Juwelen, Mörder, Tote - Sechs Extra Krimis Juni 2018

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5


Am Morgen war Robert schon früh aufgestanden.

Undeutlich nahm Elsa wahr, wie er ein paar Sachen aus dem Kleiderschrank holte und in einen Koffer packte. Es dauerte ein bisschen, aber dann war sie hellwach.

„So früh?“

„Ja.“

„Willst du hier noch frühstücken? Ich könnte die Kaffeemaschine...“

„Nein. Dazu ist kaum noch Zeit. Hast du einen Führerschein?“

„Ja.“

„Dann lasse ich dir den Landrover hier.“

„Und du?“

„Ich rufe mir ein Taxi.“

„Wenn du meinst...“

„Ja.“

Er schloss den Koffer zu und verließ das Schlafzimmer. Sie hörte ihn die Treppe hinuntergehen, schlug die Bettdecke zur Seite und stand auf. Dann warf sie sich ein paar Sachen über und folgte ihm.

Als sie die Treppe hinabstieg, sah sie seinen Koffer, den er flüchtig abgestellt hatte. Darüber hatte er sein Jackett geworfen. Aus dem Wohnzimmer hörte sie Roberts Stimme beim Telefonieren. Er rief wohl gerade das Taxi, was sie allerdings nur vermuten konnte, denn er sprach Arabisch.

Sie wollte schon weitergehen und ihm ins Wohnzimmer hinein folgen. Dann fiel ihr Blick auf den Pass, der aus der Innentasche seines Jacketts ein Stück herausragte.

Elsa runzelte unwillkürlich die Stirn, sie glaubte ihren Augen nicht zu trauen. Dann zog sie mit einem schnellen Griff den Pass noch ein weiteres Stück aus der Tasche heraus und dann gab es keinen Zweifel mehr.

Sie hatte sich nicht getäuscht.

Es war nicht mehr der dänische Pass, den sie damals auf der Post gesehen hatte. Der Pass war britisch.

Elsa fuhr augenblicklich zusammen, als sie Robert herankommen hörte.

„Alles in Ordnung, das Taxi kommt gleich.“

Sein Blick war auf die Armbanduhr an seinem Handgelenk gerichtet. Dann sah er auf. „Ist irgend etwas?“

„Nein. Was sollte sein?“

„Ich meine nur. Du siehst aus, als wäre dir irgendeine Laus über die Leber gelaufen.“

„Nein, du irrst dich.“

Er zuckte die Schultern.

„Na gut.“

Er nahm seine Jacke und zog sie an.

Blitzlichtartig wirbelte ein halbes Dutzend Gedanken auf einmal in ihrem Kopf herum. Wie kam Robert an einen britischen Pass? Wozu brauchte jemand überhaupt mehrere Pässe? Sie hatte keine Gelegenheit gehabt, hineinzuschauen und wusste nicht, ob derselbe Name eingetragen war: Robert Jensen.

Vielleicht gibt es eine ganz simple Erklärung, dachte sie. Es gab ja schließlich so etwas wie doppelte Staatsbürgerschaften. Sie hätte ihn leicht fragen können, aber irgend etwas hielt sie davon zurück.

„Du brauchst dich um nichts zu kümmern. Aziz schaut vorbei und regelt alles. Er hat einen Schlüssel.“

„Gut.“

„Ich lasse dir genug Geld da, damit du über die Runden kommst.“

Wenig später kam das Taxi. Als Robert weg war, fühlte sie sich, als würde sie in ein großes, finsteres Loch fallen. Langsam begann ihr jetzt zu dämmern, wie sehr ihr Leben bereits um diesen Mann zu kreisen begonnen hatte.

Eigentlich hatte sie nichts dagegen. Eigentlich wünschte sie sich nichts anderes als genau das: um ihn zu kreisen wie ein Planet um seine Sonne.

Aber da war die Sache mit dem Pass. Und eine Ahnung von Misstrauen. Sie konnte nichts dagegen tun, es hatte begonnen, an ihrer Seele zu nagen, und sie konnte sich nicht dagegen wehren...

Unwillkürlich kamen ihr die Geschäfte ins Bewusstsein, mit denen Robert sein Geld verdiente... Viel Geld, wie auf der Hand lag. Sehr viel...

Was mögen das nur für Geschäfte sein?, dachte sie und zermarterte sich das Hirn. Am Ende gar Drogen oder etwas in der Art?

Robert hatte Elsa gegenüber bisher standhaft über die Herkunft seines Geldes geschwiegen.

Dann die Sache mit dem zweiten Pass... Wer, außer einem Mann, der seine Identität verdunkeln musste, brauchte mehrere! Es schien alles zusammenzupassen.

Elsa erschrak über ihre eigenen Gedanken. Mein Gott!, dachte sie. Das grenzt ja an Paranoia!

Sie sah ihren Traum bereits wie eine Seifenblase zerplatzen. Ein Teil von ihr weigerte sich, den Gedankengang zu Ende zu führen. Aber er ließ sich nicht einfach so aufhalten. Die Gedanken kamen wie von selbst, und sie konnte sie nicht stoppen.

Auf einmal hatte Elsa rasende Kopfschmerzen.

Elsa fühlte sich wie betäubt.

Ich lege mir da etwas zurecht, versuchte sie sich selbst einzureden.

Sie traute ihrer eigenen Wahrnehmung nicht so ganz. Sie erinnerte sich daran, dass sie sich früher oft verfolgt gefühlt hatte. Nicht nur, wenn sie in einsamen, finsteren Nebenstraßen einem nur als schattenhafter Umriss erkennbaren Unbekannten begegnete, sondern auch in ganz anderen Situationen. Im Kaufhaus zum Beispiel.

Eine Hälfte von ihr hatte immer gewusst, wie absurd das alles war und dass das alles nur ihrer Einbildungskraft entsprang. Die andere Hälfte zitterte vor Angst.

So ähnlich war es auch jetzt.

Sie ging hinauf ins Schlafzimmer, um in ihren Sachen nach Tabletten gegen die Kopfschmerzen zu suchen. Sie hatte immer so etwas dabei gehabt, seit sie 13 gewesen. Sie nahm die Tabletten, wenn sie Kopfschmerzen hatte, wenn ihre Regel im Anzug war - oder wenn sie sich ganz einfach schlecht fühlte.

Im Augenblick trafen alle drei Dinge auf einmal zu. Es war furchtbar.

Sie wühlte ihre Sachen durch, und schließlich fand sie, was sie gesucht hatte. Die Tabletten waren in der kleinen weißen Handtasche, die sie oft bei sich hatte.

Sie nahm ein paar, drei oder vier, und dann ging sie nebenan ins Bad, um sie mit etwas Wasser hinunterzuspülen.

Im Allgemeinen wurde davor gewarnt, das Leitungswasser unabgekocht zu trinken, aber das kümmerte sie im Augenblick nicht. Sie dachte überhaupt nicht daran.

Ihre Hand glitt die in Augenhöhe angebrachten Ablage entlang und suchte nach einem Zahnputzbecher, während sie eine Tablette bereits im Mund zerkaut hatte. Sie schmeckten scheußlich, und so verzog sie das Gesicht zu einer Grimasse.

Irgendetwas fiel ins Waschbecken. Es war ein Rasierapparat. Sie war ziemlich ungeschickt.

Dann hatte sie endlich den Becher, ließ ihn voll Wasser laufen und spülte nach. Und nach der nächsten Tablette wieder. Und dann noch einmal.

Als sie den Blick hob und den Rasierer zurück an seinen Ort legen wollte, sah sie ein paar Schminkutensilien, die ihr bisher noch nie aufgefallen waren.

Sie runzelte die Stirn. Für einen Mann in Roberts Alter war es nichts Außergewöhnliches, ein paar graue Strähnen im Haar zu haben. Und es war auch nichts dagegen einzuwenden, mit entsprechenden Mitteln etwas dagegen zu tun. Das galt für Männer ebenso wie für Frauen. Aber was Elsa hier vorfand, ging genau in die entgegengesetzte Richtung: eine graue Haartönung!

Ihr Interesse war jetzt erwacht, und trotz der Kopfschmerzen untersuchte sie sorgfältig, was sich da in Roberts Schrank befand.

Im ersten Moment hatte Elsa an eine Frau gedacht. Eine Frau, die vielleicht - ebenso wie sie selbst - Roberts Geliebte gewesen war und diese Sachen hier zurückgelassen hatte.

Aber bei näherem Hinsehen sah es dann wie etwas ganz anderes aus. Es schienen die Utensilien eines Clowns oder besser: eines Schauspielers zu sein, der sich mit Schminke maskierte.

In ihr begann es zu arbeiten. Wozu konnte Robert solche Schminkutensilien benötigen? Er machte nicht den Eindruck eines Mannes, der in seiner Freizeit in einer Laienspielgruppe mitarbeitete...

Ein Mann, der mehrere Pässe besaß, brauchte möglicherweise auch mehrere Gesichter!

Bestimmt gibt es für alles harmlose Erklärungen!, hämmerte es verzweifelt in Elsas Kopf. Aber sie glaubte nicht daran. Ihr Instinkt sagte etwas anderes. Mit Robert war etwas nicht in Ordnung.

Und wenn er am Ende gar nur an einem Kostümfest teilgenommen hatte?

Es hat keinen Sinn, dachte sie.

Bis jetzt bestand alles nur aus Spekulationen. Ein Kartenhaus, das sich auf einen britischen Pass stützte, den sie flüchtig gesehen hatte und von dem sie nicht einmal mit Sicherheit sagen konnte, dass er Robert gehörte.

Vielleicht hatte ihn irgend jemand verloren, vielleicht hatte Robert ihn gefunden und eingesteckt, um ihn bei irgendeiner Stelle abzugeben. Und vielleicht war das Dokument dann einfach in seiner Tasche geblieben, weil er es vergessen hatte... Vielleicht, vielleicht...

Sie fasste sich an den Kopf. Ihr Daumen presste gegen die Schläfe. Mein Gott!, dachte sie. Wie schnell wird aus einem Traum ein Alptraum!

Du redest dir etwas ein, durchfuhr es sie dann. Sie wusste nicht mehr, was sie glauben sollte und was nicht. Sie ging schleppend nach nebenan, ins Schlafzimmer und ließ sich ins Bett sinken. Ihren Kopf vergrub sie im Kissen.

 

Sie fühlte sich müde und zerschlagen, obwohl sie doch gerade erst aufgestanden war. Elsa wartete, bis das Mittel, das sie genommen hatte, endlich anfing zu wirken. Aber besonders gut fühlte sie sich trotz dem nicht. Später, als sie dann hinunter ins Wohnzimmer ging, stand die Tür zur Terrasse auf. Zunächst war sie etwas verwundert, aber dann sah sie Aziz durch das Fenster.

Er beugte sich hinunter zum Swimmingpool und hantierte mit einer kleinen Apparatur aus winzigen Glasröhrchen herum. Elsa blinzelte, aber sie konnte nicht erkennen, worum es sich handelte.

Sie trat hinaus.

„Guten Morgen“, sagte sie.

Aziz blickte auf. Ohne darüber nachzudenken, hatte Elsa ihn auf Deutsch begrüßt. Aziz antwortete ihr auf Englisch.

„Guten Morgen, Miss.“ Sein Englisch war akzentbeladen, aber dennoch gut verständlich.

„Was machen Sie da?“, fragte sie - nun ebenfalls auf Englisch. Sie hörte sich in der fremden Sprache reden, und ihre eigene Stimme klang fremd für sie.

„Ich überprüfe den pH-Wert“, erklärte Aziz. „So ein Pool braucht regelmäßige Wartung. Vielleicht muss ich etwas Chlor zusetzen...“

Aziz hantierte noch etwas herum, dann erhob er sich ächzend. Er schien fertig zu sein.

„Und?“, fragte sie.

„Und was?“

„Müssen Sie Chlor zusetzen?“

„Ja. Sonst ist bald alles grün, und der Pool wird zu einer einzigen, stinkenden Kloake!“

„Na, aber das dauert doch eine Weile, bis es so weit kommt, oder?“

„Das geht viel schneller, als viele Leute glauben. Zumal wenn die Sonne so scheint.“ Er deutete zum Himmel. „Wird heute wieder ein heißer Tag!“

„Ja“, murmelte Elsa nachdenklich. „Scheint so...“

Der Marokkaner wollte sich zum Gehen wenden, aber Elsa hielt ihn zurück.

„Aziz...?“

„Ja, Miss?“

„Ich darf Sie doch so nennen, ich meine...“

Er lachte. „Aziz ist mein Name. Warum sollten Sie mich nicht so nennen dürfen?“

„Wie lange arbeiten Sie schon für Robert?“

„Für Mister Jensen? Schon sehr lange...“

„Wie lange?“

„Es werden jetzt bald drei Jahre, schätze ich.“

„Und seit wann ist Robert hier in Tanger?“

„Ich weiß es nicht, aber als ich hier angefangen habe, hatte er das Haus wohl noch nicht lange.“

Elsa machte eine unbestimmte Bewegung mit der Hand. „Er ist ein reicher Mann“, murmelte sie.

Und Aziz nickte. „Ja, sehr reich.“

„Was denken Sie über Robert?“

Aziz machte auf einmal einen ziemlich hilflosen Eindruck. In den Händen hielt er noch die Apparatur, die er zur pH-Wert-Bestimmung des Wassers gebraucht hatte. Er zuckte leicht mit den Schultern und lächelte etwas verlegen.

„Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll...“

Elsa kam in den Sinn, dass sie Aziz mit dieser Frage vielleicht überforderte. Schließlich lebte er von Robert... Aber sie bohrte dennoch weiter. Sie musste einfach mehr über den Mann erfahren, den sie liebte und in dessen Haus sie lebte.

„Sie werden doch sicher eine Meinung über einen Mann haben, für den Sie schon seit fast drei Jahren arbeiten!“

„Ich bin sehr zufrieden hier und kann mich nicht beklagen. Ich habe einen guten Job - und nicht nur ich, sondern auch meine Frau und meine Töchter. Sie kommen hierher zum Putzen. Wir alle verdanken Mister Jensen viel.“

„Das meine ich nicht.“

„Dann verstehe ich Sie nicht.“

„Was ist er für ein Mensch?“

„Er ist sehr verschlossen, Miss.“

„Was heißt das?“

„Dass er nicht gerne mit anderen über seine Angelegenheiten redet! Aber ist das nicht auch sein gutes Recht? Alles in allem weiß ich nicht viel über ihn, obwohl ich schon seit drei Jahren fast täglich sein Haus betrete. Etwas merkwürdig ist das schon.“ Er zuckte mit den Schultern. „Er vertraut mir immerhin so weit, dass er mir seinen Haustürschlüssel überlässt.“

„Ich meine...“

„Hören Sie, vielleicht können wir uns ein anderes Mal ein wenig unterhalten, aber im Augenblick habe ich eigentlich alle Hände voll zu tun...“

Er wandte sich bereits halb um.

„Nur noch eins!“

„Was?“

„Womit verdient Robert sein Geld?“

„Das geht mich nichts an. Hat er es Ihnen nicht gesagt?“

„Nein.“

„Haben Sie ihn gefragt?“

„Schon, aber... Ich werde nicht schlau aus der Sache. Aus allem hier.“

„An diesen Zustand sollten Sie sich gewöhnen.“

„Weshalb?“

„Weil der Besitzer dieses Hauses einen gewissen Hang zur Geheimniskrämerei hat. Ich habe es aufgegeben, mich über irgend etwas zu wundern. Und Sie sollten dasselbe tun.“

„Ich weiß nicht...“

„Es ist ein Rat, mehr nicht.“

„Gut.“

„Stellen Sie sich eine Rose auf einem Misthaufen vor.“

„Eine Rose auf einem Misthaufen? Etwas merkwürdig, nicht?“

Aziz entblößte seine Zähne, als er ein breites Lächeln aufsetzte. „So etwas gibt es, Miss.“

„Wenn Sie es sagen.“

„Sie sollten sich an der Rose freuen, Miss - und nicht in dem Mist graben, auf dem sie gewachsen ist!“

Dann wandte er sich mit einer entschlossenen Bewegung um und ging davon.




6


Vom Madrider Bahnhof Chamartin aus hatte Robert die Untergrundbahn genommen, war ein paar Stationen gefahren und dann an einer bestimmten Stelle ausgestiegen. Er kannte sich in Madrid aus, aber hier Ort - und vor allem in dem Hotel, vor dem er jetzt stand - war er noch nie gewesen.

Er hatte das extra so arrangiert.

Es sollte sich später niemand an ihn erinnern.

Das Hotel war eine Absteige, aber genau richtig für seine Zwecke. Man kümmerte sich in solchen Etablissements nicht besonders um die Gäste. Und ein Teil der Gäste schätzte das.

Die Fassade hätte eine Überholung dringend nötig gehabt, aber damit machte sie unter den anderen Gebäuden der Straße keine Ausnahme. Es war eine heruntergekommene Gegend.

Als Robert das schäbige, enge Foyer betrat, knarrte der Fußboden. An der Rezeption saß ein dicker Mann mit roter Trinkernase, der sich über eine Illustrierte beugte und Kreuzworträtsel zu lösen versuchte.

Robert trat näher, und blickte schließlich auf.

„Que quisiera, senor?“

Robert antwortete auf Englisch. British English. Der arroganteste Tonfall, den er hervorbringen konnte.

Und wie die meisten Briten erwartete auch Robert von seinem kontinentalen Gegenüber, dass er ihn verstand.

„Ich möchte ein Zimmer.“

„No problemo, senor! Ihren Passport bitte!“

Robert holte das Dokument aus der Jackentasche und schob es über den Tisch. Der Dicke mit der roten Nase holte ein Buch hervor und trug die Nummer des Passes ein. „Es Ingles, senor?“ Und dann, nach einer kleinen Pause, während der er gemerkt zu haben schien, dass er Spanisch gesprochen und sein Gegenüber ihn wahrscheinlich nicht verstanden hatte: „Engländer?“

„Machen Sie Ihre Arbeit, und lassen Sie mich in Ruhe!“, zischte Robert.

Aber der Dicke schien nicht gut genug Englisch zu sprechen, um das zu verstehen. „Hier den Portier zu spielen ist ganz schön langweilig. Kommen Sie aus London, Mister...“ Er blätterte in dem britischen Pass herum. „... McCord?“

„Nein.“

Robert nahm ihm das Dokument ziemlich grob aus der Hand. Der Spanier zuckte mit den Schultern und machte eine hilflose Geste. „Que va, senor! Was ist schon dabei?“

„Brauchen Sie noch etwas von mir?“

„Ja, eine Unterschrift.“

„Wohin?“

„Hier. Und dann hätte ich noch gerne, dass Sie für die nächste Nacht im voraus bezahlen. Das ist hier so üblich.“

„Nichts dagegen.“

„Wollen Sie Frühstück?“

„Wird das von Ihnen angerichtet?“

„Ja.“

„Dann lieber nicht.“ Robert bekam seinen Schlüssel. Nachdem er bezahlt hatte, ging er die Treppe hinauf zu den Zimmern.

„Zweite Tür links!“, rief der dicke Spanier ihm unfreundlich hinterher. Robert wandte sich nicht um.

Wenig später stand er vor einer Holztür, die mehrere unübersehbare Schrammen aufwies. Er drehte den Schlüssel, während aus einem der Nachbarzimmer das schrille Lachen einer Frau und das bierselige Grölen einer Männerstimme drang.

Robert trat ins Zimmer, warf den Handkoffer auf das Bett und sah sich um. Das Zimmer war passabel. Es gab sogar ein Telefon.

Robert nahm den Apparat vom Nachttisch und setzte sich neben seinen Koffer auf das Bett. Aus der Hosentasche holte er einen Zettel. Dann wählte er mit schnellen, sicheren Bewegungen eine Nummer.

Seine Rechte führte den Hörer zum Ohr.

Mit angestrengten, konzentrierten Zügen wartete er ein paar Augenblicke.

Dann: „Hallo?“ Eine kurze Pause. „Hier spricht das Chamäleon. Ich bin morgen um drei Uhr nachmittags im 'Parque del Buen Retiro'. Kommen Sie allein. Ich erkenne Sie daran, dass Sie ein Exemplar des 'New York Herald Tribune' bei sich tragen. Ich beschreibe Ihnen jetzt genauestens den Ort, an dem ich Sie sehen will! Schließlich ist der 'Parque' ziemlich groß. Hören Sie mir gut zu, ich habe keine Lust, mich zu wiederholen...“

Sonntagnachmittag im „Parque del Buen Retiro ließ Robert vorsichtig den Blick umherschweifen. Was er sah, war alles andere als ungewöhnlich für diesen Ort und diese Tageszeit.

Familien mit Kindern spazierten durch die Parkanlagen. Manche von ihnen fütterten die Tauben, die überall zu finden waren und sich schon so sehr an die Menschen gewöhnt hatten, dass sie fast jegliche Scheu verloren hatten. Auf einer Bank saß ein alter Mann, der eine dicke Brille und eine Baskenmütze trug und angestrengt in seine Zeitung stierte. Wenige Meter entfernt spielten zwei kleine Jungs, vielleicht vier, fünf Jahre alt, im Sand. Es mochten Enkel oder gar Urenkel des Alten sein. Wenig später, als Robert sich auf eine freie Bank gesetzt hatte, rief der Alte die beiden Jungs herbei und holte für jeden eine Banane aus seiner abgenutzten Tasche.

Er selbst genehmigte sich eine Zigarre, hatte aber kein Feuer und sah sich dann etwas hilflos um. Da war noch ein junges Paar, das eng umschlungen dasaß und sich in mehr oder weniger regelmäßigen Intervallen leidenschaftlich küsste.

Der Alte hatte offensichtlich nicht die Absicht, die beiden zu stören, daher stand er auf und ging zu Robert. Er fragte ihn auf Spanisch nach Feuer.

Robert musste noch einmal nachfragen, um ihn richtig zu verstehen, was nicht an seinen mangelhaften Spanischkenntnissen, sondern an der Tatsache lag, dass der Alte ein Gebiss trug, das nicht richtig saß.

Robert hatte kein Feuer, und er sagte das dem Alten auch in dem besten Spanisch, das er hervorzubringen in der Lage war. Er sei Nichtraucher, erklärte er ihm. Wozu also Streichhölzer oder ein Feuerzeug?

Robert hoffte, dass das Gespräch damit zu Ende wäre, aber er hatte sich getäuscht. Der Alte schien auf einen kleinen Plausch aus zu sein und nahm die Sache zum Anlass, einfach draufloszureden.

Robert verstand einen Großteil gar nicht, aber das schien den Alten auch nicht zu interessieren. Sein Mund bewegte sich unaufhörlich, sein Gebiss rutschte auf und nieder.

Robert warf einen nervösen Blick auf die Uhr. Kurz vor 15.00 Uhr.

Dann machte er dem Alten den Vorschlag, doch die beiden jungen Leute zu fragen. Er habe den Mann Zigarette rauchen sehen. Das stimmte zwar nicht, aber er musste den Alten jetzt irgendwie loswerden.

Der Alte schien nicht genug Mut aufzubringen, um die beiden eng Umschlungenen zu fragen. Also fragte Robert sie.

 

Der junge Mann hatte kein Feuer, aber dafür das Mädchen. Robert war gerettet. Der Alte zündete sich eine dicke Zigarre an und versuchte nun, den beiden jungen Leuten ein Gespräch aufzuzwingen. Es entstand ein kurzer Wortwechsel.

Dann kam von den beiden Kleinen ein Geschrei. Die beiden Jungen waren in Streit miteinander geraten und bewarfen sich nun mit Händen voll Sand.

Der Alte musste sehen, dass er schleunigst an den Ort des Geschehens zurückeilte. Er schimpfte noch lauter, als die beiden Kleinen schreien konnten, und damit war die Sache dann erst einmal entschieden.

Der Alte setzte sich wieder auf seine Bank, zog an seiner Zigarre und wischte mit einem Taschentuch seine Brillengläser sauber, bevor er wieder in die Zeitung blickte.

Fast zur gleichen Zeit sah Robert einen etwas übergewichtigen Mann mit dunklem Oberlippenbart herankommen. Unter dem Arm trug er eine Ausgabe des „New York Herald Tribune“. Robert ließ sich nichts anmerken. Er wollte erst einmal abwarten.

Schließlich musste er sichergehen, dass der Mann auch tatsächlich allein gekommen war, wie Robert es gefordert hatte.

Der Mann mit dem Oberlippenbart setzte sich, nachdem er den Blick ausführlich hatte kreisen lassen, auf eine freie Bank. Es war die Bank, auf der das junge Paar gesessen hatte.

Die beiden waren Arm in Arm weitergegangen. Robert sah sie in einiger Entfernung Tauben füttern, und manchmal lachte die Frau so laut und hell, dass er es hören konnte.

Robert blickte sich um. Der Mann, mit dem er sich treffen wollte, schien tatsächlich, wie abgemacht allein gekommen zu sein.

Indessen hatte der Alte seine Sachen zusammengepackt und ging mit den beiden Kleinen davon.

Einer der Jungen versuchte, eine Taube zu streicheln und lief hinter ihr her. Die Jagd hatte erst ihr Ende, als der Kleine stolperte und hinfiel.

„Sie sind Mendez?“, fragte Robert.

Der Mann mit dem Oberlippenbart und dem „Tribune“ wandte sich zu ihm um.

„Ich hatte mir schon gedacht, dass Sie das Chamäleon sein könnten.“

Wie selbstverständlich sprachen sie Englisch. Robert schien ein wenig ärgerlich zu sein.

„Ich fragte, ob Sie Mendez sind!“

„Nein.“

„Dann weiß ich nicht, was wir miteinander zu bereden hätten. Ich wünsche Ihnen noch einen guten Tag, Sir!“

Robert wandte sich ab, um zu gehen.

„Mein Name ist Garcia“, sagte der Mann. Garcia, dachte Robert. Der Name war aller Wahrscheinlichkeit nach falsch. Er war einfach zu gewöhnlich. Aber das interessierte Robert jetzt nicht weiter. Er wandte sich noch einmal zu dem Mann, der sich Garcia nannte und meinte sarkastisch: „Sie hätten ein bißchen mehr Phantasie aufbringen können, finden sie nicht auch?“

„Inwiefern?“

„Bei Ihrem Namen. Im Madrider Telefonbuch gibt es seitenweise Garcias. Sie hätten sich etwas Originelleres einfallen lassen können.“

„Auf Originalität kommt es in meinem Gewerbe nicht an.“

„In meinem manchmal schon.“

Robert wandte sich erneut rum und hatte bereits zwei Schritte hinter sich gebracht, da hörte er Garcia rufen: „So warten Sie doch! Mendez hat seine Gründe, dass er nicht persönlich kommen konnte!“

Robert kümmerte sich nicht darum, sondern ging einfach weiter. Er drehte sich auch nicht um, als er hinter sich Garcias Schritte hörte.

Garcia hatte ihn bald eingeholt. Auf Grund seines Übergewichts war er allerdings ziemlich außer Atem. Er wollte etwas sagen, aber zunächst kam nichts über seine Lippen.

„Ich spreche nur mit Mendez persönlich!“, stellte Robert klar. „Bestellen Sie ihm das!“

„Mendez lässt Sie grüßen!“

„Dafür kann ich mir nichts kaufen...“

„Es ist besser, wenn man Sie und Mendez nicht zusammen sieht.“

Robert verzog das Gesicht.

„Besser für ihn oder besser für mich?“

„Für Sie beide. Wenn eine Spur von Mendez zu Ihnen führt, könnte sie auch wieder zurück zu Mendez führen.“

„Ich bin kein Anfänger! Zu mir hat noch nie irgendeine Spur geführt!“

„Jedenfalls ist es das Beste, wenn kein Zusammenhang zwischen Ihnen und Mendez sichtbar werden kann.“

Garcia holte dann einen braunen Umschlag aus der Innentasche seiner Jacke hervor, blickte sich sorgfältig nach allen Seiten um und gab ihn dann dann.

„Machen Sie das nicht ein wenig auffällig?“, murmelte Robert, während er den Umschlag wie beiläufig einsteckte. „Wenn ich mir das Material angesehen habe, werde ich Mendez anrufen und ihm meinen Preis sagen.“

„Gut.“

„Sonst noch etwas?“

„Nein. Das heißt...“

„Was?“

„Mendez sagt, es darf nicht danebengehen. Es hängt viel davon ab und...“

„Keine Einzelheiten, bitte. Ich will das gar nicht wissen.“

„Wie Sie wollen.“ Garcia zuckte mit den Schultern. „Mendez will Sie, weil er Sie für den Besten hält!“

„Das bin ich auch!“

„Er kann es sich nicht leisten, dass Sie versagen!“

„Das werde ich auch nicht, Garcia - oder wie immer Ihr Name auch sein mag.“

„Das ist gut.“

„Auf Wiedersehen.“

Sie gingen jeder ihrer Wege, und keiner von ihnen drehte sich noch einmal um. Robert schlenderte durch den Park und kickte dabei ein paar kleine Steinchen vor sich her. In seiner Jackentasche fühlte er den Umschlag.

Er würde sich den Inhalt später ansehen, wenn er wieder im Hotel war. Gedankenverloren schlenderte er weiter, so als wäre er irgendeiner der vielen Menschen, die hier nichts weiter taten, als ihren Sonntagnachmittag zu verbringen.

Er dachte an Elsa. Nur einen ganz kurzen Augenblick, aber dass er es jetzt überhaupt tat, sprach schon für sich.

Es konnte nicht für ewig sein, das war klar.

Aber strenggenommen ging es bereits viel zu lange. Die Sache musste beendet werden, doch Robert hatte wenig Neigung dazu.

Es scheint ganz so, als hätte es mich erwischt, dachte er stumm.

Ein quietschendes Saxophon riss ihn aus seinen Gedanken. Er blickte hoch und sah einen bärtigen Enddreißiger, der eine etwas eigenwillige Interpretation von „Take Five“ gab.

Roberts Rechte fuhr in die Hosentasche und suchte nach Geld.

In der Tasche waren nur Scheine. Er nahm einen und legte ihn dem Musiker in den aufgeklappten Saxophonkoffer, in dem bisher nur Münzen waren.

Dann machte sich Robert auf den Rückweg zu einem Hotel. Es war bereits dunkel, als Robert noch einmal sein Zimmer verließ. Den Portier, der jetzt an der Rezeption Dienst hatte, kannte er noch nicht. Rund um die Uhr hing irgend jemand hinter dem Tresen, aber die meisten waren Aushilfskräfte, die den Job nur kurze Zeit machten.

Wahrscheinlich kannten sie sich gegenseitig kaum oder überhaupt nicht. Und vermutlich hatte auch kaum einer von ihnen einen Überblick über die Gäste.

Robert grinste matt, als er sah, dass der Portier, der im Augenblick Dienst hatte, den Kopf auf den Tresen gelegt hatte und laut und vernehmlich schnarchte.

Das ist es, was an diesem Hotel so liebenswert ist, dachte er nicht ohne Sarkasmus. Er ging an dem Schlafenden vorbei, ohne ihn zu wecken und ohne den Zimmerschlüssel zu hinterlegen. Einen Moment später befand er sich dann bereits draußen.

Die Luft war jetzt besser und frischer als am Tag. Er atmete tief durch.

Er schlenderte ein bisschen die Straße entlang, scheinbar ziellos. Er sah ein paar kleinere Geschäfte, die mit massiven Metallgittern verbarrikadiert waren. In einer Bar war noch Leben.

Als Robert durch die Tür kam, musste er einigen schwankenden Gestalten ausweichen, die offensichtlich nicht mehr ganz Herr ihrer Bewegungen waren.

In der Bar lief ein Fernseher mit dröhnender Lautstärke, obwohl niemand hinzusehen schien. Ein paar Männer konzentrierten sich auf ein gutes Dutzend bunter Kugeln, die auf einem Billardtisch hin und her schossen.

Robert wandte sich an den Mann hinter dem Schanktisch, der große, hervorquellende Augen hatte und ziemlich müde wirkte. Robert fragte ihn nach einer Telefonzelle. Der Mann hinter dem Schanktisch wusste aber offensichtlich nicht Bescheid und wandte sich seinerseits an die Männer am Billardtisch. Die konnten Robert weiterhelfen.

Wenig später war Robert wieder draußen auf der Straße. Die Beschreibung, die er bekommen hatte, war einigermaßen präzise, und so ging er eiligen Schrittes um eine Straßenecke und dann um noch eine, und dann war die Zelle zu sehen.

Robert suchte seine Münzen zusammen, wählte eine Nummer und nahm den Hörer ans Ohr.

„Mendez?“

Eine kurze Pause.

Dann: „Ich nenne Ihnen jetzt meinen Preis. Ich habe mir das Material genau angesehen, das mir Ihr Kurier übergeben hat. Die Sache ist machbar, aber nicht ganz billig.“

„Wie viel?“, kam es knapp aus dem Hörer.

„100 000. Das ist mein Preis.“

Auf der anderen Seite der Leitung herrschte ein paar Augenblicke lang ein Schweigen, das unterschiedlich interpretiert werden konnte.

„Ich schätze, Sie sprechen nicht von 100 000 Peseten!“

„Nein, Schweizer Franken. Die Hälfte davon im voraus.“

„Wie soll die Geldübergabe vonstatten gehen? Ich könnte sogar eine Barzahlung arrangieren. Ich habe eine schwarze Kasse...“

„Nein, kein Interesse. Überweisen Sie die ersten 50 000 in den nächsten Tagen auf mein Konto in Zürich. Ich gebe Ihnen die Nummer gleich durch. Die zweite Hälfte ist dann bei Erledigung fällig.“

„Sie verlangen ein hohes Maß an Vertrauen von mir, finden Sie nicht auch?“