Hetzjagd im All

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Ich trat in den breiten Korridor, der sich daran anschloß.

Helles Kunstlicht mit einem ungewöhnlich hohen Weiß-Anteil herrschte hier. Irgendwie passte das zu diesen Lichtjüngern, fand ich. An den ansonsten völlig weißen Wänden waren mit schwarzer Farbe große, augenartige Gebilde aufgemalt, die mich entfernt an die Graffiti-Kunst des frühen einundzwanzigsten Jahrhunderts erinnerten, wie sie an einem Ort namens Bronx angeblich existiert hatte. (Andere waren der Auffassung, daß die Bronx nur ein Mythos war.)

In weiße Gewänder gehüllte Männer und Frauen kamen mir entgegen. Sie waren völlig haarlos. Das grelle Licht spiegelte sich auf ihren kahlrasierten Köpfen.

Die Lichtjünger starrten durch mich hindurch.

Die schlichte Ausgestaltung des Korridors stellte an den Rechner des Deflektors keine größeren Anforderungen, wie es etwa komplizierte Intarsien oder Ornamente getan hätten. Ich brauchte mir also kaum Sorgen zu machen. Diese Leute konnten mich definitiv nicht sehen.

Ich ging an den Lichtjüngern mit ihren eigenartig verklärten Gesichtern vorbei. Mir fiel auf, daß ihre weißen Gewänder raschelten.

Ich mich beeilen mußte.

Die energetischen Anomalien, die mein Deflektorschirm verursachte, waren zwar nur minimal, aber je nachdem wie lückenlos hier die Kontrolle war, würde das früher oder später auffallen. Ich hoffte später. Spät genug, um hier wieder verschwinden zu können, bevor jemand auf mich aufmerksam geworden war.

Ich setzte meinen Weg fort, die langen Korridore entlang. Antigravschächte gab es auf Makatua nicht, nur altmodische Aufzüge. Ich gelangte eine Etage tiefer. In meiner Augenanzeige wurde mir der Gang angegeben, den ich zu nehmen hatte, um Brindon Jarvus' Zelle zu erreichen.

Ich erreichte schließlich mein Ziel.

Zwei Wächter standen vor der Zellentür.

Beide bewaffnet. Sie trugen Nadelpistolen an weißen Gürteln, die sich fast gar nicht von ihrer Kleidung abhoben. Ihre haarlosen Gesichter hatten denselben gleichmütigen Gesichtsausdruck wie er mir bisher bei allen Mitgliedern dieser Sekte begegnet war.

Glückseligkeit oder Verblödung. Die Entscheidung war nicht ganz leicht. Ich entschied mich dafür, das zweite anzunehmen, Denn sonst wäre ich gezwungen gewesen, mein eigenes Leben viel radikaler in Frage zu stellen, als es mir lieb war.

Und dennoch, der Strom der Gedanken war nur schwer zu bändigen.

Warum tust du das, Dak Morley?

Warum hältst du deinen Kopf für Angelegenheiten hin, die dich nichts angehen? Warum entführst du einen jungen Kerl, bei dem du dir letztlich noch nicht einmal hundertprozentig sicher sein kannst, ob er nicht hier sein Glück gefunden hat und sein Vater dich an der Nase herumführt beziehungsweise dir sogar gefaketes Datenmaterial überlassen hat?

Ich versuchte diese Gedanken davonzuscheuchen.

Jetzt war einfach ein unpassender Moment für Selbstzweifel.

Solche Anfälle von Grübelei in ungünstigen Momenten wären dir früher nicht passiert, Dak Morley! ging es mir durch den Kopf. Wird Zeit aufzuhören, Dak! Das ist ein ziemlich sicheres Zeichen dafür.

Ich hatte keine andere Wahl, redete ich mir ein. Das Datenmaterial bei GADRAM...

Aber hatte ich nicht weit brenzligere Situationen bereits gemeistert. Was hätte dagegen gesprochen, einfach mit Sorana zusammen irgendwo anders neu anzufangen? Das nötige Kleingeld hatte ich. Natürlich hätte das vorausgesetzt, Sorana in Bereiche meines Lebens einzuweihen, von denen sie bislang nur grobe umrisse ahnen konnte.

Ich atmete tief durch.

Alles Blödsinn, dachte ich. 200 000 Galax bekam ich für den Job. Und das war ein guter Grund, um alles zu tun.

Ich nahm den Strahler und feuerte ihn ab.

Der erste Wächter sank getroffen zu Boden. Der Ausdruck der Überraschung stand noch auf seinem Gesicht, als er in sich zusammensackte.

Der zweite wirbelte herum, griff nach seinem Nadler.

Die meisten Standard-Nadelgeschosse waren absolut tödlich. Ich mußte zusehen, keinen Treffer abzubekommen, denn dann war diese Mission zu Ende noch ehe sie richtig begonnen hatte.

Der Wächter riß seine Waffe empor. Er begriff offenbar, daß er jemanden vor sich hatte, der einen Deflektor-Gürtel trug. Die Dinger waren aufgrund ihres enormen Anschaffungspreises zwar selten, aber immerhin so häufig, daß jeder wußte, daß es sie gab und wie ihre Wirkungsweise war.

Der Wächter zielte auf jenen Punkt, an dem er zuvor meinen Strahler hatte aufblitzen sehen.

Ich erwischte ihn um den Sekundenbruchteil früher. Er rutschte an der Wand zu Boden, ohne den Nadler abgefeuert zu haben.

Ich wandte mich der Tür zu, holte den Decoder hervor, um sie zu knacken. Fünf Sekunden später öffnete sich die Tür.

Ich trat in die Zelle. Brindon lag auf seiner Pritsche. Er drehte den Kopf in meine Richtung. Ich erkannte sein Gesicht von den Holo-Files her, die sich unter dem Datenmaterial befunden hatten, daß Palmon Jarvus mir überlassen hatte. Brindon sah wie eine jüngere Kopie seines Vaters aus.

Er hob etwas den Kopf, versuchte die Arme zu bewegen, stieß dabei aber an eine unsichtbare Barriere.

Ein Energiefeld fesselte ihn an sein Bett.

Sein Blick irrte suchend umher. Er sah nur die offene Tür und die Füße der betäubten Wächter. Sonst nichts.

Ich deaktivierte meinen Deflektor.

Er erschrak. Sein Mund stand weit offen, seine Augen ebenfalls. Er wirkte wie erstarrt.

"Brindon Jarvus? Können Sie mich verstehen?"

Ich war mir nicht sicher, ob das Energiefeld ihn auch akustisch abschirmte.

Er nickte.

"Ja."

"Ihr Vater schickt mich, um Sie hier herauszuholen. Tun Sie einfach alles, was ich Ihnen sage."

"In Ordnung."

Er stemmte sich gegen das Energiefeld, daß ihn wie ein gläserner Sarg umgab.

"Lassen Sie das", wies ich ihn an. Mit dem Decoder war es für mich kein Problem, das Feld abzuschalten. Ein paar Sekunden später war Brindon frei. Der junge Mann erhob sich etwas unsicher von der Liege.

Ich schnallte meinen zweiten Deflektor-Gürtel ab und reichte ihm das Ding. "Schnallen Sie sich das um."

"Ein Deflektor?"

"Ja. Und beeilen Sie sich. Die Tatsache, daß ich das Energiefeld abgeschaltet habe, wird uns gleich unangenehmen Besuch bescheren."

"Okay."

"Besitzen Sie einen CyberSensor?"

"Nein. Das ist gegen unseren Glauben. Der Mensch soll kein Anhängsel einer Maschine werden."

Ich holte einen dieser kleinen Apparate aus der Seitentasche meiner Kombination. "Nehmen Sie den hier", schlug ich ihm vor. "Wir werden darüber Kontakt halten. Außerdem ist das Gerät so programmiert, daß Sie mich sehen können, auch wenn der Deflektor aktiviert ist."

Schließlich wollte ich auf keinen Fall, daß mein Schützling mich verlor.

Brindon hob abwehrend die Hand.

"Tut mir leid", sagte er kopfschüttelnd.

Ein dünnes Lächeln schien auf meinem Gesicht. "Ich weiß nicht, ob wir ihre religiösen Bedenken jetzt ausdiskutieren sollten. Es geht um ihr Leben, Brindon. Und nebenbei bemerkt: um das meinige ebenfalls."

"Darum geht es nicht", widersprach er mir.

"Ach, und worum dann?"

"Ich habe keine Buchse mehr, um den CyberSensor zu installieren."

"Mein Gott..."

"Wurde chirurgisch entfernt."

"Hätte ich mir ja denken können..."

"Wir werden ohne künstliche Bestandteile als Ebenbilder Gottes geboren..."

"...dann halten Sie einfach meine Hand fest!"

Er nickte.

*

Wir traten mit aktivierten Deflektoren auf den Flur.

Ein halbes Dutzend weißgekleideter Bewaffneter stürmten den Korridor entlang, direkt auf die Zellentür zu. Sie konnten uns nicht sehen. Brindon und ich hielten uns dicht an der Wand, um nicht versehentlich mit einem von ihnen zusammenzustoßen.

Die Lichtjünger kümmerten sich um die betäubten Wächter, sahen sich in der Zelle um und suchten etwas orientierungslos nach ihrem verschwundenen Gefangenen.

Ich bezweifelte, daß diese Leute überhaupt schon begriffen hatten, was geschehen war. Und ich setzte darauf, daß sie es erst verstehen würden, wenn Brindon und ich längst in Sicherheit waren.

Wir erreichten einen Aufzug.

In einem günstigen Moment ließen wir uns von ihm auf jene Etage tragen, auf der sich die Transmitterstation befand.

Ich zählte die Sekunde, bis sich die Schiebetür automatisch vor uns öffnete.

Ein entscheidender Moment. Und ein gefährlicher dazu, selbst für zwei Männer, die im Augenblick unsichtbar waren.

Ich starrte in den Korridor, über den wir in wenigen Augenblicken zur Transmitterstation hätten gelangen können. Aber offenbar waren uns unsere Gegner inzwischen einen Schritt voraus.

Im Korridor wartete ein halbes Dutzend Lichtjünger auf uns.

Sie hielten Nadler im Anschlag, deren Mündungen direkt auf uns zeigten -- in eine leere Aufzugkabine, aus ihrer Sicht.

Aber das hinderte sie nicht daran, sofort zu feuern. Offenbar waren die leichten energetischen Schwankungen, die unsere Deflektorschirme verursachten registriert worden, was bedeutete, daß unsere Gegner uns möglicherweise sogar genau orten konnten.

Im übrigen hatten sie inzwischen vielleicht festgestellt, daß ein Eindringling über den Transmitter in den Gebäudekomplex gelangt war. Es lag auf der Hand anzunehmen, daß der dann auch beabsichtigte, sich mit Hilfe des Transmitters wieder davonzumachen.

Sie hatten uns also den Weg abgeschnitten.

Wir konnten von Glück sagen, daß die Lichtjünger waffentechnisch offenbar nicht so gut ausgestattet waren, daß sie die wirkungsweise unserer Deflektoren neutralisieren konnten.

 

So feuerten sie mehr oder minder ungezielt auf uns.

Das erste Nadelgeschoß sirrte dicht an meiner rechten Schulter vorbei. Ich ließ mich seitwärts fallen, knallte mit der linken Schulter gegen die Wand und feuerte gleichzeitig mit dem Strahler einen kegelförmigen Breitband- Betäubungsstrahl ab. Die Umschaltung hatte ich per Mentalimpuls über meinen Cyber Sensor vorgenommen. Ich hoffte nur, daß die Energie richtig dosiert war. Der Breitbandstrahl hatte nicht dieselbe Intensität wie ein punktgenauer Treffer. Andererseits konnte ich davon ausgehen, daß von den weißgekleideten Lichtjüngern alle, die sich im Wirkungsbereich des Strahlenkegels befanden, den Betäubungseffekt zu spüren bekamen. Zumindest in Form einer leichten Benommenheit.

Aber für Brindon und mich reichte es, die weiß Gekleideten für den Bruchteil einer Sekunde auf Distanz zu halten.

Das gelang.

Brindon betätigte den Sensor, der bewirkte, daß sich die Schiebetür der Liftkabine augenblicklich wieder schloß. Wir hörten, wie sich von außen ein halbes Dutzend Nadelprojektile in die Außenseite der Tür hineinbohrten.

Es ging abwärts.

Brindon deaktivierte kurz seinen Deflektor, so daß ich ihn wieder sehen konne.

"Ich weiß nicht, ob es wirklich eine gute Idee war, Ihren Anweisungen zu folgen", meinte er.

"Und ich weiß nicht, ob es eine gute Idee Ihres Vaters war, Ihre Hilfeschrei-Mail ernst zu nehmen", erwiderte ich gallig.

Was bildete der Kerl sich ein? Zweifellos hatte er eine furchtbare Angst, aber ich dachte nicht daran, das ganze Unternehmen mittendrin abzublasen. Dazu bestand im übrigen gar nicht die Möglichkeit.

Brindon verzog das Gesicht zu einem dünnen Lächeln.

"Ich hoffe, Sie haben auch für diese Situation einen guten Plan", meinte er nicht ohne Sarkasmus.

Ich beschloß, darauf nicht weiter einzugehen. Stattdessen wies ich ihn an: "Schalten Sie Ihren Deflektor wieder ein und nehmen Sie meine Hand."

Er sah mich skeptisch an.

Der Aufzug raste hinab. Nur Sekunden, dann würde sich auf der nächsten Etage die Schiebetür automatisch öffnen. Ich beschloß, die Verbindung zwischen meinem CyberSensor und dem VXR-Gleiter wiederherzustellen. Eine eventuelle Peilung des Signals konnte mir jetzt nicht mehr gefährlich werden. Entdeckt waren wir ja bereits.

Ich ließ mir einen Scan des Gebäudebereichs anzeigen, in dem wir uns befanden. Fast das gesamte Gesichtsfeld meines linken Auges wurde davon ausgefüllt. Ich wählte eine schematische Darstellung in Form einer Art Rißzeichnung. Die Positionen aller Lebewesen war markiert, unsere eigene ebenfalls.

Wir näherten uns Etage 4.

Fünf Sekunden noch, vier, drei, zwei...

Die farbigen Markierungspunkte in dem 3-D-Gebäudeaufriss, der auf dem Gesichtsfeld meines linken Auges angezeigt wurde, sprachen eine eindeutige Sprache.

Sobald sich die Tür auf Etage 4 vor uns zur Seite schob, würden dort ein gutes Dutzend vermutlich bewaffneter Lichtjünger auf uns warten.

Noch eine Sekunde.

Ich griff nach der Notbremse.

Ziemlich ruckartig kam die Liftkabine zum Stehen. Brindon und ich stießen dabei gegeneinder, da wir uns gegenseitig nicht sehen konnten. Ich hatte Mühe, mich auf den Beinen zu halten.

"Hey, was soll das?" keifte Brindon ungehalten. Er deaktivierte seinen Deflektor. Sein ziemlich angespanntes Gesicht tauchte aus dem Nichts heraus auf.

"Wir müssen etwas anderes versuchen", erklärte ich. "Auf Etage 4 warten sie auf uns. Und im Moment sind zu allen Liftausgängen kleinere Gruppen dieser Lichtjünger unterwegs..."

Ich hatte keine Zeit für weitere Erklärungen, zumal unsere weitere Flucht einem Wettrennen gleichen würde. Ich hoffte nur, daß unsere Gegner es nicht schafften, auf sämtlichen Etagen die Liftausgänge schnell genug zu besetzen, um uns abzufangen.

Ich ging mit dem Decoder an den Steuerungsrechner der Liftkabine. Die Scan-Daten, die ich über den CyberSensor eingespielt bekam, verrieten mir, daß die Liftausgänge ab Etage 10 unbesetzt waren. Lange würde das mit Sicherheit nicht so bleiben.

Mit dem Decoder übernahm ich die Steuerung des Liftrechners.

Ich ließ ihn mit voller Energie hinauf schnellen.

Innerlich betete ich zu allen Göttern der Galaxis dafür, daß das es technisch nicht so leicht möglich sein würde, einer einzelnen Liftkabine die energie abzuschneiden.

Die Kabine raste hinauf.

Die Anzeige in meinem linken Auge zeigte mir an, in wieviel Sekunden wir Etage 10 erreichen würden.

Zehn Sekunden, neun Sekunden...

Noch war im 3-D-Gebäudeaufriß, der mir im wahrsten Sinne des Wortes vor Augen stand, kein Empfangskommando erkennbar, daß uns dort zu erwarten gedachte.

"Deflektor aktivieren!" forderte ich Brindon unmißverständlich auf. "Scheint, als hätten wir doch noch ein Schlupfloch gefunden!"

Zwei Sekunden, eine Sekunde...

Mit einem Ruck stoppte die Kabine. Ich hatte über den Decoder eine viel zu hohe Geschwindigkeit in den internen Rechner der Liftkabine einprogrammiert.

Die Schiebetür öffnete sich.

Mit der Linken umfasste ich Brindons rechte Hand, mit der Rechten hielt ich den Strahler. Er war nach wie vor auf Breitbeschuß eingestellt. Ich ließ den Lauf nach oben schnellen. Sicherheitshalber. Auch Sensoren und Scanner machten Fehler.

Aber es war tatsächlich niemand dort.

Wir stürzten in den Korridor.

Ich zerrte Brindon nach links.

"Dort hin!" rief ich.

Zur Linken erstreckte sich der Korridor noch etwa fünfzehn Meter weit, dann folgte eine Wand. Die runden, wie die Bullaugen eines antiken Schiffes aussehenden Fenster verrieten, daß es sich um eine Außenwand handeln mußte. Sonnenlicht fiel von außen hinein.

"Endstation", meinte Brindon.

"Wir gehen durch die Wand!" erwiderte ich.

"Was?"

"Kommen Sie!"

"Sie müssen verrückt sein!"

Aber es gab keine Alternative.

Die Anzeige auf meinem linken Auge verriet mir, daß ein Trupp der Lichtjünger sich von der anderen Seite her näherte.

Ich riß Brindon mit.

Wir erreichten nach wenigen Augenblicken die Außenwand.

Ich schaltete den Strahler auf reine Thermoenergie um, hob den Lauf und feuerte.

Der gebündelte Strahl brannte ein Loch in die Außenwand aus Metallplastik. Ich hatte die Waffe auf das höchste Level eingestellt. Ein beißender Geruch ließ mich das Gesicht abwenden.

Das Loch wuchs, ich schnitt ein Oval aus dem Metallplastik heraus. Es stürzte hinunter. Zehn Stockwerke tief.

"Was soll das werden?" fragte eine Stimme aus dem Nichts. Brindons Stimme. "Sie denken doch nicht etwa daran, durch dieses Loch zu flüchten."

"Wir werden springen", erklärte ich.

"Sie sind verrückt!"

Unterdessen traf der bewaffnete Trupp ein. Das erste Nadelgeschoß surrte dicht an mir vorbei. Sie schossen blind, Schließlich konnten sie uns nicht sehen. Nur von der Wirkung meines Strahlers konnten sie ungefähr meine Position erschließen.

"Klammern Sie sich an mich!" rief ich Brindon zu. "Ich trage Antigravaggregate in den Schuhsohlen!"

"Ja, SIE - aber ICH nicht!"

Ein wahrer Hagel von Nadelgeschossen prasselte jetzt in unsere Richtung.

Das zerstreute Brindons Zweifel zwar nicht, aber offenbar fürchtete er sich im Endeffekt doch mehr vor seinen Glaubensbrüdern als vor dem bevorstehenden Sprung. Ich spürte eine tastende Hand. Brindons Hand. Er krallte sich an mich. Mit einem Satz waren wir draußen.

Ein Sturz aus zehn Stockwerken lag vor uns.

***

Der Boden bestand aus weichem, gepflegten Rasen, dessen Pflegezustand man in längst vergangener Zeit als 'englisch' bezeichnet hätte. Wir kamen sehr hart auf. Das Antigravagggregat hatte den Aufprall zwar erheblich gedämpft, aber es war eben eigentlich nur auf mein Gewicht programmiert - und nicht auf gut die doppelte Kilozahl.

Etwas benommen stand ich auf.

Brindons Deflektor hatte sich durch den Aufprall deaktiviert. Er lag ächzend am Boden.

Wir befanden uns in den parkähnlichen Anlagen, die zwischen den kuppelförmigen Gebäuden der Lichtjünger angelegt worden waren. Weißgekleidete Männer und Frauen wandelten hier auf schmalen Pflasterwegen. Die Anlage hatte allerdings mehr Ähnlichkeit mit einem geometrisch exakten Rokkoko-Park als mit einem wildwuchernden Paradiesgarten der Glückseligen. Auch bei der Anlage der Grünflächen herrschten runde und halbrunde Formen vor.

Die Weißgekleideten starrten Brindon ungläubig an.

Ich ergriff Brindons Arm.

Die Lichtjünger starrten noch immer, als Brindon den Druckknopf an seinem Deflektorgürtel betätigte und daraufhin vor ihren Augen verschwand.

Durch das Loch, das ich in die Gebäudewand gebrannt hatte, gaben unsere Verfolger jetzt ein paar Nadelschüsse in unsere Richtung ab.

"Los, weg hier!" knurrte ich.

"Zu den Gleitern!" schlug Brindon vor. Er deutete zu dem Gleiterparkplatz am Ufer der Lagune. Aber ich nahm an, daß gerade dort die Sicherheitsmaßnahmen sehr ausgefeilt waren.

"Eine Flucht mit dem Gleiter hat doch schon beim letzten Mal nicht geklappt", gab ich zu bedenken.

"Und was schlagen Sie vor?"

"Wir gehen in den Dschungel."

Wir wandten uns in Richtung des nahen Dschungels, der den größten Teil von Makatua überwucherte.

Nur wenige hundert Meter lagen zwischen uns und dem grünen Chaos, daß sich so eklatant von der wohlgeordneten Welt der Lichtjünger unterschied. Im Dschungel würden Brindon und ich vorerst in Sicherheit sei. Ich setzte darauf, daß die Lichtjünger einfach nicht über genügend bewaffnete Kräfte verfügten, um das Gelände, auf dem sich die Siedlung befand, so abzuriegeln, daß sie uns an einer Flucht hindern konnten.

Auf dem parkähnlichen Gelände der Lichtjünger-Siedlung ertönten jetzt Lautsprecheransagen, die die Sektenmitglieder instruieren sollten. Sie hatten gegen zwei Unsichtbare allerdings keine Chance. Wir erreichten ohne größere Probleme den Dschungel, liefen in das Unterholz hinein. Die einzige Schwierigkeit für uns beide war dabei, daß wir uns gegenseitig nicht verlieren durften. Aber auch das war in dieser wildwuchernden Pflanzenwelt viel einfacher als in der eher sterilen Umgebung der Siedlung. Die Fußtritte des anderen, abgeknickte Äste, der Weg, den er sich durch das hohe Farne bahnte - all das war sichtbar.

Gleiter überflogen das Dschungelgebiet. Ihre Ortungssysteme waren sicherlich nicht mit dem zu vergleichen, was ich an Bord meines VXR installiert hatte. Aber zweifellos reichte es aus, um uns früher oder später aufzuspüren.

"Wir sollten die Deflektorschirme abschalten", erklärte ich und setzte das auch gleich in die Tat um. "Wir erleichtern unseren Gegnern sonst die Peilung!"

Brindon Jarvus folgte meinem Beispiel.

"Sie sind der Boss!"

Ich ließ die Datenübertragung zu meinem Gleiter allerdings bestehen, auch wenn das ein gewisses Risiko bedeutete. Aber auf diese Weise war ich über die Ortungssysteme des VXR immer über die Aktivitäten unserer Gegner informiert.

Im Gesichtsfeld meines linken Auges zeigte das SYSTEM eine schematische Darstellung der Insel Makatua. Fünf Gleiter schwebten in der Luft und suchten die Insel ab. Aber keiner von ihnen verfügte über einen Bioscanner, der auch nur im entferntesten mit dem Equipment des VXR zu vergleichen war. Wozu auch? Diese Gleiter waren dazu angeschafft worden, Waren und Vorräte zu transportieren. Die meisten Modelle waren längst nicht mehr auf dem neuesten Stand. Eigentlich brauchte man sie nur für den Fall, daß die Transmitterverbindung abbrach. Aber eine gewisse Autarkie war den Lichtjüngern offenbar wichtig.

Keine Bioscanner! rief ich mir ins Gedächtnis und atmete dabei innerlich auf. Davon abgesehen waren sie allerdings dazu in der Lage, die Datenverbindung zwischen meinem CyberSensor und dem VXR-Gleiter anzupeilen.

Doch das Risiko mußte ich auf mich nehmem.

Wir kämpften uns durch das immer dichter werdende Unterholz. Brindon hatte keine besonders gute Kondition. Er fluchte dauernd vor sich hin. Beinahe konnte man den Eindruck gewinnen, daß er sich zurück in die Hände seiner Glaubensbrüder wünschte.

"Ich verstehe nicht, wie mein Vater auf die Idee gekommen ist, Sie anzuheuern!" schimpfte er.

"Das hat einen einfachen Grund: Es gibt kaum jemanden, der so einen Auftrag überhaupt annehmen, geschweige denn erfolgreich beenden würde", erwiderte ich ruhig, während wir eine kurze Rast einlegten.

 

Er zuckte die Achseln.

"Ich hoffe, Sie haben einen Plan oder so etwas!"

"Den hatte ich. Ich dachte, wir hätten über die Transmitteranlage der Lichtjünger verschwinden können. Dann säßen wir bereits in meinem VXR-Gleiter."

"Hat nicht ganz geklappt, was?" Brindon lachte heiser auf.

"Kein Grund zur Panik."

"Kein Grund zur Panik?" Er schüttelte verständnislos den Kopf. "So wie ich das sehe, sieht unsere Situation denkbar mies aus und Sie tun das mit einem lapidaren ' Kein Grund zur Panik' ab, so als wäre das hier ein Spaziergang."

"Naja, etwas anstrengender als ein Spaziergang wird es schon werden", erwiderte ich.

"Vielleicht weihen Sie mich in Ihre Pläne ein!"

"Über meinen CybersSensor werde ich den VXR-Gleiter fernsteuern. Wir müssen eine Lichtung - oder noch besser: die Küste! - aufsuchen. Irgend einen Platz, an dem der Gleiter ohne größere Schwierigkeiten landen und uns abholen kann."

"Die Herren dieser Insel schießen ihn vorher ab!" war Brindon überzeugt.

Ich lächelte dünn. "Das ist nicht so sicher..."

Er sah mich an. "Sie spielen gerne Vabanque..."

"Hin und wieder bin ich dazu gezwungen."

"Mir kommen die Tränen. Sie scheinen mir eher der Typ eines tollkühnen Selbstmörders zu sein."

"Das sagen Sie mir?" fragte ich kopfschüttelnd. "Was ich tue ist auf keinen Fall selbstmörderischer als das, was Sie zu Wege gebracht haben."

Seine Augenbrauen bildeten jetzt eine Art Schlangenlinie. "Was meinen Sie damit?"

"Na, daß Sie sich dieser sogenannten Kirche des reinen Lichtes angeschlossen haben."

Brindon atmete tief durch. Sein Blick wurde in sich gekehrt. Er wirkte jetzt sehr nachdenklich und ernst.

"Sie verstehen das nicht."

"Ein Vorurteil."

"Und wenn schon."

"Warum versuchen Sie nicht einmal, es mir zu erklären?"

"Dazu gibt's nicht viel zu sagen." Er machte eine Pause, hob den Kopf und sah mir direkt in die Augen. Dann glitt sein Blick seitwärts, an meinem Hals entlang bis zum Nacken. Er suchte etwas, streckte dann die Hand aus und deutete auf jene Stelle an meinem Nacken, in die mein CyberSensor eingelassen war. "Es hat mit dem Ding zu tun, daß Sie da in Ihrem Nacken haben."

Ich hob überrascht die Augenbrauen. "Mit meinem CyberSensor?"

"Ja."

"Das verstehe ich nicht."

"Kein Wunder. Wer sind Sie denn auch? Der Fortsatz einer Maschine, der organische Arm eines Computernetzes. Nichts weiter."

"Ich bin ein Individuum."

"Das ist eine Illusion." Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. Seine Gesichtsfarbe wirkte ungesund hell. "Ich wollte so etwas nie sein. 'Du sollst das Ebenbild Gottes, den Menschen, nicht zum Sklaven der Maschine machen' - so heißt es in der Revidierten Bibel."

"Ich bin kein Sklave", erwiderte ich.

"Seien Sie sich da nicht so sicher."

"Jedenfalls bin ich freier als Sie es waren - in dem Energiefeld, daß Sie an ihre Zellenpritsche fesselte..."

Er schwieg.

Wir setzten unseren Weg fort. Über uns patrouillierten die Gleiter der Lichtjünger. Ich ließ mir im Gesichtsfeld meines linken Auges ein Holo von Makatua anzeigen. Eine zur Landung des VXR geeignete Stelle lag nur wenige Kilometer entfernt auf einer Lichtung. Bis dorthin mußten wir uns durchschlagen.

"Wohin gehen wir?" fragte Brindon.

"Wenn Sie einen CyberSensor hätten, könnte ich es Ihnen zeigen."

"So viel ist es mir dann doch nicht wert."

"Ein bis zwei Stunden Fußmarsch, dann haben wir es geschafft, Brindon."

"Ich hoffe nur, daß wenigstens diesmal Ihr Plan klappt."

"Man muß improvisieren können."

"Inzwischen ist es mir völlig gleichgültig, auf welche Weise ich hier wegkomme!"

"Geht mir genauso", murmelte ich.

Während des weiteren Weges redeten wir nicht mehr viel. Ich hörte Brindons Keuchen hinter mir.

Wir erreichten schließlich die Lichtung, die mir als Holo angezeigt worden war. Über die Sensoren des VXR-Gleiters ließ ich feststellen, ob sich unsere Verfolger in der Nähe befanden. Das Scan-Ergebnis war eindeutig. Die Gleiter der Lichtjünger konzentrierte ihre Suche zur Zeit auf andere Gebiete.

Ich ließ über CyberSensor-Befehle den VXR-Gleiter einen weiten Bogen fliegen, dann blitzschnell zurückkehren und genau auf die Lichtung zuschnellen.

Der Gleiter näherte sich mit hoher Geschwindigkeit, bremste dann ab und setzte anschließend zu einer punktgenauen Landung an.

"Los!" rief ich an Brindon gewandt, als der Gleiter auf dem Boden aufgesetzt hatte. Die Landung war mustergültig. Die hohe Summe, die ich in die Optimierung das Autopilot- Programms investiert hatte, hatte sich schon des öfteren ausgezahlt.

Wir liefen aus dem Unterholz heraus und rannten durch das fast hüfthohe Gras auf den Gleiter zu.

Der Außenschott öffnete sich auf einen Mentalimpuls meines CybersSensors hin.

Wir stürzten hinein. Der Schott schloß sich und noch im selben Augenblick ging ein Ruck durch den Gleiter. Ein Mentalimpuls meinerseits hatte die Startsequenz ausgelöst. Der Gleiter hob ab, beschleunigte, stieg auf. Die Beschleunigung war derart stark, daß die Andruckabsorber für Sekunden Schwierigkeiten hatten, das auszugleichen. Wir verloren das Gleichgewicht, taumelten zu Boden.

Zwei der Verfolger-Gleiter näherten sich, wie ich über die Augenanzeige registrierte.

"Objekte eliminieren?" meldete sich das SYSTEM über Lautsprecher.

"Gefahrenanalyse!" forderte ich.

"Verfolger-Objekte sind nur leicht bewaffnet. Distanz vergrößert sich zusehends."

"Sie werden nicht feuern", meinte ich, während ich mich wieder aufrichtete.

Brindon kam auch wieder auf die Beine.

"Wieso sind Sie sich da so sicher?" fragte er.

"Die Benutzung von größeren Strahlgeschützen oder Lenkwaffen würde von den Behörden registriert - und dann liefen Ihre Freunde da unten auf Makatua Gefahr, daß ihr Paradies aufgelöst wird. So wichtig werden Sie denen dann doch nicht sein."

"Das sind nicht meine Freunde", erwiderte Brindon eisig. "Wissen Sie überhaupt, was die mit mir vorhatten? Haben Sie auch nur eine blasse Ahnung davon?"

"In dem Datenmaterial, das mir Ihr Vater überlassen hat, war einges über die Methoden der Kirche des reinen Lichtes zu erfahren", sagte ich.

Brindons Stimme zitterte leicht, als er nach einer kurzen Pause wieder zu sprechen begann. "Sie nennen es 'Reinigung'."

"In Wahrheit ist es eine Art Gehirnwäsche."

"Ja."

"Seltsam..."

"Was ist seltsam?"

"Als wir noch auf Makatua waren, hatte ich ab und zu den Eindruck, Sie würden diese Leute trotz allem noch verteidigen."

Brindon starrte durch die Verglasung hinaus. Er blickte zurück in Richtung Makatua. Die Insel wurde immer kleiner, während die Verfolger-Gleiter abgedreht hatten. Offenbar hatten die Lichtjünger eingesehen, daß sie keinerlei Chance hatten, meinen VXR abzufangen, es sei denn, sie eröffneten mit einer Strahlkanone das Feuer und landeten einen Volltreffer. Und das wiederum würden sie im wohlverstandenen Eigeninteresse gar nicht erst versuchen.

"Nicht alles war schlecht an ihnen", sagte Brindon dann. "Und viele ihrer Glaubensgrundsätze halte ich nach wie vor für richtig..."

Ich schüttelte den Kopf. "Ich verstehe Sie nicht, Brindon!"

"Das müssen Sie auch nicht."

Diese Lichtjünger haben ihn von sich abhängig gemacht! ging es mir durch den Kopf. Sie hatten ihn mit dem geködert, was er am meisten gesucht hatte. Mit der Geborgenheit einer Gemeinschaft und einem Sinn für sein Leben. Diese Sekte war für Brindon etwas Ähnliches wie eine Droge. Er wußte, daß sie gefährlich für ihn war, aber ich bezweifelte, daß Brindon es so leicht schaffen würde, sich psychisch schnell von ihr zu lösen.

"Ich weiß noch nicht einmal Ihren Namen", bemerkte Brindon, kurz bevor ich ihn in New Manhattan absetzte. (Nach der Ansicht einiger populärwissenschaftlicher Autoren befanden sich die archäologischen Überreste der legendären Bronx unter den Fundamenten des modernen New Manhattan. Ein klug gewählter Ort für eine Legende - denn seid es um New Manhattan herum eine Leicht-Energiekuppel zur Stabilisieung des Klimas gab, war es unmöglich einen Tiefenscan durchzuführen, der das Erdreich unterhalb der modernen City mehr als 500 Meter tief durchdrang. So würde es fürs erste unmöglich sein, diese Behauptungen zu wiederlegen. Eine zwischenzeitliche Abschaltung der Energiekuppel hätte Milliarden Galax gekostet. Niemand würde auf Jahrhunderte dazu bereit sein...)