Juwelen, Mörder, Tote - Sechs Extra Krimis Juni 2018

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8


Elsa saß im Wohnzimmer und las in einer Zeitung. Die Glastür zur Terrasse stand offen. Von draußen war das Knattern eines Rasenmähers zu hören, den Aziz auf der Grünfläche umherschob.

Als Elsa dann für einen Moment aufblickte, sah sie etwas schier Unglaubliches, etwas, das ihr den Atem zu rauben drohte.

Aziz ließ den Rasenmäher los, seine Augen waren vor Schreck geweitet. Dann bildete sich auf seiner Stirn ein roter Punkt, der rasch größer wurde. Ein Ruck ging durch seinen Körper. Er wurde nach unten gerissen und blieb der Länge nach im Gras liegen. Der Marokkaner rührte sich nicht mehr.

Das alles ging sehr schnell, zu schnell um noch irgend etwas unternehmen zu können. Und vor allem geschah es lautlos.

Elsa sprang auf.

Hinter der Hausecke tauchte jetzt ein dunkel gekleideter Mann auf, in dessen rechter Hand sich eine automatische Pistole mit Schalldämpfer befand.

Und dann tauchte noch ein zweiter auf, ebenfalls mit einer Schalldämpfer-Pistole ausgerüstet. Die beiden stürmten am Pool vorbei auf die Terrassentür zu.

Eine Schrecksekunde lang stand Elsa wie gelähmt da. Dann schnellte sie rückwärts, in Richtung Haustür. Als sie durch den Flur kam, riss sie im Vorbeilaufen den Schlüssel des Landrovers vom Haken.

Sie hatte den Wagen vor der Tür abgestellt. Wenn sie großes Glück hatte, konnte sie es vielleicht bis dorthin schaffen und mit dem Landrover flüchten.

Als sie die Haustür aufriss, wirbelte sie kurz herum und blickte in ein hartes, narbiges Gesicht. Sie musste unwillkürlich schlucken.

In den Augen ihres Gegenübers sah sie ihren Tod. Warum nur?, dachte sie verzweifelt. Was wollten diese Männer von ihr? Was suchten sie hier?

Die Pistole mit dem Schalldämpfer schnellte hoch. Der Killer legte nur kurz an und feuerte, aber Elsa hatte sich rechtzeitig aus der Schusslinie gebracht. Nur ein Klicken war zu hören, dann schlug das Projektil glatt durch die Haustür.

Kein Schussgeräusch war zu hören. Es war gespenstisch.

Elsa rannte los und hörte hinter sich die Schritte ihre Verfolgers. Sie hatte die Tür instinktiv hinter sich zugeknallt, und dann war sie auch schon beim Landrover.

Wenig später saß sie hinter dem Steuer. Der Zündschlüssel hinein und herumgedreht, der Motor sprang an. Gleichzeitig ging die Haustür auf, und der Narbige kam heraus.

Ein zynisches Grinsen spielte um seine dünnen, blutleeren Lippen, als er erneut die Waffe hob, diesmal ganz langsam und ruhig, ohne den geringsten Anflug von Eile oder gar Hektik. Er war sich seiner Sache sehr sicher.

Elsa setzte den Wagen ruckartig zurück, während eine Kugel durch das Glas der Frontscheibe ging und dann den Beifahrersitz aufriss.

Großer Gott!, durchfuhr es sie. Kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn und lief ihren Rücken hinunter. Ihre Knie zitterten, und ihre Hände schienen mit einem Mal völlig kraftlos zu sein.

Sie war mit dem Wagen auf ein Rasenstück gefahren. Jetzt legte sie den Vorwärtsgang ein und riss das Lenkrad herum. Der Narbige zielte schon wieder. Noch im letzten Moment konnte sie hinter das Armaturenbrett tauchen, als erneut eine Kugel durch den Wagen pfiff. Diesmal war der Schuss von der Seite gekommen und hatte beide Seitenscheiben zertrümmert.

Nur ja nicht die Nerven verlieren!, dachte sie. Sie trat kräftig auf das Gaspedal, und der Landrover brauste voran. Vor ihr lag das geschlossene, gusseiserne Tor.

Einen Moment zögerte sie, aber als der nächste Schuss - diesmal von hinten - knapp an ihr vorbeipfiff, wusste sie, dass ihr keine andere Wahl blieb. Sie raste auf das Tor zu.

Meine letzte Chance!, dachte sie. Wenn das Tor aus seinen Halterungen herausbricht, geht es vielleicht gut. Und wenn nicht... Sie wagte nicht, diesen Gedanken zu Ende zu denken.

Elsa trat das Gaspedal durch, und ein paar Sekunden später krachte es furchtbar. Sie wurde nach vorne geschleuderte. Das Lenkrad presste sich unangenehm gegen ihren Bauch, irgendwo schlug sie mit dem Kopf an und war einen Augenblick lang benommen.

Das Tor hatte gehalten, so viel dämmerte ihr. Sie stöhnte.

Als sie den Kopf hob, blickte sie direkt in den Schalldämpfer ihres Verfolgers. Sie zitterte, als der Mann die Waffe durchlud und an ihren Kopf setzte. Sie war unfähig, irgend etwas zu tun. Statt dessen saß sie hinter dem Lenkrad und starrte ihr Gegenüber an wie das Kaninchen die Schlange. Der Puls ging ihr bis zum Hals.

Sie schloss die Augen. Aus dem Hintergrund drang die Stimme des zweiten Mannes. Es klang Italienisch und war wohl so etwas wie ein Befehl. Elsa verstand kein Wort.

Der Narbige verzog seine dünnen Lippen zu einer merkwürdigen Grimasse. Elsa spürte den Druck des Schalldämpfers gegen ihren Kopf und schluckte. Sie machte die Augen wieder auf und wunderte sich darüber, noch am Leben zu sein. Ihr Atem ging jetzt schneller.

Der zweite Mann kam heran. Er sah besser aus, als der Narbige und hatte ein feingeschnittenes Gesicht, das von dichten schwarzem Haar und einem ebenso pechschwarzen Bart umrahmt wurde.

Der Narbige wandte den Blick zu seinem Komplizen, aber die Pistole blieb weiterhin auf Elsas Kopf gerichtet, auch wenn sich der Druck etwas abschwächte.

Sie wechselten ein paar Worte. Der Schwarzbart schien offenbar das Sagen zu haben. Der Narbige war nur ein Handlanger.

Elsa blickte ängstlich von einem zum anderen

Dann fragte der Schwarzbart in akzentbeladenem Englisch.

„Wo ist Steiner?“

Elsa verstand ihn nicht. In ihrem Kopf drehte sich alles. Sie wollte antworten, aber ihr Mund blieb stumm. So schüttelte sie nur den Kopf.

Der Narbige verstärkte den Druck seiner Waffe wieder.

„Du sollst antworten!“, zischte er.

„Ich kenne niemanden, der Steiner heißt!“, erklärte Elsa wahrheitsgemäß.

Der Narbige holte zu einer schnellen Bewegung aus und schlug Elsa seitlich mit der Pistole ins Gesicht. Blut tropfte ihr aus der Nase.

„Du lügst!“, zischte er dann. „Steiner wohnt hier.“

Langsam begriff Elsa. Diese Kerle suchten Robert; aus welchem Grund auch immer.

Der Schwarzbart bedeutete seinem Komplizen, es erst einmal dabei bewenden zu lassen. Elsa wurde roh aus dem Auto herausgezerrt. Sie wagte nicht, sich zu wehren. Es wäre auch zwecklos gewesen.

Die Männer packten sie, und so wurde sie zurück ins Haus geführt.

Als sie im Wohnzimmer ankamen, warfen sie Elsa auf die Couch.

„Ich würde Ihnen empfehlen, keine Dummheiten zu machen!“, meinte der Schwarzbart kalt. „Wir spaßen nicht. Sie bekommen eine Kugel in den Kopf, wenn Sie irgend etwas versuchen.“

Er sah sie scharf an. „Haben Sie mich verstanden?“

Elsa nickte.

„Ich will es hören!“

„Ja!“

„Gut so!“

„Was wollen Sie? Geld ist nicht besonders viel da, aber...“

„Wir wollen Steiner. Wo ist er? Vielleicht kennen Sie ihn unter einem anderen Namen. McCord? Jensen? Er benutzt noch ein paar weitere...“

Er griff in seine Jackentasche und legte Elsa ein Foto auf den Tisch. „Sehen Sie sich das an!“

Elsa zögerte erst. Dann schaute sie hin. Auf dem Bild war Robert.

„Dieser Mann wohnt hier, nicht wahr?“

Elsa antwortete nicht. Der Narbige trat unvermittelt vor und schlug ihr mitten ins Gesicht. Die Blutung in ihrer Nase, die gerade erst ein wenig zum Stillstand gekommen war, brach wieder auf. Elsa begann zu schluchzen.

„Es hat wenig Sinn, wenn Sie nicht mit uns zusammenarbeiten“, meinte der Schwarzbart ungerührt. „Wir werden ohnehin alles aus Ihnen herausbringen, was wir wissen wollen. Dafür haben wir unsere Methoden. Sie haben nicht die geringste Chance, merken Sie sich das. Vielleicht werden wir etwas Zeit verlieren, aber das ist auch alles...“

„Wo ist er?“, fragte der Narbige, der für das Grobe zuständig zu sein schien.

Elsa schluckte, wischte sich mit der Hand über die Wangen und die Augen und versuchte, mit ihrem Taschentuch das Nasenbluten aufzuhalten.

„Er ist nicht hier!“, sagte sie dann und fühlte sich scheußlich dabei. Sie hatte das Gefühl, Robert irgendwie zu verraten, obwohl sie wusste, dass es nicht so war.

Diese Männer wussten Bescheid. Sie wussten, dass Robert - oder wie immer sein wirklicher Name auch sein mochte - hier lebte.

„Das haben wir gemerkt“, erklärte der Schwarzbart kalt. Er musterte Elsa mit einem unangenehmen Blick, der alles zu durchdringen schien. „Etwas mehr musst du uns schon erzählen. Wo ist Steiner jetzt? Pardon, hier nennt er sich ja wohl Jensen und behauptet, Däne zu sein...“

„Ist er das denn nicht?“

„Nein. Aber die Fragen stelle ich.“

„Ich weiß nicht, wo er ist“, erklärte Elsa mit Nachdruck. Sie sah in die Gesichter der beiden Männer, und dann lief es ihr kalt den Rücken hinunter. Sie fühlte, dass diese beiden - wer oder was sie auch immer geschickt haben mochte - die geringste Rücksicht auf ihr Leben nehmen würden. „Es ist die Wahrheit, ich weiß wirklich nicht, wo er sich befindet... Das müssen Sie mir glauben!“

 

„Wir müssen gar nichts!“, meinte der Schwarzbart. „Hat er nichts gesagt? Ist vielleicht auf einer seiner... Geschäftsreisen?“

Das letzte Wort sagte er in einem seltsamen Tonfall. Etwas stimmte da nicht, Elsa fühlte es ganz deutlich.

„Ja“, murmelte sie.

„Wer sind Sie?“

„Mein Name ist Elsa Karrendorf.“

„Deutsche?“

„Ja.“

„Und was machen Sie hier in Steiners Haus?“

„Ich lebe hier.“

„Kennen Sie Steiner aus Deutschland?“

„Nein. Ich habe ihn hier in Tanger kennengelernt. Ich bin seit ein paar Wochen mit ihm zusammen, das ist alles. Warum fragen Sie? Ist Steiner - wie Sie ihn nennen - etwa in Wahrheit Deutscher?“

Das würde erklären, weshalb er die Sprache so vorzüglich spricht, überlegte Elsa still. Der Schwarzbart zuckte mit den Schultern.

„Er spricht sehr gutes Deutsch, habe ich gehört. Aber das gilt auch für ein halbes Dutzend anderer Sprachen. Steiner ist wie ein Chamäleon, das sich überall perfekt anzugleichen versteht. Er wechselt Aussehen, Name und Nationalität nach Belieben. Kein Mensch weiß, wer er wirklich ist. Das heißt...“

„Was?“

„Vielleicht wissen Sie es.“

„Nein. Ich kenne einen Mann namens Robert Jensen. Sonst weiß ich nichts. Ich habe nicht die geringste Ahnung, was hier gespielt wird.“

„Ist Steiner noch in Marokko?“

„Nein.“

„Hat er sich irgendwann gemeldet?“

Als Elsa nicht sofort antwortete, drückte der Narbige ihr wieder die Pistole an den Kopf. Der Druck war unangenehm. Sie schluckte und fasste sich dann. Es hatte alles keinen Sinn, sie musste diesen Männern irgend etwas vorsetzen, irgendeinen Brocken, den diese Wölfe verschlingen konnten... Und vielleicht, wenn sie sehr viel Glück hatte, würden sie sich damit zufrieden geben... Vielleicht...

„Ja, er hat einmal angerufen.“

„Von wo aus?“

Sie überlegte kurz. „Italien. Ich glaube, es war Mailand.“

Ohne Vorwarnung verpasste der Narbige ihr einen furchtbaren Schlag.

„Sie lügen!“, kommentierte der Schwarzbart. Die beiden Männer schien fast so etwas wie Gedankenübertragung zu verbinden. Sie verstanden sich blind und ohne ein Wort. Aber vielleicht lag es auch nur daran, dass Elsa nichts von dem wirklich verstand, was hier vor sich ging.

„Warum sollte ich lügen?“

„Steiner weiß genau, dass er ein toter Mann wäre, sobald er sich in Italien blicken ließe... Nein, das würde er nicht wagen! Also, von wo aus hat er sich gemeldet?“

„Brüssel.“

Es war ihr gerade so eingefallen, und sie dachte, dass es Robert vielleicht half. Dann kam ihr in den Sinn, dass sie im Grunde genommen gar nicht wusste, bei was für einer Sache sie dem Mann half, den sie liebte.

Ich liebe ihn, und das sollte genügen, dachte sie. Aber genügte es wirklich?

„Wann kommt er zurück?“

„Ich weiß es nicht.“

„Natürlich wissen Sie es!“

„Nein, er sagte, dass er das nicht so genau voraussagen könnte. Vielleicht eine Woche, meinte er...“

Der Schwarzbart nickte nachdenklich.

Der Narbige sagte ein paar Sätze auf Italienisch, gestikulierte mit der Pistole in der Hand herum und deutete dann auf Elsa.

Der Schwarzbart runzelte erst die Stirn, dann schüttelte er den Kopf und erwiderte etwas. Der Narbige schien mit der Antwort nicht ganz einverstanden zu sein, aber er spielte hier eindeutig die zweite Geige und hatte zu tun, was befohlen wurde.

Er warf Elsa einen grimmigen Blick zu, stieß einen italienischen Fluch in ihre Richtung aus und ging dann durch die Terrassentür hinaus ins Freie.

Elsa blickte ihm nach und sah, wie er sich an Aziz' reglosem Körper zu schaffen machte, der nach wie vor draußen auf dem Rasen lag.

Der Rasenmäher knatterte noch. Der Narbige stellte ihn ab. Dann packte er den Marokkaner unter den Armen und begann, ihn in Richtung Haus zu schleifen.

„Was haben Sie vor?“, fragte Elsa den Schwarzbart unterdessen. „Wollen Sie mich auch umbringen? So wie Aziz?“

Der Schwarzbart deutete hinaus zu seinem Komplizen. „Mein Freund meinte, dass es an der Zeit wäre, Sie über den Jordan zu schicken...“

Elsa stockte der Atem. Aber ihre Gedanken blieben trotz allem klar, was sie überraschte. Sie hatte große Furcht, aber sie hatte auch nichts mehr zu verlieren.

„Und was haben Sie vor?“

„Wir werden Sie erst einmal am Leben lassen. Vielleicht haben wir noch Verwendung für Sie.“

„Was soll das heißen?“

„Dass Sie eine Chance haben, aus dieser Sache lebend herauszukommen - falls Sie mit uns kooperieren.“

„Warum suchen Sie...“, sie zögerte einen Moment, ehe sie den fremden Namen aussprach, „...Steiner.“ Es klang in ihren Ohren, als spräche sie von einen Fremden. Aber es war Robert, um den es hier ging.

Der Schwarzbart wandte sich ab. Er antwortete nicht. Erst als der Narbige mit dem toten Aziz durch die Terrassentür kam, sagte er endlich etwas.

„Wir werden hier auf Steiner warten“, meinte er - aber das war nicht die Antwort auf Elsas Frage.

„Und wenn er hier auftaucht?“

Der Schwarzbart zuckte mit den Schultern.

„Sie werden ihn umbringen, nicht wahr?“ Es war im Grunde kaum noch eine Frage, Elsa war sich ziemlich sicher, dass es so war. Es erschien ihr logisch.

Der Schwarzbart schwieg.

Elsa blickte in das starre, tote Gesicht von Aziz, der ausgestreckt auf dem Steinfußboden lag. Seine Augen waren weit aufgerissen, und sie sah das Loch mitten auf der Stirn, aus dem bereits ziemlich viel Blut gesickert war.

Der Narbige untersuchte die Leiche. Er schien nach Waffen zu suchen und tastete Aziz dementsprechend ab. Schließlich schüttelte er den Kopf und sagte etwas zu dem Schwarzbart.

„Was ist das für einer?“, fragte er schließlich, an Elsa gewandt.

„Er hat sich um den Garten gekümmert!“ Elsas Stimme zitterte vor Zorn, als sie das sagte. Sie konnte ihn nicht unterdrücken, er schwang einfach in jedem Ton mit, der über ihre Lippen kam. „Er war unbewaffnet.“

„Das konnten wir nicht wissen.“

„Hätte es etwas geändert, wenn Sie es gewusst hätten?“

Der Schwarzbart zuckte wie beiläufig mit den Schultern. „Vermutlich nicht.“




9


Robert stieg den steilen Hang noch etwas hinunter. Unten standen vornehme Ferienhäuser, und dahinter schimmerte das Mittelmeer.

Er griff in seine Jackentasche und holte den brauen Umschlag hervor, den Garcia ihm in Madrid gegeben hatte. Er griff hinein. Eine Karte, ein paar Fotos, ein paar Daten auf einem weißen Blatt Papier.

Er sah noch einmal auf die Karte, blickte sich dann um und ging weiter. Er war hier richtig, so glaubte er. Sein Orientierungssinn war immer schon gut ausgeprägt gewesen.

Es dauerte aber nicht allzu lange, da war sein Weg plötzlich zu Ende, und es ging so steil hinunter, dass an einen weiteren Abstieg nicht zu denken war. Innerlich fluchte er.

Robert blickte hinüber zu einem der Häuser und verglich es mit seinen Fotos. Er war richtig hier, kein Zweifel. Dann schätzte er die Entfernung ab. 100 Meter waren es bis zur Terrasse. Vielleicht auch 120 oder 140, das war so genau nicht zu sagen. Aber es würde genügen.

Näher würde er kaum herankommen, aber diese Stelle war gar nicht schlecht. Robert sah einen Mann im Garten des Hauses, nahm seinen Feldstecher, und dann verglich er das Gesicht des Mannes mit einem Foto aus dem braunen Umschlag.

Morgen würde er wieder in Paris sein. Er würde den Abendzug von Marseille aus nehmen.

Robert drehte sich um und ging denselben Weg zurück, den er gekommen war. Irgendwo weiter oben, wo eine Landstraße in Serpentinen verlief, hatte er einen Leihwagen abgestellt. Der Wagen stand in einer Kurve, er musste sehen, dass er dort wegkam. Ein Unfall und viel Aufsehen, das war das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte.

Robert stieg schnell in den Wagen und brauste davon. Am nächsten Tag war er wie geplant in Paris und suchte Bernard in seinem Geschäft auf.

Unglücklicherweise waren Kunden im Raum. Ein paar Teenager, die sich für den CD-Player interessierten, ihn lange begutachteten, aber letztlich doch wohl nicht genug Geld bei sich hatten, um ihn sich leisten zu können.

Sie versuchten zu handeln, aber Bernard wollte nicht mit sich handeln lassen, und so zogen sie schließlich ab. Aber bis dahin dauerte es eine Weile, Robert ging unruhig im Laden auf und ab, sich scheinbar für dies und jenes interessierend, in Wahrheit wartete er aber nur darauf, dass die Jugendlichen endlich den Raum verließen. Als sie hinaus waren, wandte er sich sofort an Bernard.

„Na, wie stehen die Aktien?“ Robert war die Anspannung deutlich anzumerken war.

„Alles ist gut für dich gelaufen“, meinte Bernard lakonisch.

„Dann hast du die Sachen auf der Liste bekommen können?“

„Ja.“

„Alles?“

„Ja.“

Bernard ging hinter den Tresen und holte ein Paket hervor, das er Robert hinschob. Er wollte es öffnen, aber Bernard legte ihm die Hand auf den Arm und schüttelte den Kopf.

„Nein, nicht hier.“

„Wieso?“

„Ich will es einfach nicht. Du kannst es öffnen wo immer du willst, aber nicht hier. Wenn etwas nicht in Ordnung ist und du dich beschweren willst, kannst du ja wiederkommen.“

Robert zuckte mit den Schultern.

„So vorsichtig bist du doch sonst nicht gewesen!“

„Jetzt bin ich es aber. Wann bekomme ich übrigens mein Geld? Der Mann, der diese Dinger herstellt, wartet nicht gerne auf seine Kohle!“

Robert griff in sein Jackett und holte ein Bündel mit Geldscheinen heraus.

„Es ist sogar eine Bauanleitung dabei“, versicherte Bernard. „Jedenfalls hat man mir das gesagt.“

„Ich hoffe, dass ich sie nicht brauche...“

„Du wirst sie brauchen. So einfach ist es nämlich nicht zusammenzusetzen. Aber mit ein bisschen technischem Verstand! Du bist ja schließlich kein Anfänger.“

Für die Nacht hatte sich Robert in einer Absteige in der Nähe des Gare d'Austerlitz einquartiert.

Das Fenster war undicht, und von draußen dröhnte der Autoverkehr. In mehr oder weniger regelmäßigen Abständen donnerten zusätzlich die Züge über die Gleisanlagen. Es würde eine unruhige Nacht werden, aber schließlich war dies ja auch kein Erholungsaufenthalt.

Robert legte das Paket neben seinen Koffer auf das Bett und machte sich sogleich daran, es auszupacken.

Er sah ein paar Stangen, eine Nylon-Schnur, viele Schrauben und Schienen aus Metall... Und eine kurze Anleitung, wie er das alles zusammenzusetzen hatte.

Ich werde es in Einzelteilen in den Süden mitnehmen!, dachte er. So würde er kein Aufsehen erregen. Aber dann musste er es dort zusammensetzen, und das musste ziemlich schnell gehen.

Er würde es also üben müssen, dieses Ding mit schnellen Handgriffen zusammenzusetzen und wieder auseinanderzulegen. Aber das konnte kein allzu schwieriges Problem zu sein.

Am nächsten Tag fuhr Robert zurück in den Süden. Auch diesmal nahm er einen Leihwagen, allerdings von einer anderen Firma.

Er stellte den Wagen in derselben Kurve ab, wie bei seinem ersten Besuch. Auf dem Rücksitz hatte er eine Sporttasche, die er mitnahm, als er ausstieg und den Hang hinunterging.

 

Wenig später hatte er eine günstige Position erreicht. Er sah den Bungalow und jenen Mann vom Foto, das ihm Garcia gegeben hatte. Der Mann lag auf der Terrasse und und las in einer Illustrierten.

Und dann war da auch noch eine Frau, die kurz aus dem Inneren des Bungalows kam, anscheinend ein paar Worte mit dem Mann wechselte und wieder im Haus verschwand.

Robert atmete ruhig und regelmäßig. Er öffnete die Sporttasche, holte seinen Feldstecher hervor. Mit geübten Bewegungen steckte er die Metallteile zusammen, die sich in der Tasche befanden. Es wurde eine Armbrust. Zuletzt befestigte er das Zielfernrohr.

Schließlich setzte er das Projektil ein, legte an und feuerte, als sich der Mann auf der Bungalow-Terrasse mitten im Fadenkreuzes befand.

Durch das Zielfernrohr sah Robert, dass er getroffen hatte. Der Mann sackte leblos zusammen. Robert hatte ihn in die Brust getroffen - aber selbst wenn es nur der Arm gewesen wäre, wäre er jetzt tot gewesen, denn das Projektil war vergiftet.

Robert zerlegte die Armbrust wieder in ihre Bestandteile und packte sie sorgfältig in die Sporttasche ein.

Für sich genommen wirkten die Teile völlig unverdächtig. Robert würde sie in Paris in die Seine werfen.

Es gab keine Spuren, die die Polizei oder irgend jemanden in seine Richtung führen konnten. Ja, es würde nicht einmal eine Tatwaffe geben!

Robert sah ein letztes Mal hinunter zum Bungalow. Die Frau war wieder hinausgetreten und hatte bemerkt, was geschehen war. Sie schlug die Hände vor das Gesicht und beugte sich dann über den Toten. Aber da war natürlich nichts mehr zu machen.

Robert stieg unterdessen schon wieder den Hang hinauf.