattest du zuletzt Kontakt mit Re-Lim?“, fragte Bras–Kon anschließend mit wachsender Sorge.

„Die nächste Statusmeldung wäre in Kürze fällig. Abgesehen davon habe ich ein automatisches Peilsignal, das mir die gegenwärtige Position anzeigt.“

„Übersenden Sie die Daten!“

„Jawohl.“

Da stimmt irgend etwas nicht!, dachte Bras-Kon. Anschließend gab er dem Piloten gegenüber eine kurze Zusammenfassung der Ereignisse an Bord des aufgefundenen Raumschiffwracks.

„Wir kehren umgehend zur KLEINEN KRALLE zurück. Mach alles bereit für den Start und versuche weiterhin Kontakt mit Re-Lim und seiner Gruppe aufzunehmen!“, wies der Tanjaj-Nom den Piloten noch an.

„Jawohl, ehrenwerter Tanjaj-Nom!“

Notfalls werden wir Re-Lims Gruppe zurücklassen müssen!, überlegte Bras-Kon.

6

Vier Qriid schwebten in gemäßigtem Tempo durch die kalte Atmosphäre von Korashan V.

In Re-Lims Brillendisplay blinkte eine farbige Markierung auf, die ihn auf eine Anzeige des Ortungsgeräts hinweisen sollte.

Frii-Drig, einer der anderen Tanjaj aus Re-Lims Gruppe, hatte sein Ortungsgerät bereits entsprechend ausgerichtet. „Mehrere nicht identifizierbare Objekte nähern sich aus Nordwesten!“, stellte er fest. „Wir werden in Kürze mit ihnen zusammentreffen…“

 

„Gibt die optische Ortung etwas her?“, fragte Re-Lim.

„Negativ. Lediglich im Infrarot-Bereich können wir eine Ortung vornehmen.“

Das war eines der Probleme auf diesen schmutzig weißen, endlosen Flächen aus Eis und verhärtetem Schnee: Man hatte auf Grund der ebenen Topographie des Geländes und des klaren Wetters zwar eine überragende Fernsicht, aber von der gleichförmigen Oberfläche hob sich kaum etwas wirklich ab. Ein Qriid-Fußgänger hätte schon beim Blick aus einem Gleiter, der in wenigen hundert Metern über ihn hinweg schwebte nur wie ein winziger Punkt gewirkt und wäre selbst von den optischen Sensoren kaum erfasst worden. Die Thermokleidung hätte darüber hinaus auch die Infrarot-Ortung erschwert.

Frii-Drig schwebte einige Meter empor, um einen besseren Ausgangspunkt zur ortungstechnischen Erfassung der Umgebung zu haben.

Als er wieder auf das Niveau der anderen hinunter sank, erklärte er: „Es muss sich um Eissegler der säugetierähnlichen Eingeborenen handeln! Sie kommen direkt auf uns zu!“

„Auf den Boden aufsetzen!“, befahl Re-Lim.

Die vier mit Antigravpaks ausgerüsteten Qriid schwebten zu Boden, setzten sanft auf der eisigen Oberfläche auf.

In der Ferne begannen sich jetzt winzige Konturen zu bilden.

Mit Hilfe der optischen Erfassung seines Ortungsgerätes zoomte Re-Lim eine dieser Strukturen heran und sah ein helles und vor dem Hintergrund der weißen Flächen von oben sicher so gut wie unsichtbares Dreieckssegel.

Es gab nur wenige Daten, die über die humanoiden Eingeborenen von Korashan V vorlagen. Sie stammten von den Datentransmissionen, die die erste Korashan-Expedition zu ihrem Mutterschiff gesandt hatte. Dass diese Angaben lückenhaft, unvollständig und möglicherweise sogar falsch waren, lag auf der Hand. Aber sie bildeten zumindest einen Grundstock, auf dem man aufbauen konnte.

Die Eissegler näherten sich und wurden schließlich sogar mit bloßem Auge deutlich sichtbar. Die gleichmäßigen starken Winde auf Korashan V machten sie zu einem zwar einfachen, aber sehr effektiven Verkehrsmittel für die eingeborenen Heiden. Es gab gewaltige, mit mehreren Großsegeln ausgestattete Segler, die auf gewaltigen Kufen dahin glitten.

„Gottlose Heiden sind sie!“, meinte Frii-Drig.

Immer näher kamen die gewaltigen Eissegler. Ein schabendes, knarrendes Geräusch entstand, wenn die Kufen über die Eisberge glitten. Re-Lim fragte sich, aus welchem Material diese Kufen wohl bestehen mochten. Es musste sehr hart sein und schon fast metallische Eigenschaften zu besitzen, während die Aufbauten der Eissegler aus einem holzähnlichen Stoff bestanden. Auch hier stellte er sich die Frage, woher die Materialien stammten. Schließlich war die Oberfläche von Korashan V absolut frei von jedweder Vegetation, die über ins Eis eingeschlossenen Algen hinausging.

Schon die erste Expedition hatte diesbezüglich vor einem Rätsel gestanden. In den ersten Datenfiles, die zum Mutterschiff gesandt worden waren, hatten Expeditionsteilnehmer die Vermutung geäußert, dass die Säugetierabkömmlinge in der Lage waren, den Eispanzer, der den Planeten umgab, zu durchbrechen und ihr Baumaterial vielleicht aus der Tiefe zu holen.

Dagegen sprach, dass der Eispanzer von Korashan V sehr dick war und es bei den Qriid eigentlich niemand den barbarischen Säugetierabkömmlingen zutraute, eine Technologie zu entwickeln, die es ihnen erlaubte, bis zu dem unter dem Eis gelegenen Planeten umspannenden Ozean vorzudringen.

Dieser Ozean war im Übrigen noch so gut wie überhaupt nicht erforscht. Auf Grund der Wärme, die vom Planetenkern ausging, war es durchaus denkbar, dass es auch unter dem Eispanzer Formen von wahrscheinlich primitivem Leben gab. Aber wie man selbst in den seichten Meeresregionen Materialien vom Grund empor bringen konnte, wenn einem nicht eine hoch entwickelte Technologie zur Verfügung stand, das hatten auch die Verfechter dieser Theorie nicht zu erklären vermocht.

„Hand-Traser schussbereit machen!", wies Re-Lim die anderen Tanjaj seiner Gruppe an.

Schließlich war es immer das Beste, auf Nummer sicher zu gehen. Heiden waren unberechenbar, wusste Re-Lim.

Fünf große Eissegler näherten sich jetzt den Qriid. Sie wurden von mindestens einem Dutzend kleinerer Gefährte begleitet.

Die Steuermänner rissen die Ruder herum. Der hintere Teil der Kufen ließ sich durch einen Mechanismus bewegen, wodurch der Eissegler sehr effektiv gesteuert werden konnte.

Die gewaltigen Vehikel wurden nun konsequent einer nach dem anderen in den Wind hineingelenkt. Die Segel erschlafften und wurden von einer emsigen Crew sehr schnell eingeholt. Die Takelage wirkte auf Re-Lim wie ein verworrenes Geflecht aus Seilen, deren Herkunft ihm ebenso schleierhaft war, wie das gesamte Material, aus dem die Eissegler gefertigt worden waren. Gefertigt auf einem Planeten, auf dem es eigentlich buchstäblich nichts gab und der darüber hinaus denkbar schlechte Überlebenschancen für das rätselhafte Volk der schnabellosen Säugetier-Heiden bot. Sie tragen keinen Schnabel und entsprechen damit in keiner Weise dem Ebenbild Gottes!, dachte Re-Lim mit wachsender Verwunderung. Sie leben ohne den Beistand des Allmächtigen auf einer Welt, auf der das eigentlich nicht möglich ist - und doch existieren sie!

Es kam Blasphemie gleich, in diesem Zusammenhang von einem Wunder zu sprechen, denn Wunder waren Gott und seinem auserwählten Volk vorbehalten. Aber eine gedankliche Assoziation in diese Richtung kam dem natürlich auch theologisch hoch gebildeten Tanjaj Re-Lim natürlich so fort.

Mochte das nächste Reinigungsritual dafür sorgen, dass seine Seele wieder makellos wurde und er bereit war, jederzeit vor seinen Schöpfer zu treten, um sich dessen Gericht zu überantworten. Ein Tanjaj hatte stets auf diesen Aspekt zu achten und Re-Lim war darin sehr gewissenhaft. Die Verheißung einer glückseligen Weiterexistenz im Jenseits gehörte schließlich zu den wichtigsten Versprechungen, die der Glaube der Qriid den Gläubigen machte. Im Fall der Tanjaj sollte sie dieses Versprechen natürlich zu noch größerem Mut und Risikobereitschaft anspornen und sie die Gefahr bei ihren Einsätzen vergessen lassen.

Re-Lim hätte es zwar nur ungern zugegeben, aber die Wirkung dieser Jenseitsverheißungen hielt sich in engen Grenzen. Die meisten Tanjaj hingen letztlich doch sehr viel mehr an ihrer materiellen Existenz, als es den Lehrsätzen der Priesterschaft oder der verherrlichenden Überlieferung der qriidischen Geschichte entsprach. Nach und nach kamen sämtliche Eissegler zum stehen.

Einige Crew-Mitglieder stiegen an Strickleitern von den Seglern hinunter. Sie trugen Kleidung, die Re-Lim an Tierhäute von Meeresbewohnern erinnert. Die chemische Zusammensetzung, die sich mit Hilfe des Ortungsgerätes zumindest im Hinblick auf die Hauptbestandteile ermitteln ließ, schien dies zu bestätigen.

Einige der Heiden kamen näher und blieben in einem Abstand von wenigen Qriid-Körperlängen stehen. Manche von ihnen trugen Gegenstände bei sich, die an Harpunen oder Speere erinnerten.

Einer von ihnen trat vor. Die Kapuze seines Anoraks war tief ins Gesicht gezogen, sodass man von seinem Gesicht nur wenig sehen konnte. Ihm wuchsen Haare im Gesicht, was Re-Lim bei diesen Säugetierabkömmlingen als besonders abstoßend empfand. Ein äußeres Zeichen der Barbarei und Gottlosigkeit, so sah es der Tanjaj. Ein optischer Beweis für die spirituelle Minderwertigkeit dieser Barbaren.

Re-Lim schaltete den Translator ein.

Der Humanoide begann zu reden.

Seine Worte klangen für das Gehör eines Qriid erschreckend tief. Einer der anderen Tanjaj glaubte sogar, mit einer Drohung konfrontiert zu sein und wollte schon den Hand-Traser einsetzen.

Re-Lim konnte ihn jedoch im letzten Moment davon abbringen.

„Wir sollten erst herauszufinden versuchen, was diese Gottlosen eigentlich von uns wollen", bestimmte er.

„Dann kann es bereits zu spät sein", lautete die Erwiderung. „Kein Heide ist es wert, dass man das Leben eines ehrenhaften Tanjaj für ihn riskiere!"

Mit diesem Satz zitierte er einen Satz aus der Weisheit des Ersten Aarriid, der auch Re-Lim nicht zu widersprechen wagte.

Die Augen und Ohren der Tugendwächter waren schließlich überall.

Der Säugetierabkömmling wiederholte indessen seine Worte, da er wohl merkte, dass ihn die Qriid nicht verstanden. Die Erfassung des Eingeborenenwortschatzes war sehr unvollständig. Lediglich einige wenige Begriffe waren dem Übersetzungssystem bekannt. Die erst Expedition hatte kaum Sprachdaten übermitteln können.

Der Schnabellose wiederholte seine Worte. Er sprach diesmal mit einem Tonfall, den selbst die anwesenden Qriid als ausgesprochen dringlich begriffen. Zwei weitere Männer traten neben ihn. Sie unterhielten sich kurz.

Die Tanjaj, die gegenwärtig unter Re-Lims Kommando standen, hatten eigentlich eingreifen wollen. Re-Lim hielt sie jedoch davon ab. Das Risiko erschien noch vertretbar.

Schließlich hatten die Qriid jederzeit die Möglichkeit, ihre überlegene Waffentechnik einzusetzen und damit die vermeintlichen Gegner sofort auszuschalten.

Inzwischen begann der Translator mit ersten Übersetzungsversuchen. Offenbar ist die Sprache der Heiden nicht allzu schwer zu erfassen!, dachte Re-Lim. Aber wen kann das wirklich wundern? Eine wirklich differenzierte und anspruchsvolle Lautsprache ist ohne das anatomische Merkmal eines gut ausgeprägten Schnabels wohl kaum möglich…

Noch wirkten die Worte – oder sollte man sagen das Gestammel? – des Heiden unbeholfen und wirr. Einige Begriffe wurden klar übersetzt. Manchmal auch kleine Bedeutungseinheiten, die einen Sinn ergaben. Das Ganze wirkte wie ein sprachliches Puzzle, bei dem einfach viele Teile noch nicht erkannt waren.

Aber für Re-Lim und die anderen drei Tanjaj wurde sehr schnell klar, dass der Schnabellose ihnen eine Warnung überbringen wollte.

Immer klarer wurde die Übersetzung.

Der Säugetierabkömmling deutete auf seine Brust. „Ich bin Magoon“, sagte er. „Magoon.“

Re-Lim deutete auf sich selbst und nannte ebenfalls seinen Namen, was Magoon durchaus zu verstehen schien.

„Gott, die Macht, die das Universum schuf, hat uns zur Herrschaft auserwählt!“, sagte Re-Lim an Magoon gerichtet. „Ihr habt euch zu unterwerfen. Andernfalls werdet ihr alle getötet. Wir wollen euch nichts tun, aber wir werden auch nicht mit uns handeln lassen. Unterwerft euch der Göttlichen Ordnung, und werdet ein glückliches Leben behalten. Widersetzt ihr euch unseren Plänen, wird euer Blut das Eis von Korashan V grün färben.“

Wieso gehst du davon aus, dass das Blut aller Schnabellosen grün sein muss?, meldete sich ein leicht spöttischer Kommentator in Re-Lims Hinterkopf. Nur deshalb, weil grün die Farbe der Gottlosigkeit und Sünde ist? Das ist doch wirklich zu simpel. Ein erfahrener Tanjaj sollte das besser wissen!

Magoon schien nicht im Mindesten irritiert zu sein.

„Ich bin der Überbringer der Gedanken“, sagte er rätselhaft.

Re-Lim spürte auf einem Mal einen stechenden Schmerz in seinem Kopf. Es fiel ihm schwer, sich noch auf irgendetwas anderes zu konzentrieren.

Magoon trat noch einen Schritt näher.

Er musterte die vogelartigen Bewohner seiner Welt.

„Es waren schon andere von eurer Art hier!“, stellte er fest.

Der Schmerz in Re-Lims Kopf ließ abrupt nach. Von einem Augenblick zum nächsten konnte er sich wieder einwandfrei konzentrieren und er fragte sich, was da geschehen war.

Er wollte den Kommunikator aktivieren. In Re-Lims Bewusstsein herrschte Chaos. Eine Stimme begann sich ganz leise aus diesem verwirrenden Durcheinander herauszuheben. Sie sagte Re-Lim, dass er jetzt umgehend den Kommunikator zu aktivieren und den Tanjaj-Nom zu verständigen hatte.

Aber Re-Lim war zu seiner eigenen Überraschung unfähig, das auch in die Tat umzusetzen. Wie beiläufig registrierte er, die Anzeige in seinem Brillendisplay, die ihm eigentlich hätte deutlich machen müssen, dass sein derzeitiger Vorgesetzter verzweifelt versuchte ihn zu erreichen.

Aber weder Re-Lim noch seine Begleiter achteten darauf.

Erneut erfüllte ein Schmerz Re-Lims Kopf.

Dieser Schmerz war ähnlich wie bei seinem ersten Auftauchen, vollkommen abrupt aufgetreten.

 

Nur war er diesmal noch wesentlich heftiger.

Re-Lim schrie auf. Seine Beine knickten nach hinten weg. Alles schien sich vor seinen weit auseinander stehenden Vogelaugen zu drehen. Ganz am Rande nahm er noch wahr, dass es seinen Begleitern offenbar ähnlich erging. Frii-Drig lag ebenfalls am Boden. Er hatte seinen Hand-Traser mit der linken Klaue gepackt und den Lauf auf Magoon gerichtet.

Warum schießt er nicht?, fragte sich Re-Lim in jenem Bruchteil eines Moments, in den er trotz der mörderischen Schmerzen zu einem klaren Gedanken fähig war.

Magoon sprach einige Worte, die an seine Artgenossen gerichtet waren, von denen Re-Lim nicht das Geringste verstand. Der Translator schien aus dem benutzten Sprachbereich noch keines der zum Verständnis nötigen Schlüsselwörter zu kennen, was Re-Lim sehr verwunderte.

Regungslos lagen Re-Lim und die drei anderen Mitglieder seiner Gruppe auf dem eisigen Untergrund.

Re-Lim versuchte, sich zu bewegen, etwas zu sagen, wenn nötig zu schreien oder auf irgendeine andere Art und Weise Kontakt mit den anderen Crew-Mitgliedern aufzunehmen.

Es war einfach nicht möglich.

Ein knarrendes, beinahe stöhnendes Geräusch erfüllte plötzlich die Luft. Es war an mehreren Stellen gleichzeitig zu hören.

Plötzlich entstanden Löcher im eigentlich doch für die Ewigkeit festgefrorenen Boden.

Aus jedem von ihnen kamen wenige Augenblicke später ein ellipsoides Wesen mit vielen Beinen.

Manche von ihnen sprangen regelrecht empor, ehe sie mit traumwandlerischer Geschicklichkeit genau wieder auf ihren Füßen landeten.

Re-Lims Augen entgingen auch die Mäuler mit den Beißwerkzeugen nicht.

Innerhalb weniger Augenblicke bildeten sich weitere Löcher im Eis, aus denen ebenfalls ellipsoide Kopffüßer an die Oberfläche drangen, die ihre Beißwerkzeuge gierig fletschten und dabei ein schmatzendes Geräusch erzeugten. Eine ätzende Flüssigkeit troff ihnen dabei aus den Mäulern heraus. Wo immer sie auf das Eis traf, verflüssigte sich das Eis sofort – nur um Augenblicke später wieder zu erstarren.

Das ist das Ende!, dachte Re-Lim.