Killerrache: Krimi Koffer 9 Romane

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11



Der Kerl, der uns am nächsten Morgen das Frühstück servierte, war fast zwei Meter groß, dafür aber ziemlich schmal. Er sah aus wie eine Vogelscheuche und schien noch nicht lange in seinem Job zu arbeiten, denn er brauchte insgesamt fünf Wege, um uns das Frühstück vollständig an den Tisch zu bringen. Schließlich hatten wir dann aber doch alles. Der Kaffee war allerdings nur noch lauwarm, als wir unser Drei-Minuten-Ei bekamen.

"Schade", meinte Tina irgendwann, während des Frühstücks. "Wenn in Jugoslawien jetzt nicht gekämpft würde, könnten wir noch ein bisschen weiter südlich fahren und uns an der Adria ein paar Tage in die Sonne legen. Müsste eigentlich schon warm genug sein."

"Ja", meinte ich abwesend. "Scheiß Bürgerkrieg." Es gab auch Leute, die fuhren extra deswegen hin, um mal ein bisschen Krieg zu erleben. Ich gehörte nicht dazu. In dieser Hinsicht hatte ich meine Portion Abenteuer intus und war für die nächsten hundert Jahre gesättigt.

"Aber wir könnten noch nach Italien runter!", schlug sie dann vor.

"Wir sind doch gerade erst in Wien!"

"Venedig. Was hältst du davon? Ich rufe zu Hause bei meinem Chef und frage ihn, ob das in Ordnung geht."

Ich schüttelte den Kopf.

"Tut mir leid, aber das geht nicht."

"Warum nicht?"

"Hab zu tun!"

"Was denn?"

"Ich habe zu tun, das reicht doch wohl, oder? Ein andernmal können wir gerne nach Venedig fahren. Wirklich. Aber nicht jetzt."

Sie zuckte die Achseln.

"War ja nur ein Vorschlag."

"Ich weiß."

Ich versuchte zu lächeln, aber das Ergebnis war wohl nicht so besonders.

Sie sah mich an. Und zwar auf ganz besondere Weise, wie sie es nur sehr selten tat. "Ich weiß eigentlich sehr wenig über dich", meinte sie dann in einem ziemlich nachdenklichen Tonfall.

"Wirklich?"

"Ich meine, über deine Vergangenheit. Über das, was du gewesen bist, bevor wir uns kennengelernt haben."

"Ich bin immer derselbe gewesen."

"Du gibst darüber nicht gerne Auskunft, nicht wahr?"

"Wie kommst du darauf?"

"Weil du mir bei solchen Fragen bislang immer geschickt ausgewichen bist." Sie hob etwas die Schultern. Dann strich sie sich mit einer unnachahmlichen Bewegung eine Strähne aus der Stirn, die sich aus ihrer Frisur herausgemogelt hatte. "Ist doch wahr, oder?"

Ich zuckte die Achseln.

"So interessant ist mein Leben nun auch wieder nicht."

"Ich finde schon."

"So?"

"Ich liebe dich. Deshalb interessiert es mich."

Ich blickte auf, ihr direkt in die grüngrauen Augen. "Was zählt, ist die Gegenwart", sagte ich dann ohne besonders große Überzeugungskraft.

"Findest du?"

"Finde ich."

Sie ließ nicht locker. Heute nicht. Sie machte einen weiteren Anlauf.

"Du warst bei der Fremdenlegion."

"Richtig."

"Warum?"

"Aus Dummheit."

"Das kann doch nicht alles gewesen sein!"

"Enttäuscht?"

"Nein."

"Nein?"

"Ich glaube dir nämlich kein Wort."

Ich trank meinen lauwarmen Kaffee aus, ehe er ganz kalt war und köpfte dann mein Ei.

"Warst du auch im Golfkrieg dabei?", fragte Tina dann.

Ich lachte heiser.

"Nein."

"Warum nicht?"

"Die Alliierten haben zu lange mit dem Angriff gewartet. Meine Zeit war da schon um." Ich zuckte die Achseln.

"Eigentlich schade."

"Warum?"

Ich sah Tinas Stirnrunzeln.

"Die Siegesparade in New York hätte ich gerne mitgemacht."

"Manchmal denke ich wirklich, du spinnst."

Sie schwieg eine Weile und ich dachte schon, sie würde nicht mehr darauf zurückkommen. Aber da hatte ich mich verrechnet.

"Was war vorher?", fragte sie. "Bevor du in der Legion warst?"

"Nichts besonderes."

Ich hätte auch sagen können: Nichts, was dir gefallen würde. Aber ich wollte ihre Neugier dämpfen und nicht anheizen.

"Dann kannst du es, mir ja auch erzählen."

"Lassen wir alles, wie es ist", meinte ich. "Das halte ich für besser."

"Hast du irgendwie Dreck am Stecken? Hast du etwas ausgefressen, oder was?"

"Tina..."

"Du traust mir nicht."

Was gewisse Dinge anging, traute ich niemandem. Auch Tina nicht, das war richtig. Ich wollte mich einfach niemandem ausliefern. Auch nicht der Frau, die ich liebte.

"Okay", sagte sie schließlich, nach einen Augenblicken des Schweigens. "Das muss ich wohl akzeptieren."

Nein, korrigierte ich sie in Gedanken. Das musst du nicht.

Aber offenbar wollte sie es.







12



Den Morgen verbrachten wir mit einer Vieracker-Fahrt durch die Wiener Innenstadt. Das touristische Pflichtprogramm sozusagen. Dann verbrachten wir einige Zeit in einem Straßencafé. Am Nachmittag wollte Tina ein bisschen durch die Geschäfte ziehen. Sollte sie ruhig. So konnte ich mich um Kreuzpaintner kümmern.

"Hast du genug Geld?", fragte ich.

"Sicher."

So sicher war das eigentlich nicht. Ich gab ihr trotzdem noch etwas dazu und erzählte ihr ein kleines Märchen, das sie mir ausnahmsweise anstandslos abkaufte. Am frühen Abend wollten wir uns im Hotel treffen.

Ich machte mich dann zur nächsten Telefonzelle auf und schlug im Telefonbuch nach. Kreuzpaintners gab es ziemlich viele. Aber nur eine Firma dieses Namens, die sich mit Im- und Export beschäftigte. Und die Telefonnummer stimmte auch.

Ich merkte mir die Adresse und ließ mich dann per Taxi dorthin bringen.

Als ich aus dem Wagen stieg, staunte ich schon ein wenig.

Der Taxifahrer hatte mich vor einer Villa abgesetzt, die von einer Mauer mit aufgesetztem gusseisernem Gitter umgeben wurde.

Ein kleines Schild am Tor sagte mir, dass ich hier richtig sein musste. Kreuzpaintner & Co. KG, Im-und Export.

Offenbar war hier nur das Büro.

Ich ging also an das gusseiserne Tor und sah dann die Klingel. Ich drückte zweimal, aber ohne Erfolg. Auf der anderen Seite rührte sich nicht das Geringste. Dann umfasste ich einen der Gitterstäbe und merkte, dass das Tor nur angelehnt war. Ich öffnete es und ging hindurch. Ein paar Sekunden später war ich vor der Haustür. Kein Schild, keine Klingel. Aber in der Einfahrt parkten zwei Personenwagen, ein Mitsubishi und ein Ford. Und die Reifenspuren waren ziemlich frisch. Es war also aller Wahrscheinlichkeit nach jemand zu Hause. Ich klopfte. Ich klopfte noch einmal. Dann hörte ich Stimmen und schließlich machte mir ein dunkelhaariger Mann auf. Ich bin nicht besonders groß, aber der Kerl ging mir gerade bis zur Schulter. Sein Teint war ziemlich dunkel. Ich nickte ihm zu.

"Guten Tag", sagte ich und wollte ihm schon die Lügenstory aufbinden, die ich mir zurechtgelegt hatte. Entschuldigen Sie bitte, aber ich bin von der Stadt. Wir renovieren hier das Gasnetz und deshalb müsste ich mal kurz bei Ihnen nachsehen und so weiter. Aber ich brauchte meine Story nicht. Mein Gegenüber hätte sie vermutlich kaum verstanden. Anstatt mich zu begrüßen, rief er etwas in furchtbar schlechtem Englisch in das Haus hinein. Offenbar brauchte er sprachgewandte Verstärkung. Als ich seinen Akzent hörte, versetzte es mir einen Stich. Ich hatte diesen Akzent oft genug gehört, um ihn zweifelsfrei wiedererkennen zu können.

 

Wenn mich nicht alles täuschte, war dieser Mann Araber.

Also doch!, ging es mir durch den Kopf. Die Spur führte nach Nahost. Ich hatte es schon fast befürchtet. Nun schien es mir Gewissheit.

Dann kam einer, der erstens anderthalb Köpfe größer war und mit seinen sehr schütteren blonden Haaren lieferte er zumindest eine optische Verbindung zu Erikson. Sein Schnurrbart war ziemlich ungepflegt und so lang, dass er immer ein paar Haare im Mund hatte und darauf herumkaute.

"Moin", sagte er. Und damit war für mich schonmal klar, dass er nicht der Kerl mit dem Wiener Dialekt sein konnte, denn ich am Telefon gehabt hatte. Dann wechselte er noch ein paar Worte mit dem Dunkelhaarigen, den ich für einen Araber hielt, und der daraufhin verschwand, nachdem er mir noch einen eher misstrauischen Blick zu geworfen hatte. Unterdessen bekam ich von dem großen Blonden einen kräftigen Händedruck.

"Sind Sie Kreuzpaintner?", fragte ich. Meine Gas-Story konnte ich immer noch aus der Reserve holen, aber wollte nicht zu sehr vorpreschen. So wenig wie möglich preisgeben und soviel Informationen dafür bekommen, wie es die Situation und mein Gesprächs, das war im Augenblick meine Devise.

"Tut mir Leid", meinte der Blonde. Er sprach einen eindeutig norddeutschen Dialekt. Hamburg, tippte ich.

"Ja, aber ich muss Herrn Kreuzpaintner..."

"Hier gibt es keinen Kreuzpaintner."

"Aber..."

"Sie sind nicht der erste, der nach ihm und seiner Firma fragt." Der Blonde grinste. "Hat er Ihnen auch Geld geschuldet?"

"Nun..."

"Na, Sie brauchen ja nicht drüber reden."

"Und wer sind Sie?"

"Mein Name ist Trautmann. Professor Dr. Trautmann."

"Und was machen Sie in diesem Haus? Haben Sie es gekauft?"

Trautmann atmete tief durch. Er schien ein klein wenig genervt zu sein, das spürte ich.

"Hören Sie, wenn Sie irgendwelche Ansprüche haben sollten, dann wenden sie sich doch bitte an die Universität."

"Warum das?"

"Die hat dieses Haus angemietet."

"Ach!"

"Ja, so ist es."

"Von wem?"

"Vom Käufer. Ich weiß nicht, wer das ist."

"Und Kreuzpaintner?"

"Ist pleite. Nach allem, was man so hört."

"Ich habe letzte Woche noch mit ihm telefoniert. Und zwar mit einer Nummer, die einem Anschluss gehört, der..."

"Wir sind erst seit dem Wochenende hier", meinte Trautmann.

Indessen tauchte der Araber kurz auf dem Flur auf. Er schleppte sich mit einer ziemlich großen Holzkiste ab und verschwand in einer der Nebentüren.

"Hm", meinte ich.

"Tut mir leid, dass ich Ihnen nicht helfen kann."

"Schon gut." Ich versuchte entspannt zu wirken, obwohl ich in der Nähe meiner Mundwinkel einen deutlichen Zug nach unten spürte. "Sagen Sie... Sie werden mir meine Neugier sicher verzeihen."

"Ja?"

Trautmann hob seine Augenbrauen, die so hellblond waren, dass man sie kaum sehen konnte.

"Womit beschäftigen Sie sich."

Er runzelte die Stirn.

"Jetzt im Moment?"

"Nein. Ich meine wissenschaftlich."

"Ach so. Ich bin Archäologe."

"Sie kommen aus Hamburg?"

Er lächelte. "Hört man das noch?"

"Ein bisschen."

"Ich lehre seit drei Jahren an der Uni Mainz."

"Und jetzt in Wien?"

"Ja. Ab dem nächsten Semester. Ich habe hier die Möglichkeit ein Institut für palästinische Archäologie einzurichten. Dem konnte ich einfach nicht widerstehen."

"Verstehe", murmelte ich. "Der Herr, mit dem ich gerade gesprochen habe."

"Ein Kollege."

"Ah, ja."

"Er kommt von der Universität Kairo und nimmt an einem Austauschprogramm teil. Leider spricht er weder vernünftig Englisch noch sonst irgend eine Fremdsprache - und mein Arabisch ist nicht so toll, dass das eine besonders flüssige Unterhaltung ergeben würde."

"Sie haben keine Ahnung, wo Kreuzpaintner jetzt ist?"

"Nein."

"Zu dumm."

"Tja, so ist das nun einmal. Ich hoffe für Sie, dass er nicht schon auf den Cayman-Inseln ist. Sie glauben gar nicht, wie viele bitterböse Anrufe hier täglich ankommen."

"Was Sie nicht sagen!"

"Seit gestern nehme ich schon gar nicht mehr ab."

"Was sagen die denn so?"

"Ach, vergessen wir's! Beschimpfungen!"

"Haben Sie Kreuzpaintner mal gesehen?"

"Nein. Ich bin ihm nie begegnet."

"Schade."

Ich wandte mich zum Gehen. Da kam der Araber und sagte etwas, was ich nicht verstand.

"Wären Sie so freundlich, eben mal mit anzupacken?", fragte Trautmann. "Es handelt sich um einen Büroschrank samt Inhalt. Und der ist einfach zu schwer für zwei."

Ich wandte mich halb herum.

"Sicher."

"Kommen Sie!"







13



Der Abstecher nach Wien schien ein Schlag ins Wasser zu werden. Jedenfalls war ich kein bisschen schlauer als zuvor.

Alles verlor sich im Nichts, so wie dieser seltsame Heeäär Kreuzpaintner.

"Gefällt dir das?", hörte ich Tina sagen.

Ich war pünktlich zurück im Hotel gewesen und nun musste ich mir ansehen, was sie eingekauft hatte.

"Ganz nett", meinte ich abwesend und fragte mich, ob es es mit einem echten Professor zu tun gehabt hatte, oder ob mich da einer zum Narren hielt. Ich würde auf jeden Fall versuchen, es nachzuprüfen.

"Was heißt hier ganz nett?", hörte ich Tinas empörte Stimme.

"Ganz nett heißt: Prima."

"Dann hättest du prima gesagt und nicht ganz nett. Gefällt es dir nun oder gefällt es dir nicht?"

"Es gefällt mir."

"Wirklich?"

"Wirklich. Steht dir super."

Ich dachte an den Araber. Institut für palästinische Archäologie - konnte es eine bessere Tarnung geheimdienstlicher Tätigkeiten geben?







14



Ein paar Tage später waren wir wieder zu Hause. Wien hatte nicht viel gebracht, jedenfalls nicht, was mein spezielles Problem anging. Immerhin hatten Tina und ich ein paar schöne Tage dort gehabt. Und das war ja auch etwas.

Ich verbrachte die Zeit mehr oder weniger mit Nichtstun und wartete darauf, dass der graue Mann mit der dicken Brille sich bei mir meldete.

"Haben Sie schon mal jemanden getötet?"

Ich hatte seine Frage noch gut im Ohr. Und ich hätte in jenem Augenblick nicht im Traum daran gedacht, dass ich ein paar Wochen später ungeduldig darauf warten würde, dass er mich anrief.

Die fünftausend, die er mir fürs Nachdenken gegeben hatte, waren schon so gut wie aufgebraucht. Anfangs hatte ich ihn für einen Spinner gehalten. Jetzt war mir klar, dass er genau gewusst hatte, was er tat. Verdammt genau. Ich wollte jetzt auch die halbe Million. Und es war mir fast schon egal, was ich dafür zu tun hatte. Ich war tief gesunken und wartete noch immer vergebens darauf, dass es anfing mich zu stören.

Als der graue Mann anrief, war es kurz nach drei am Nachmittag. Ich nahm den Hörer ab.

"Ja?"

Er sagte keinen Namen und keine Begrüßung, sondern kam unmittelbar zur Sache. Aber ich erkannte seine Stimme sofort und wusste, mit wem ich sprach. Mit ihm.

"Haben Sie es sich überlegt?"

"Ja."

"Interessiert?"

"Ja."

"Gut."

Er legte auf.

Ich saß da wie bestellt und nicht abgeholt. Ich hatte keine Ahnung, wen ich ins Jenseits befördern sollte, wo ich ihn finden konnte und so weiter. Ich hatte nicht einmal eine Waffe. Aber der graue Mann war keiner, der irgend etwas dem Zufall überließ, so gut glaubte ich ihn inzwischen schon zu kennen. Er würde schon dafür sorgen, dass alles über die Bühne ging.

Ich ging zum Fenster und blickte hinaus. Es war regnerisch heute. Ein trüber Tag, den man am besten aus dem Kalender strich. Erst nach und nach wurde mir klar, was ich vor wenigen Sekunden getan hatte. Ich hatte den Auftrag angenommen und ich wusste nur zu gut, dass es jetzt kein Zurück mehr gab auf diesem Weg, an dessen Ende ich ein Mörder sein würde. Es war jetzt keine reine Gedankenspielerei mehr, sondern tödlicher Ernst. Ich dachte an die halbe Million.







15



Jeden zweiten Tag rief ich in Zürich an, um mich nach meinem Kontostand zu erkundigen. Tina würde sich über die Telefonrechnung freuen. Ende der Woche kam dann die Überweisung. Hunderttausend Franken. Das war mehr Geld, als ich je besessen hatte. Ein merkwürdiger Schauer überlief mich, als mir die Stimme auf der anderen Seite der Strippe bestätigte, dass das Geld tatsächlich eingezahlt worden sei. Der graue Mann hatte Wort gehalten. Und ich würde es auch tun.

 

Vermutlich blieb mir auch gar nichts anderes übrig, wenn ich noch eine Weile leben wollte. Und auf einmal bekam die ganze Sache einen üblen Beigeschmack. Man hat dich gekauft, sagte irgend etwas in mir.

Der graue Mann rief nicht mehr an. Mit wachsender Ungeduld schaute ich jeden Tag in den Briefkasten. Konnte ja sein, dass man mir das Material zuschickte. Die Waffe, ein Foto des armen Schweinehunds, den ich allemachen sollte und so weiter. Aber noch war nichts gekommen.

"Was ist eigentlich los mit dir?", fragte mich Tina irgendwann mal während dieser Zeit.

"Was soll denn los sein?", grunzte ich zurück.

"Du bist so... in dich gekehrt."

"Ich bin eben ein introvertierter Mensch. Vielleicht wäre ich unter anderen Umständen Mönch in einem buddhistischen Bergkloster geworden."

Es sollte witzig klingen.

Es klang aber nur irgendwie bescheuert.

"Du willst mich verarschen!", stellte Tina zielsicher fest.

"Würde ich nie tun!"

"Tust du dauernd."

"Ach, komm!"

"Na, ist doch wahr!"

Am nächsten Tag bekam ich Post. Ein weißer Umschlag, mit einem Computer-Etikett beklebt, auf das mein Name und Tinas Adresse aufgedruckt waren. Ich machte auf und schaute mir den Inhalt an. Es war ein Schlüssel. Ich kannte diese Art von Schlüssel. Sie gehörte zu den Gepäckfächern im Bahnhof.

Dabei war ein Zettel. Auf dem Stand: Bis 18 Uhr. Ich fuhr erst hin, als Tina nicht mehr in der Wohnung war. Vor dem Bahnhof stellte ich den Volvo im Parkverbot ab und hoffte, dass die alte Kiste noch da war, wenn ich zurückkam. Aber ich hatte keine Wahl. Alle regulären Plätze waren belegt.

Als ich die Bahnhofshalle betrat, hatte ich ein flaues Gefühl in der Magengegend. Ich konnte noch nicht einmal genau sagen, warum eigentlich. Ich konnte mich nicht erinnern, ein solches Gefühl gehabt zu haben, als man uns in den Tschad geflogen hat.

Und damals war ich in Gefahr gewesen.

Jetzt war es jemand anderes.

Und wenn man dem glauben konnte, was der graue Mann mir erzählt hatte, dann waren wir alle in Gefahr und ich trug ein bisschen dazu bei, sie zu verringern. Wie auch immer.

Wahrscheinlich war es nur die halbe Wahrheit.

Ich ging zu den Gepäckfächern und öffnete schließlich dasjenige, dessen Nummer mit der auf meinem Schlüssel übereinstimmte.

Im Innern war ein kleines Diplomatenköfferchen. Ich nahm es an mich, drehte mich ein wenig zur Seite und ging dann mit schnellen Schritten davon.

Dabei fragte ich mich, ob sie mich wohl beobachteten. Ich hatte zwar nichts bemerkt, aber da ich es mit Profis zu tun hatte, musste das nichts heißen.

Als ich wieder hinter dem Steuer des Volvos saß, fühlte ich mich schon bedeutend wohler. An der Scheibe klebte ein Zettel. Glück gehabt!, dachte ich. Ein paar Mark fürs Falschparken waren nicht so unangenehm, als wenn einem die Karre abgeschleppt wurde.

Ich startete.

Und aus den Augenwinkeln sah ich den Koffer neben mir auf dem Beifahrersitz liegen. Ich öffnete ihn erst zu Hause.

Tina war bei der Arbeit. Ich konnte das in aller Ruhe machen, ohne dumme Fragen gestellt zu bekommen.

Da war einmal ein Futteral, das aussah wie die Umhüllung meines Rasierapparats.

Aber ich wusste nur zu gut, was darin war.

Ich öffnete und sah eine automatische Pistole samt Munition und Schalldämpfer. Ich nahm die Waffe heraus und lud sie durch. Dann nahm ich sie etwas genauer unter die Lupe. Die Seriennummer war abgefeilt. Die Leute, in deren Auftrag ich den Todesengel spielen sollte, hatten auch wirklich an alles gedacht.

Ich packte die Waffe wieder bei Seite und nahm dann den braunen Umschlag, Format Din A5. Als ich ihn öffnete, mit den Fingern hineinlangte und das Fotopapier spürte, hatte ich wieder das flaue Gefühl.

Ich nahm die Fotos heraus und sah in die trüben blauen Augen eines Mannes in den späten Fünfzigern. Er hatte nicht mehr viele Haare auf dem Kopf, aber die wenigen, die noch vorhanden waren, hatte er dafür wachsen lassen und sorgfältig auf der glatten Schädelfläche verteilt. Ich fragte mich, wie viel Pomade man wohl brauchte, um sie da oben auf der Halbkugel einigermaßen stabil kleben zu lassen.

Es war eine ganze Serie von Bildern.

Auf einem hatte er einen Bart, der ziemlich grau war. Und ein weiteres zeigte ihn zusammen mit Breschnew bei irgend einem offiziellen Anlass.

Der Untergang des roten Reiches hatte jemandem wie ihm nur Nachteile bringen können.

Ich ging die anderen Bilder durch.

Eines zeigte ihn zusammen mit seiner Familie, das sah ich mir etwas länger an.

Er hatte einen Sohn und eine Tochter, beide Anfang 30, so schätzte ich. Seine Frau war zierlich und hatte feine, sympathisch wirkende Gesichtszüge.

Ich hoffte, dass der Kerl allein reiste. Und wenn nicht, dann würde ich mir trotzdem Mühe geben, die Sache so zu drehen, dass ich keinen von ihnen erledigen musste. Das sollte eigentlich zu machen sein. Schließlich war ich ja kein Terrorist, der es in Kauf nimmt, hundert Menschen und vielleicht sogar noch sich selbst in die Luft zu sprengen, nur um vielleicht einen Politiker zu treffen.

Zwischen den Bildern war noch ein kleiner Zettel.

Andrej Andrejewitsch Krylenko Frankfurt am Main /Flughafen ab 15.4. aus Moskau

Besonders präzise war das nun wirklich nicht, aber wenigstens hatte ich noch einige Tage Zeit. Ich fluchte innerlich. Etwas mehr Vorbereitung hätte ich mir schon gewünscht. Es war schon ein teuflisches Spiel, auf das ich mich da eingelassen hatte. Da würde in gut einer Woche ein Mann den Flieger von Moskau nach Frankfurt besteigen und sein Tod war schon beschlossene Sache. Sogar schon angezahlt. Er würde ahnungslos in den Tod fliegen. Es war eigentlich nicht so sehr Mitleid mit Krylenko, das mich plötzlich zu plagen begann, sondern die plötzliche Erkenntnis, dass mir niemand garantieren konnte, dass ich nicht selbst drauf und dran war, etwas ähnliches zu tun, wie dieser Russe.