Hetzjagd im All

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>Sie können passieren. Der Fehler ist behoben.>

"Und das Analyseergebnis?"

>Noch unklar. Wollen Sie die Protokolle angezeigt haben?>

"Später."

Ich passierte den Schott mit einem schnellen Schritt. Die beiden Hälften bewegten sich nicht dabei, was ich für ein gutes Zeichen hielt.

Ich ging zurück ins Büro und aktivierte eine der alten 2-D-Fassungen von THE MALTESE FALCON, einem uralten Film aus dem zwanzigsten Jahrhundert, bei dem sich die Experten darüber stritten, ob er nun aus künstlerischen Gründen in Schwarzweiß gedreht worden war oder nur deswegen, weil der Aufwand an finanziellen Resourcen für einen Farbfilm zu groß gewesen wäre. Denn daß der Farbfilm um die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts bereits erfunden gewesen war, das galt als allgemeine Lehrmeinung der Historiker. Aber vielleicht hatten ja auch die Außenseiterpositionen recht, die behaupteten, daß man den Farbfilm erst im einundzwanzigsten Jahrhundert erfunden hatte und alles, was an archäologischen Gegenbeweisen die Jahrtausende in irgendwelchen Datenspeichern überdauert hatte, in Wahrheit nachträglich koloriert worden war.

Ich blickte auf die Leinwand und verfolgte die Geschichte um den zwielichtigen Detektiv Sam Spade, die noch zwielichtigere Bridgid O'Shaughnessy und einen komischen angemalten Vogel, der für alle Beteiligten von unschätzbarem Wert war. Angeblich war der Film gar nicht die erste Fassung dieses Stoffes. Es sollte ein Roman von einem gewissen Dashiell Hammett existiert haben, der der Verfilmung zu Grunde gelegen hatte. Aber das war kaum mehr als eine Legende, für die es bislang nicht den Hauch eines Beweises gab.

Das SYSTEM meldete sich über die Anzeige in meinem linken Auge.

So wie ich gerade saß und auf die Leinwand sah, überdeckte die Meldung des Systems den Hut von Sam Spade.

>Sämtliche Fehlfunktionen sind behoben. Ursache der Störung war ein eingeschleustes reproduktionsfähiges Fremdprogramm.>

"Ein Virus...", murmelte ich.

>Die fremden Programmkomponenten konnten sämtlich entfernt werden. Mit weiteren Fehlfunktionen ist nicht zu rechnen. Alle Programme arbeiten wieder einwandfrei.>

"Gut", nickte ich zufrieden.

Währenddessen sah ich auf dem gewohnt wackeligen Bild auf der Leinwand ein paar Schlieren. Aber die hatten nichts mit irgendwelchen Systemfehlern oder Viren zu tun. Diese Schlieren machten den Reiz des alten 2-D-Materials aus und zeigen an, daß es sich nicht um eine Fake-Datei handelte, wie man sie manchmal als preiswerte Sonderangebote in GalaxyNet-Flohmärkten angeboten bekam.

Ich saß da, grübelte etwas darüber nach, wieso man in den zweieinhalb Jahrtausenden seit Erfindung des Computers kein wirksames Mittel gegen Viren erfunden hatte, dachte an Sorana und die vergangene Nacht und fragte mich, ob ich mein Leben in Zukunft einfach so weiter laufen lassen sollte wie bisher oder ob es nicht an der Zeit war, etwas zu ändern. Eine ziemlich bunte Mischung von Gedanken und Empfindungen, die sich da gegenseitig überlagerten, dazwischen die federnden Dialoge aus THE MALTESE FALCON, die großen Augen von Joel Cairo, der von einem Mann namens Peter Lorre gespielt worden war; dazu das dicke feiste Gesicht von jemandem, der sich Gutman nannte und die grauen Eminenz im Hintergrund darstellte.

Irgendwann meldete mir meine Sichtanzeige im linken Auge Besuch. Die Buchstaben verdeckten Humphrey Bogarts alias Sam Spades V-förmiges Gesicht.

Ein gewisser Palmon Jarvus aus New Manhattan wollte mich sprechen.

Persönlich und...

...corporal!

Ich gab ihm die Erlaubnis, mein Transmitterportal anzusteuern und deaktivierte THE MALTESE FALCON.

Wenn jemand mich in meinem Büro aufsuchen - und nicht nur über Bildschirm, Holoprojektion oder im Cyberspace mit mir sprechen wollte - dann mußte es um etwas sehr wichtiges gehen. Bei den Klienten, die meine Dienste suchten, war das durchaus keine Seltenheit. Die meisten wollten absolute Diskretion, so weit die überhaupt zu gewährleisten war. Sie wollten verhindern, daß irgenwelche Datenströme unterwegs von interessierter Seite herausgefiltert wurden.

Auf einer der Wände ließ ich mir das Transmitterportal meiner Wohnung anzeigen. Konturen bildeten sich. Ein hagerer Mann mit deutlich hervortretenden Wangenknochen materialisierte und trat aus dem Flimmerlicht des Transmitters heraus.

>Der Ankömmling ist unbewaffnet>, meldete mir das SYSTEM.

"Er soll hereinkommen."

Augenblicke später trat Palmon Jarvus aus New Manhattan ein.

"Schön, daß Sie Zeit für mich haben, Morley!", erklärte er.

Ich deutete auf einen der Ledersessel.

"Bitte, nehmen Sie Platz, Jarvus!"

"Danke."

Er setzte sich und schlug die Beine übereinander. Sein Gesicht wirkte angespannt. Er tickte nervös mit den Fingern auf der Armlehne herum.

"Es muß einen wichtigen Grund dafür geben, daß es Ihnen nicht genügt, meinem Cyber-Ich zu begegnen", stellte ich fest.

"Ja, das ist wahr", sagte er. "Sie sind jemand, der auch heikle Aufträge zuverlässig ausführt..."

"Darf ich fragen, wer Ihnen meine Adresse gegeben hat?"

"Um ehrlich zu sein: Ich habe sie mir selbst beschafft."

"Ach..."

"Ich bin Management-Mitarbeiter der Firma GADRAM. Sie erinnern sich vielleicht. Vor etwa einem Jahr haben Sie für GADRAM ein sehr schwerwiegendes Problem -- wie soll ich mich da ausdrücken? -- gelöst."

"Ich erinnere mich. Aber eigentlich hatte ich mit GARDRAM abgemacht, daß außer meinem Kontaktmann niemand etwas von mir erfährt."

"Das ist auch nicht geschehen."

"Offenbar sind meine Daten aber immer noch in den GADRAM-Speichern abrufbar."

"Nur in geheimen Speicherbereichen."

"Auch das entsprach nicht den Abmachungen."

"Ich bedaure, aber dafür bin ich nicht verantwortlich."

"Mag sein. Aber es ist trotzdem ärgerlich. Und besonders geheim scheinen die erwähnten Speicherbereiche ja auch nicht zu sein -- schließlich sind Sie an die entsprechenden Informationen ja problemlos herangekommen."

Jarvus lächelte dünn. "Problemlos nicht, aber mit gewissen Tricks. Und mit gewissen Tricks könnte ich auch dafür sorgen, daß Ihr Datenmaterial völlig aus den GADRAM-Speichern verschwindet."

"Ah, daher weht also der Wind!"

"Nein, Sie mißverstehen mich. Ich will Sie nicht erpressen, Morley! Ganz bstimmt nicht. Ich biete Ihnen lediglich meine Hilfe an. Das ist alles. Für die Erfüllung Ihres Auftrages werdem Sie von mir gut bezahlt."

"Was bedeutet 'gut'?"

"Sie bekommen 200 000 Galax."

Ich hob die Augenbrauen.

Das war wirklich ein sehr beachtliches Honorar, mehr als ich damals bekommen hatte, als ich für GADRAM ein Verfahren des Konkurrenzunternehmens BARETTO zur Optimierung von CyberSensoren gestohlen hatte und dabei um ein Haar vom Security Service umgebracht worden war.

Ich konnte nur dafür beten, daß BARETTO niemals meine Identität herausbekam.

In dem Fall war ich so gut wie tot.

Leider hatten BARETTO und GADRAM ihre Zentralen gegenseitig mit Spionen durchsetzt, so daß ich befürchten mußte, daß BA- RETTO doch irgendwann in den Besitz meiner Daten gelangte, mochten die Sektoren in den GADRAM-Rechnern, in denen sie gespeichert waren, auch noch so geheim sein. Es war nur eine Frage der Zeit.

Diee verdammten Hunde! durchzuckte es mich. Ich hätte es wissen müssen, daß sie eine krumme Tour versuchten!

Jarvus sprach es nicht aus, aber ich zweifelte keine Sekunde daran, daß ihm meine Zwangslage vollkommen bewußt war. Um ganz sicher zu gehen, daß sie MIR bewußt war, hatte er mich noch einmal sehr nachdrücklich darauf hingewiesen.

Vielleicht war er es sogar, der seinerzeit die endgültige Löschung ALLER Daten, die mit der Aktion in Zusammenhang standen, verhindert hat, überlegte ich. Die Möglichkeit dazu hätte er vermutlich gehabt.

Er erhob mich aus meinem Sessel, lehnte mich mit der Hüfte gegen eine Konsole und verschränkte die Arme.

Es war sinnlos, darüber nachzugrübeln. Ich war in seiner Hand, je gründlicher ich mir das eingestand, desto besser. Und offensichtlich war Jarvus daran gelegen, mir tatsächlich eine goldene Brücke zu bauen. 200 000 Galax. Das war wirklich außergewöhnlich.

"Worin besteht der Auftrag?" fragte ich.

"Es geht um eine rein private Sache."

"Es hat nichts mit GADRAM oder BARETTO zu tun?"

"Nein."

Um so besser, dachte ich.

"Schießen Sie los."

"Wie bitte?"

"Oh, Sorry, eine alte Redewendung wie sie in antiken 2-D-Filmen manchmal verwendet wird."

"Ach so. Wie man hört, ist das alte Zeug ja wieder mächtig populär geworden."

"Nur innerhalb einer kleinen Szene von Freaks", korrigierte ich etwas ungeduldig. Ich hatte nämlich nicht die geringste Lust, mit meinem Gegenüber weiter Smalltalk zu führen. Jarvus hingegen zögerte noch, mir seine Karten auf den Tisch zu legen. Er schien Zeit gewinnen zu wollen, um sich letztendlich zu entscheiden, in wie weit er mir vertrauen wollte.

Du sitzt genau so in der Falle wie ich! ging es mir durch den Kopf, während ich Jarvus' Gesichtsausdruck studierte. Was würdest du tun, wenn ich mich aus der Sache einfach raushalten, meine Sachen packen und untertauchen würde? Wahrscheinlich hast du keine Ahnung, wie schnell das geht...

Ich war jederzeit darauf vorbereitet.

Allerdings gefiel mir der Gedanke nicht.

Schon Soranas wegen. Ich hing sehr an ihr und vermutlich hätte das eine Trennung bedeutet. Zumindest für eine Weile.

"Haben Sie schonmal etwas von der Kirche des reinen Lichts gehört?" fragte er.

 

Ich zuckte die Achseln.

"Nein, tut mir leid."

"Es handelt sich um eine radikale Sekte, die gewisse astronomische Gegebenheiten so interpretiert, daß das Ende des Universums unmittelbar bevorstünde. Der Kosmos, so die Lehre dieser Leute, stehe kurz vor einer Art Transformation in einen anderen Daseinszustand, den aber natürlich nur die Jünger des reinen Lichts erreichen können. Alle anderen Menschen gehören zur sogenannten satanischen Sphäre und werden als seelenlose Diener des Bösen angesehen, die man bedenkenlos töten darf..."

"Klingt nicht gerade besonders sympathisch."

"Dieser Sekte gehört die Pazifikinsel Makatua. Dort befindet sich das sogenannte Zentrum des reinen Lichtes. Die Insel ist von der Außenwelt abgetrennt. Es gibt keine Transmitterverbindungen und keinen Anschluß ans GalaxyNet. All das lehnen die Jünger des reinen Lichts als Teufelszeug ab."

Ich hob die Augenbrauen.

"Worin besteht jetzt meine Aufgabe?" hakte ich nach.

Jarvus preßte die Lippen aufeinander. Sein Gesicht bekam einen starren Ausdruck. "Mein Sohn ist auf dieser Insel. Sie sollen ihn dort herausholen."

"Ist Ihr Sohn Mitglied dieser Licht-Jünger?"

"Ja. Wissen Sie, diese Leute versprechen einem die Geborgenheit einer Gemeinschaft und die Gewißheit, zu den Auserwählten zu gehören, das wirkt auf labile Persönlichkeiten äußerst attraktiv."

Ich hob die Schultern. "Wie stellen Sie sich das vor? Ich soll Ihren Sohn von Makatua entführen und dann zu Ihnen nach New Manhattan bringen?"

"Es ist ihm gelungen, eine Botschaft abzusenden."

"Ich dachte, es gäbe dort keine Verbindung zum Netz."

"Er verwendete das Navigationssystem eines Gleiters. Darauf können selbst diese Fanatiker nicht verzichten. Brondin, mein Sohn, unternahm offenbar einen Fluchtversuch und wurde dabei von Lichtjüngern gestellt. Morley, er will die Insel verlassen und wird dort gefangengehalten. Diese Sekte ist berüchtigt dafür, austrittswillige Mitglieder einzuschüchtern. Angeblich soll es sogar Fälle von Gehirnwäsche und Mord geben."

"Sie verzeihen es einem einfach nicht, wenn man sich vom rechten Glauben abwendet", stellte ich fest.

"Sie sagen es, Morley. Glauben Sie mir, Brondin ist in akuter Gefahr!"

"Warum gehen Sie nicht zur Polizei?"

"Ich habe mich beraten lassen. Seit Einführung der sogenannten Toleranzgesetze gibt es so gut wie überhaupt kei- ne legale Zugriffsmöglichkeit auf Makatua."

Ich ging etwas auf und ab, aktivierte über den CyberSensor eine Fensterwand. Der Anblick des Meeres half mir bei der Konzentration.

Hatte ich überhaupt eine andere Wahl, als den Auftrag anzunehmen.

Warum zögerst du? meldete sich eine leicht sarkastische Stimme in meinem Inneren. Du hast ohnehin keine Wahl.

Ich war alles andere als begeistert von der Aussicht, eine Insel anzufliegen, auf der ich praktisch Freiwild für die Angehörigen einer Sekte war.

Und die Methoden dieser Lichtjünger schienen alles andere als zimperlich zu sein. Vorausgesetzt, die Informationen, die Jarvus mir gegeben hatte, stimmten. Ich würde jeden Halbsatz davon zunächst genauestens überprüfen, bevor ich einen Gleiter bestieg, um den armen Brondin herauszuhauen.

"Okay", sagte ich also, "ich werde diesen Auftrag annehmen."

"Sie wissen nicht, was für ein Stein mir da vom Herzen fällt. Haben Sie Kinder?"

"Sie müssen nicht mehr über mich wissen, als unbedingt nötig", erwiderte ich kühl.

"Wie auch immer. Vielleicht haben Sie ja Fantasie genug, um sich vorstellen zu können, wie es in einem aussieht, wenn ein Mensch, der einem sehr nahesteht, zu Grunde gerichtet wird."

"Ich brauche sämtliche relevanten Daten über Ihren Sohn und diese Lichtjünger", erklärte ich.

Jarvus nickte. Er griff in eine Tasche, die sich am Gürtel seiner Kombination befand, holte einen etwa daumengroßen Datenträger hervor, den er mir übergab.

"Ich dachte, diese Dinger werden schon gar nicht mehr hergestellt", meinte ich.

"Ich wollte vermeiden, daß später irgendein Datenstrom zwischen unseren Systemen nachweisbar ist.

"Ich verstehe..."

Durch einen Gedankenbefehl über den CyberSensor aktivierte ich den Datenträger. Eine winzige 3-Projektion der Insel Makatua erschien.

"Das ist alles, was ich in Erfahrung bringen konnte. Die persönlichen Daten meines Sohnes sind natürlich enthalten."

"Inklusive von Identifizierungsmustern für Bio-Scanner?"

"Ja."

"Sorgen Sie dafür, daß die 200 000 Galax meinen Konto gutgeschrieben werden. Anschließend beginne ich mit der Vorbereitung der Aktion."

"Ich kann die Summe sofort anweisen."

"Über Ihren CyberSensor? Tun Sie das bitte erst, wenn Sie wieder in New Manhattan sind."

"Ah, ja. Ich vergaß! Die Spuren..."

"Genau."

"Schließlich soll später niemand nachweisen können, daß ich jemals hier war. Das Geld wird zur Tarnung ein paar Umwege nehmen müssen, aber Sie können sich darauf verlassen, daß es ankommt."

"Das freut mich."

Jarvus erhob sich, trat dann etwas näher an mich heran.

"Ich möchte Sie beschwören, die Aktion so schnell wie möglich zu starten! Sonst kann es für Brindon zu spät sein. Wer weiß, was sie inzwischen schon alles mit ihm angestellt haben!"

"Ich lasse mich nicht drängen", erwiderte ich mit Bestimmtheit. "Die Sache muß sehr sorgfältig vorbereitet werden. Das Schlimmste, was Ihrem Sohn passieren könnte wäre ein Scheitern der Aktion."

Er nickte leicht.

In seinen Augen flackerte es unruhig. Dieser Mann hatte Angst.

"Ich verlasse mich auf Sie, Morley", flüsterte er.

"Und ich hoffe, daß Sie Ihr Versprechen nicht vergessen, meine Daten diesmal wirklich aus den GADRAM-Rechnern zu löschen."

"Keine Sorge!"

Ich zuckte die Achseln.

"Das sagt sich leicht..."

Wir verabschiedeten uns. Er ging hinaus zum Transmitter. Ein paar Sekunden später war er entmaterialisiert. Ich rief unterdessen über meinen CyberSensor das SYSTEM der Wohnung auf. "Bitte den Inhalt des Datenträgers in meiner Hand überprüfen", befahl ich.

*

Ich besorgte mir alles, was an Informationen über die sogenannte Kirche des reinen Lichtes gab, dazu natürlich genaueste geographische Daten über die Insel Makatua, die einen kleinen Punkt im Pazifik darstellte. Einen unter Tausenden.

Es gab ein sensorisches Ortungsfeld, das die Insel wie eine Käseglocke umgab und es mehr oder weniger unmöglich machte, irgendwo unbemerkt mit einem Gleiter zu landen. Jedes sich bewegende Objekt wurde registriert. Die religiös motivierte Ablehnung der Technologie hatte bei der Kirche des reinen Lichtes offenbar ein paar signifikante Ausnahmen.

Da würde ich mir was überlegen müssen.

Ich überprüfte auch den Lebenslauf meines Klienten sowie seines Sohnes Brindon. Ich wollte einfach wissen, mit wem ich es zu tun hatte. Dabei verließ ich mich nicht nur auf das Datenmaterial, das sein Vater mir überlassen hatte, sondern hackte mich auch in diverse Datenbanken ein, bei denen ich vermuten konnte, etwas über Brindon Jarvus zu finden. Er war 19 Jahre alt, hatte die staatlichen Hypnoschulungen nicht bis zu Ende absolviert und war wegen Besitzes illegaler Drogen mit dem Gesetz in Konflikt gekommen. Dem Einfluß seines Vaters war es zu verdanken gewesen, daß er glimpflich davongekommen war.

Brindons Mutter war durch eine Transmitterfehlfunktion ums Leben gekommen. Seitdem war Brindon in psychologischer Behandlung gewesen.

Geborgenheit und die Wärme einer Gemeinschaft hatte er dann bei der Kirche des reinen Lichtes zu finden gehofft. Aber der verzweifelten Mail nach, die er von Makatua aus an seinen Vater geschickt hatte, war das ein Trugschluß gewesen.

Am Nachmittag schlief ich ein paar Stunden, dann bekam ich eine Nachricht von Sorana.

"Tut mir leid, ich muß hier wohl noch einen Tag länger bleiben", meinte sie. "Es gibt hier etwas mehr zu tun, als ich ursprünglich gehofft habe..."

"Ich hoffe, du meinst nur einen Erdtag, keinen Tywyn-Tag", erwiderte ich, denn Tywyn brauchte ganze 96 Stunden, um sich einmal um die eigene Achse zu drehen.

Sie lächelte sanft. "Ich meine einen Erdtag", versicherte sie mir.

Ich sah sie vollkommen realistisch vor mir.

Sie -- oder besser gesagt ihr Cyber-Ich.

Die Signale, die mein CyberSensor erhielt gaukelte das zumindest meinen Sehnerven vor. Nur eine winzige Anzeige ganz unten links im Gesichtsfeld meines linken Auges wies mich darauf hin, daß es sich um eine Datenübertragung handelte.

Ich ging auf sie zu, berührte sie, aber meine Hand glitt duch ihre Schulter hindurch.

"Tut mir leid", sagte sie, "aber die Kapazität dieser Hyperfunkfrequenz scheint für eine taktile Illusion nicht auszureichen."

"Schade."

"Ich scheine gerade eine Rush Hour-Zeit erwischt zu haben, dann kann es schon mal derartige Probleme im GalaxyNet geben, wenn man auf große Entfernung sendet."

Unsere Hände - oder besser: die Hände unserer Cyber-Ichs - berührten sich, aber es entstand keine taktile Empfindung dabei. Sie überlagerten sich wie übereinander projizierte 2-D-Filme aus dem zwanzigsten und einundzwanzigten Jahrhundert.

Ich ahnte in diesem Moment nicht, daß diese flüchtige Begegnung unsere letzte war.

Noch Jahre später wiederholte sich diese Szene Nacht für Nacht in meinen Träumen.

Dieses Lächeln.

Dieser letzte Blick.

*

Die Tür des Gleiter-Hangars funktionierte einwandfrei. Ich nahm mir den Langstreckengleiter vom Typ VXR, der neben der Fahrerkabine auch noch zwei Schlafkabinen aufwies. Außerdem hatte ich ein Lasergeschütz einbauen lassen, daß verdeckt angebracht war, so daß es optisch nicht auffiel. Elektromagnetische Störsignale verhinderten auch weitgehend, daß jeder x-beliebige Ortungsscanner auf das Ding aufmerksam wurde.

Ich wechselte meinen CyberSensor aus, zog halborganische, enganliegende so gut wie unsichtbare Handschuhe an, die meine Handlinien und Fingerabdrücke veränderten und legte außerdem Kontaktlinsen mit veränderten Iris-Mustern an. Ich hatte jetzt die Identität eines anderen angenommen. Tom Forano, wohnhaft in Mars Port, Mars, 77 Jahre alt, wie mir die Anzeige verriet, als ich den anderen CyberSensor in die kleine, steckerartige Öffnung an meinem Nacken eingeführt hatte. Wenn es jemandem gelang, die Datenströme an Bord des Gleiters abzuhören, sollte die Spur nicht gleich zu einem Gewissen Dak Morley aus Barcana, Erde führen. Selbst an die identifizierbaren Stimmmuster hatte ich gedacht. Der Rechner des Gleiters war so programmiert, daß er mein Stimmuster in das von Tom Forano umwandelte, bevor er mit einer internen Abfrage meine Autorisierung zur Lenkung dieses Gleiters festellte. Wenn also irgend etwas schiefging und man die Überreste des VXR aus dem Pazifik fischte, so würde die Polizei dann feststellen, daß der Gleiter nur von einem Mann gelenkt worden sein konnte, dessen Stimme nicht die leiseste Ähnlichkeit mit dem Organ eines gewissen Dak Morley besaß.

Und dasselbe würde für Handlinienmuster, Fingerprints und Iriserkennung gelten.

(Seit den massiven Fortschritten der plastischen Chirurgie war man glücklicherweise schon vor einigen Jahrhunderten davon abgekommen, das Gesicht als Hauptidentifizierungsmerkmal eines Menschen zu betrachten).

Sorana würde meinen abgelegten Dak-Morley-CyberSensor nicht erreichen können. Ich hoffte nur, daß sie genug zu tun hatte, um sich keine Sorgen zu machen. Ich bedauerte es, daß ich ihr nichts über den Job hatte sagen können, den ich übernommen hatte. Aber das Risiko wäre einfach nicht vertretbar gewesen. Hyperfunkverbindungen abzuhören war nun wirklich ein Kunststück für Amateure.

*

Die Pazifikinsel Makata tauchte aus dem Licht der Morgendämmerung auf. Ein kleines Paradies, daß sich die Kirche des reinen Lichts als ihren Hauptsitz ausgewählt hatte. Wie ein blaues Auge leuchtete eine große Lagune. An dieser Lagune befand sich eine Siedlung aus kuppelförmigen Gebäuden. Eckige Formen wurden von der Kirche des reinen Lichtes als satanisch abgelehnt. Nur das Runde sei in Harmonie mit dem Kosmos.

Ich hielt den Gleiter außerhalb des Ortungsfeldes, daß Makatua umgab und schaltete ihn auf Autopilot. Das Rechnersystem übernahm die Steuerung und ließ das Gefährt ein wenig herumkreisen.

Du kannst von Glück sagen, daß es keinen Hochenergieschild um Makatua gibt! rief ich mir ins Gedächtnis.

 

Aber Hochenergieschilde waren seit hundertdreißig Jahren auf der Erde verboten. Seit der Katastrophe von Dar-es-Sahara, die um ein Haar dazu geführt hatte, daß die Erdatmosphäre nahezu ihren gesamten Sauerstoff verlor. Aber das war lange her ich war froh in einer Zeit zu leben, in der die Vernunft zumindest in diesem einen Punkt gesiegt hatte.

Jetzt mußte ich nur einen Weg finden, das Ortungssystem von Makatua auszutricksen.

Aber da hatte ich mir schon etwas überlegt.

Ich rief das SYSTEM des Gleiters auf.

"Bitte Makatua nach den Biomustern von Brindon Jarvus abscannen", forderte ich in die Stille hinein, die um mich herum herrschte.

Der Betrieb des Gleiters verursachte so gut wie keinen Laut.

Mir fiel der schreckliche Krach ein, den Fahrzeuge früherer Zeiten verursacht hatten. Nach wie vor war es allerdings umstritten, ob der Krach eines Automobils, wie er in den 2-D- Filmen jener Zeit dokumentiert wurde, wirklich durch das Fahrzeug verursacht wurde oder es sich um Datenfehler auf den Akustik-Files handelte.

Ich aktivierte ein Holodisplay, das ein exaktes 3-D-Abbild der Insel zeigte. Eine Anzeige informierte mich über den Fortschritt bei der Suche nach Brindon Jarvus's Biomustern.

Die Suchgeschwindigkeit war auf das niedrigste mögliche Level eingestellt. Ansonsten bestand nämlich die Gefahr, daß der Scanvorgang unten auf Makatua bemerkt wurde.

Ich wartete, ging ungeduldig auf und ab. Dann kam endlich das erlösende Signal. Brindon war gefunden. Auf der Darstellung des Holodisplays wurde seine Postion genau markiert. Er befand sich im größten der insgesamt etwa ein dutzend Kuppelbauten.

Ich vergrößerte die Darstellung.

Selbst die Einteilung der Räume war jetzt erkennbar. Brindon wurde in einer Art Arrestzelle gefangengehalten. Ein winziger Raum. Brindon bewegte sich nicht. Vielleicht war er gefesselt oder schlief.

"Scan-Daten in den internen Speicher des CyberSensor von...", ich mußte mich einen Moment konzentrieren, damit mir der Name wieder einfiel, den ich zur Zeit trug, "...von Tom Forano laden."

"Wird ausgeführt", sagte die Stimme des SYSTEMs. Diesmal nicht als Pseudo-Voice, die nur eine Kitzelei meiner Hörnerven mit entsprechenden Impulsen war, sondern als Kunststimme aus einem Lautsprecher. Hier im Gleiter hatte ich das SYSTEM so konfiguriert. Den eigentlichen Grund dafür konnte ich nicht mehr angeben. Vielleicht stand der unbewußte Wunsch dahinter, doch nicht ganz allein bei so einer Mission zu sein. Andererseits wäre die Illusion der Pseudostimme eigentlich perfekt genug gewesen, um denselben Effekt zu erzielen.

Und doch...

Ich beschloß, nicht länger darüber nachzudenken.

Wenn die Scan-Daten über die Anlagen auf Makatua im internen Speicher meines CyberSensors waren, konnte ich sie jederzeit in meinem Auge anzeigen lassen, ohne dafür ein Signal zum Gleiter senden zu müssen. Letzteres konnte mich ja eventuell verraten.

"Frage: Gibt es auf Makatua einen Transmitter?" wandte ich mich an das SYSTEM.

"Positiv", sagte die Kunststimme. Sogleich wurde die Transmitterstation auf der Holo-Darstellung markiert.

"Gibt sonst irgendwelche Verbindungen zur Außenwelt?"

"Negativ. Keine Datenverbindungen, kein Zugang zum GalaxyNet, keine Hyperfunkverbindungen."

Die Transmitterstation war also so etwas wie das Tor zur Welt, daß die Angehörigen der Kirche des reinen Lichtes unterhielten. Eine Art Hintertür, mehr nicht. Vielleicht kamen über diese Station die Neuankömmlinge hier her.

"Programm CXA aktivieren", befahl ich. Das war ein illegales Hackerprogramm. Ein guter Bekannter hatte es für mich entwickelt. Ich wollte damit in den Rechner der Transmitterstation hineinkommen und es gab eigentlich kein Argument, daß dagegen sprach.

Es mußte möglich sein.

Das CXA-Programm arbeitete nach einem uralten, sehr einfachen und nach wie vor äußerst wirksamen Prinzip. Es mied die gut gesicherten 'Haupteingänge' eines Systems und konzentrierte sich darauf, Sicherheitslücken auf Nebenrechnern zu finden. Dort wurde auf Sicherheit nicht so geachtet und es war eigentlich nur eine Frage der Statistik, wann man auf einen Rechner stieß, dessen Codes noch Werkseinstellung aufwiesen, weil sich niemand die Mühe gemacht hatte, sie bis in die letzte Kleinigkeit hinein zu konfigurieren. In diesem Fall war diese 'Hintertür' in New L.A., wo die Kirche des reinen Lichtes eine Dependance besaß, mit der sie über Transmitter verbunden war.

"Kontrolle der Transmitterstation auf Makatua herstellen?" fragte das SYSTEM.

"Noch nicht", erwiderte ich.

Ich legte einen Deflektor-Gürtel an. Man konnte damit einen Deflektor-Schirm aktivieren, der den Träger unsichtbar machte. Der Schirm projizierte für einen Betrachter die perfekte Holographie des Hintergrundes, so daß der Träger des Schirms nicht zu sehen war. Allenfalls bei ruckartigen Bewegungen (und bei mangelhafter Rechnerleistung des Deflektors) konnte der Betrachter eventuell eine Art Zittern oder den Eindruck einer Kontur erkennen.

An den dafür vorgesehenen Magnethalterungen an meiner Kombination befestigte ich einen Nadler und einen Strahler.

Der Strahler war auf Betäubung eingestellt.

Ich hoffte, daß ich niemanden töten mußte.

Zu meiner Ausrüstung gehörten außerdem noch ein Magnet-Schocker und ein Decoder für elektronische Schlösser.

Darüber hinaus schnallte ich mir noch einen zweiten Deflektor-Gürtel um, den ich vorerst nicht zu aktivieren gedachte. Er war für Brindon Jarvus bestimmt. Schließlich mußte ich ihn ja irgendwie aus seinem Gefängnis herausholen können, ohne daß er dabei zur Zielscheibe wurde.

Ich wies das SYSTEM an, die Kontrolle über die Transmitterstation auf Makatua in einem Augenblick herzustellen, da sich in den entsprechenden Räumen niemand aufhielt. Danach sollte der VXR-Gleiter sich so weit wie möglich vom Ort des Geschehens entfernen. So weit, daß ich ihn im Notfall noch schnell genug zur Insel beordern konnte.

"Anweisungen bestätigt", sagte die Stimme des SYSTEMs.

Ich aktivierte den Deflektor-Gürtel.

Für einen hypothetischen Beobachter wäre ich in dieser Sekunde verschwunden. Der Schirm umgab mich wie eine Glocke. Das einzige Problem war, daß der Energieverbrauch zwar verschwindend gering war, aber nicht gering genug dafür, um von entsprechenden Sensoren nicht aufgezeichnet werden zu können.

Aber das Risiko mußte ich eingehen.

Ich begab mich zur Transmitterstation des VXR-Gleiters. Sie befand sich gleich neben der Toilette und war von der Quadratmeterzahl etwa gleich groß. Ich stellte mich unter den Strahler, der mich hinüberbeamen würde und wartete ab.

Dann sorgte das SYSTEM dafür, daß mein Körper sich in seine Moleküle auflöste, die dann einzeln zum Bestimmungsort transmittiert wurden, um sich dort wieder zusammenzusetzen.

Angewandte Quantenphysik, sonst nichts.

*

Ein leichtes Prickeln durchlief meinen Körper, als ich in der Transmitterstation auf Makatua rematerialisierte. Das lag an dem Deflektor-Schirm, den ich während des Beamvorgangs eingeschaltet gelassen hatte.

Ich blickte mich um, nahm den Strahler in die Rechte. Ich durfte ihn nur nicht so weit vom Körper wegstecken, daß er außerhalb des Deflektorfeldes geriet, wenn jemand dabei war.

In der Transmitterstation war ich allein.

Genau wie geplant.

Unten links in meinem Gesichtsfeld ließ ich mir den 3-D-Plan des Kuppelgebäudes anzeigen, in dem ich mich befand. Es würde kein Problem sein, mich hier zurecht zu finden.

Ich wandte mich der Schiebetür zu, die die Transmitterstation mit dem Rest des Gebäudes verband.

Die Tür reagierte nicht - obwohl die dazugehörigen Sensoren ganz sicher nicht durch einen Deflektorschirm getäuscht werden konnten.

Abgeschlossen, dachte ich.

Das war bei einer Organisation, die offenbar peinlich darauf bedacht war, daß abtrünnig gewordene Mitglieder nicht einfach in alle Winde verschwanden, auch naheliegend. Vermutlich hatten nur besonders autorisierte Personen unter den Jüngern des reinen Lichtes Zugang zur Transmitterstation.

Ich holte einen Türschloßdecoder aus der Brusttasche meiner Kombination. Innerhalb weniger Sekunden sorgte das etwa daumennagelgroße Gerät dafür, daß sich die Tür öffnete.