Liebe und Eigenständigkeit

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3Zu viel Kontrolle

Neulich kam meine Frau nachmittags mit unseren Kindern von einem Ausflug in den Park zurück. Sie schüttelte den Kopf und sprudelte hervor: „Ich kann es kaum fassen, wie manche Eltern mit ihren Kindern sprechen – so erniedrigend und feindselig. Warum haben sie überhaupt Kinder?“ Da ich selbst auch schon mehr als einmal etwas Ähnliches erlebt hatte, beschloss ich, etwas von dem, was wir in der Stadt hörten und sahen, aufzuschreiben. Innerhalb weniger Tage hatte ich unter anderem folgende Beobachtungen notiert:

• Ein Kleinkind wurde scharf zurechtgewiesen, weil es im Kinderbereich der öffentlichen Bücherei mit einem Stoffbär geworfen hatte, obwohl niemand sonst in der Nähe war.

• Ein Junge, der im Supermarkt gefragt hatte, ob er ein Plätzchen haben dürfte, bemerkte, dass ein anderer kleiner Junge eins aß. Als er seine Mutter darauf hinwies, sagte sie zu ihm: „Nun, das liegt sicher daran, dass er aufs Töpfchen geht.“

• Ein kleiner Junge stieß einen lauten Freudenschrei aus, als er auf dem Spielplatz von einer Schaukel sprang. Daraufhin zischte seine Mutter: „Hör sofort mit dem Blödsinn auf! Das Schaukeln hat sich für heute erledigt. Noch einmal, und du bekommst eine Auszeit.“

• An einem Wassertisch im Kindermuseum versuchte eine Mutter, ihren kleinen Sohn an allem Möglichen zu hindern, indem sie fälschlich behauptete, in dem Museum aufgestellte Schilder verböten genau das, was er gerade vorhatte – zum Beispiel: „Auf dem Schild steht, dass man nicht spritzen darf.“ Als er fragte warum, antwortete sie: „Es steht eben drauf.“

Schon bald gab ich es wieder auf, mir Notizen zu machen. Abgesehen von der schieren Menge dieser Vorfälle, glichen sie sich untereinander auch ziemlich und es schien mir bald überflüssig und deprimierend zu sein, sie festzuhalten. Immer wieder erlebten wir, wie Eltern auf dem Spielplatz unvermittelt verkündeten, es sei Zeit zu gehen, und manchmal sogar ihr Kind am Arm packten. (Wenn es daraufhin weinte, wurde das gewöhnlich darauf zurückgeführt, dass es „müde“ sei.) Wir sahen Eltern, die unwissentlich einen Feldwebel imitierten, der seine Truppen einschüchtert – Nase an Nase, wobei sie ihren Finger nur Zentimeter vor dem Gesicht des Kindes in die Luft stießen und brüllten. Und wie oft hatten wir in Restaurants beobachtet, wie Eltern an ihren Kindern herumfuhrwerkten – ihre Manieren korrigierten, sie wegen ihrer Haltung zurechtwiesen, Bemerkungen darüber machten, was (und wie viel) sie aßen, und ganz allgemein das Essen zu etwas machten, von dem die Kinder so schnell wie möglich flüchten wollten. (Kein Wunder, dass so viele Kinder bei Mahlzeiten mit der Familie keinen Hunger haben, jedoch kurze Zeit später Appetit bekommen.)

Lassen Sie mich Ihnen versichern: Bevor ich eigene Kinder hatte, habe ich viel härter geurteilt. Solange man nicht selbst einen Kinderwagen geschoben hat, begreift man nicht wirklich, wie so winzige Menschen es schaffen können, einen auf die Palme und ans Ende seiner Geduld zu bringen. (Natürlich kann man dann auch nicht die Augenblicke übernatürlichen Glücks, die sie einem bescheren können, genießen.) Das versuche ich im Hinterkopf zu behalten, wenn mich das Verhalten anderer Eltern zusammenzucken lässt. Und ich sage mir, dass ich die Geschichte der Familie, die ich nur ein paar Minuten beobachtet habe, ja nicht kenne – dass ich nicht weiß, was die Mutter oder der Vater an dem Morgen vielleicht erlebt hat und was das Kind gerade getan hat, bevor ich zufällig auf dem Schauplatz erschien.

Dennoch. Trotz allem, was wir vielleicht berücksichtigen sollten, und aller Umstände, die wir bedenken sollten, ist eine Beobachtung festzuhalten: Für jedes Kind, das in der Öffentlichkeit unbeaufsichtigt herumrennt, gibt es Hunderte von Kindern, die von ihren Eltern unnötig eingeschränkt, angeschrieen, bedroht oder schikaniert werden, Kinder, deren Protest routinemäßig ignoriert und deren Fragen abgetan werden, Kinder, die sich daran gewöhnt haben, auf ihre Bitten ein automatisches „Nein!“ zu hören und ein „Weil ich es gesagt habe!“, wenn sie nach einem Grund fragen.

Sie brauchen mir das nicht einfach so zu glauben. Tun Sie so, als wären sie Anthropologe, und beobachten Sie genau, was vor sich geht, wenn Sie das nächste Mal auf einem Spielplatz, in einem Einkaufszentrum oder auf einer Geburtstagsparty sind. Sie werden nichts sehen, was Sie noch nie gesehen haben, aber vielleicht bemerken Sie Einzelheiten, auf die Sie bisher kaum geachtet hatten. Vielleicht bieten sich einige Verallgemeinerungen über das, was sie miterleben, an. Doch seien Sie gewarnt: Es ist nicht immer angenehm, für das, was um einen herum vorgeht, sensibilisiert zu werden. Wenn Sie zu genau hinschauen, ist ein Tag im Park plötzlich kein Tag im Park mehr. Eine Mutter aus Kalifornien schrieb mir:

Waren Sie in letzter Zeit mal im Supermarkt? Es ist schlimmer denn je geworden! Zu sehen, wie Eltern Bestechungen, Demütigungen, Strafen, Belohnungen und allgemein beleidigende Taktiken einsetzen, ist fast unerträglich. Was ist nur aus meiner schönen rosaroten Brille geworden? Jedes „Wenn du dich nicht beruhigst, gehen wir nie mehr einkaufen!“ und „Wenn du aufhörst zu schreien, gehen wir ein Eis essen, Schatz!“ droht mich zu ersticken. Wie habe ich es früher nur geschafft, das auszublenden?

Denken Sie noch einmal über die in den letzten beiden Kapiteln beschriebenen Methoden eines an Bedingungen geknüpften Erziehungsstils nach. Ein Grund, weshalb sie so schädlich sind, hat damit zu tun, dass das Kind die Erfahrung macht, von außen gesteuert zu werden. Anders herum läuft es ähnlich: Wenn wir Strafen, Belohnungen und andere Strategien zur Manipulation kindlichen Verhaltens einsetzen, bekommt das Kind vielleicht den Eindruck, es werde nur geliebt, wenn es unseren Anforderungen entspricht. Ein an Bedingungen geknüpfter Erziehungsstil kann die Folge zu starker Kontrolle sein, selbst wenn er nicht beabsichtigt war, und umgekehrt kann Kontrolle die destruktiven Auswirkungen erklären helfen.

Doch übermäßige Kontrolle ist schon an sich ein Problem und verdient ein eigenes Kapitel. Sie ist nicht auf eine bestimmte Form der Disziplinierung beschränkt, auf eine Auszeit oder eine Tabelle mit Sternchen, eine Tracht Prügel oder ein „gut gemacht“, ein gewährtes oder entzogenes Vergnügen. Eine Methode durch eine andere zu ersetzen bewirkt nicht viel, wenn wir uns nicht mit der folgenden grundlegenden Tatsache auseinandersetzen: Das verbreitetste Erziehungsproblem in unserer Gesellschaft ist nicht zu große Toleranz, sondern die Angst vor zu großer Toleranz. Wir fürchten uns so davor, Kinder zu verwöhnen, dass wir sie im Endeffekt oft übertrieben kontrollieren.

Zugegeben, manche Kinder werden verwöhnt – und manche werden vernachlässigt. Doch worüber im Allgemeinen viel seltener diskutiert wird, ist die Epidemie, Kinder bis ins Kleinste hinein zu managen, so zu tun, als seien sie Ableger von uns, die uns gehörten. Daher lautet eine wichtige Frage, auf die ich später zurückkommen werde, wie wir Orientierung bieten und Grenzen setzen können (was beides nötig ist), ohne es mit der Kontrolle zu übertreiben. Zunächst jedoch müssen wir uns darüber klar werden, inwieweit wir es vielleicht tatsächlich übertreiben und warum das eine Versuchung ist, der wir widerstehen sollten.

Die Art, wie mit vielen Kindern umgegangen wird, zeugt von mangelndem Respekt für ihre Bedürfnisse und Vorlieben – ja, von einem mangelnden Respekt für Kinder, Punkt. Viele Eltern verhalten sich so, als glaubten sie, dass Kinder gar keinen Respekt wie den, den man Erwachsenen entgegenbringt, verdienten. Vor vielen Jahren forderte uns der Psychologe Haim Ginott auf, einmal darüber nachzudenken, wie wir reagieren würden, wenn unser Kind versehentlich etwas liegen gelassen hätte, was ihm gehörte – und es damit zu vergleichen, wie wir reagieren würden, wenn ein chronisch vergesslicher Freund von uns dasselbe täte. Kaum jemand käme auf den Gedanken, einen anderen Erwachsenen in dem Ton auszuschimpfen, der gegenüber Kindern an der Tagesordnung ist: „Was ist nur los mit dir? Wie oft muss ich dir noch sagen, dass du nachsehen sollst, ob du alles hast, bevor du gehst? Meinst du, ich hätte nichts Besseres zu tun als .“ und so weiter. Zu einem Erwachsenen würden wir wahrscheinlich einfach nur sagen: „Hier ist dein Schirm.“1

Manche Eltern greifen aus reiner Gewohnheit ein und bellen: „Hör auf zu rennen!“, auch wenn kaum ein Risiko besteht, sich oder andere zu verletzen oder etwas zu beschädigen. Manche erwecken den Eindruck, als versuchten sie, ihrem Kind seine eigene Machtlosigkeit unter die Nase zu reiben und ihm zu zeigen, wer der Boss ist: „Weil ich die Mama bin, deshalb!“ „Solange du die Füße unter meinen Tisch stellst.“ Manche versuchen, durch körperliche Gewalt Kontrolle über Kinder auszuüben, während andere Schuldgefühle einsetzen („Nach allem, was ich für dich getan habe! Du brichst mir das Herz.“). Manche Eltern meckern ständig an ihren Kindern herum, ermahnen und kritisieren sie permanent. Andere lassen sich gar nicht anmerken, dass sie gegen das, was ihre Kinder tun, etwas haben, bis sie anscheinend aus dem Nichts heraus explodieren; eine unsichtbare Grenze – die vielleicht mehr mit der Stimmung des Erwachsenen als mit dem Verhalten des Kindes zu tun hat – ist überschritten worden, und plötzlich wird die Mutter oder der Vater erschreckend wütend und wendet Zwang an.

Natürlich tun nicht alle Eltern all diese Dinge und manche tun nie irgendetwas davon. Studien haben ergeben, dass Überzeugungen und Verhaltensweisen im Bereich der Kindererziehung unter anderem je nach Kultur, sozialer Schicht und ethnischer Zugehörigkeit und danach, wie viel Druck die Eltern selbst erleben, variieren. (Siehe Anhang für nähere Angaben zu diesen Themen.) Darüber hinaus versichern uns Forscher, dass die meisten Eltern nicht immer denselben Erziehungsstil anwenden, sondern dazu neigen, auf verschiedene Arten von Fehlverhalten unterschiedlich zu reagieren.2

 

Doch die interessanteste Frage ist vielleicht, wie Eltern überhaupt entscheiden, was „Fehlverhalten“ eigentlich ist. Manche wenden diese Bezeichnung regelmäßig auf Dinge an, die Sie oder ich als harmlose Handlungen ansehen würden – und gehen dann scharf gegen ihre Kinder vor.3 Dies mag Teil eines Erziehungsstils sein, der manchmal als „autoritär“ bezeichnet wird. Solche Eltern sind eher streng und fordernd als tolerant und ermutigend. Sie geben selten Erklärungen oder Rechtfertigungen für die Regeln ab, die sie vorschreiben. Sie erwarten nicht nur absoluten Gehorsam und setzen reichlich Strafen ein, um diesen zu erreichen, sondern sind auch der Ansicht, es sei wichtiger für Kinder, sich Autoritäten zu fügen, als selbstständig zu denken oder die eigene Meinung auszudrücken. Sie bestehen darauf, Kinder müssten sorgfältig überwacht werden; und wenn Regeln verletzt werden – was ihren dunklen Verdacht darüber, wie Kinder wirklich sind, nur bestätigt –, neigen autoritäre Eltern zu der Annahme, das Kind habe die Regel mit voller Absicht übertreten, unabhängig von seinem Alter, und müsse nun zur Rechenschaft gezogen werden.

Erschreckenderweise sind dieselben Themen der „Unterwürfigkeit gegenüber den Forderungen der Eltern und… eine frühe Unterdrückung von Impulsen, die für die Eltern nicht hinnehmbar waren“ in einem klassischen, nach dem Zweiten Weltkrieg durchgeführten Forschungsprojekt zu finden, das sich mit dem psychologischen Gerüst des Faschismus und insbesondere der Kindheit von Menschen befasste, die damit aufwachsen, ganze Gruppen von Menschen zu hassen, und machtbesessen zu sein scheinen.4

Natürlich sind das die Extreme des breiten Spektrums der Kontrolle. Wenn man von solchen extremen Fällen hört, ist es ganz natürlich zu sagen: „Nun, offenbar bin ich ja nicht so. Ich bin weder autoritär, noch würde ich mein Kind auf dem Spielplatz anschreien, nur weil es Spaß hat.“ Doch fast jeder gibt zumindest gelegentlich dem Impuls der übertrieben starken Kontrolle nach. Manche tun dies aufgrund ihrer Überzeugung, Kinder müssten lernen zu tun, was man ihnen sagt (denn schließlich wissen es Erwachsene doch besser als Kinder, oder?). Manche Menschen haben eine kontrollierende Persönlichkeit und haben sich von Anfang an angewöhnt, ihren Kindern ihren Willen aufzuzwingen.5 Andere sind einfach hin und wieder ratlos, vor allem, wenn ihr Kind sich gegen sie auflehnt. Und vielen Eltern liegt das Wohlergehen ihrer Kinder wirklich am Herzen, jedoch haben sie nie die Möglichkeit in Erwägung gezogen, dass das, was sie tun, übermäßige und kontraproduktive Kontrolle darstellt.

Für die meisten von uns ist es leicht, Paradebeispiele schlechter Erziehung zu beobachten, Eltern, die ihre Kinder viel stärker kontrollieren als wir, und dann befriedigt festzustellen: „Wenigstens würde ich das nie tun.“ Doch die wirkliche Herausforderung besteht darin, über die Dinge zu reflektieren, die wir tun, und uns zu fragen, ob sie wirklich im Interesse unserer Kinder sind.

Welche Kinder tun, was man ihnen sagt?

Lassen wir die ehrgeizigen Ziele, die wir für unsere Kinder haben, einmal außer acht und richten den Blick nur darauf, was sie dazu bewegt, unseren Bitten Folge zu leisten. Wenn es uns nur darum ginge, sie zu bewegen, jetzt sofort, während wir da stehen, irgendetwas zu tun oder mit etwas aufzuhören, müssten wir zugeben, dass es manchmal funktioniert, wenn man seine Macht einsetzt, um dieses Verhalten zu erzwingen – zum Beispiel indem man droht, straft oder lautstark Forderungen stellt.6 Doch im Allgemeinen sind Kinder, die tun, was man ihnen sagt, oft die, deren Eltern nicht mit dem Einsatz von Macht arbeiten, sondern eine warme und sichere Beziehung zu ihnen entwickelt haben. Ihre Eltern behandeln sie mit Respekt, verwenden so wenig Kontrolle wie möglich und legen Wert darauf, Gründe und Erklärungen für das, worum sie bitten, zu liefern.

In einer klassischen Studie unterschieden die Forscher zwischen der Art Mutter, die sensibel, tolerant und kooperativ ist, und der, die davon ausgeht, dass sie „jedes Recht hat, mit ihrem Kind zu tun, was sie will, ihm ihren Willen aufzwingt, es nach ihren Vorstellungen formt und es willkürlich unterbricht, ohne seine Bedürfnisse, Wünsche oder das, was es gerade tut, zu berücksichtigen“. Und siehe da, die Mütter der ersten Kategorie – die weniger stark auf Kontrolle setzten – waren es, deren kleine Kinder eher dazu neigten, zu tun, was ihnen gesagt wurde.7

In einer zweiten Studie war die Wahrscheinlichkeit, einer bestimmten Aufforderung Folge zu leisten, bei den Zweijährigen am höchsten, deren Eltern „sehr klar sagten, was sie wollten, sich jedoch nicht nur die Einwände ihrer Kinder anhörten, sondern darüber hinaus noch auf eine Weise, die Respekt für die Autonomie und Individualität der Kinder ausdrückte, darauf eingingen“8.

Eine dritte Studie erhöhte quasi das Risiko, indem sie sich auf Vorschulkinder konzentrierte, die als besonders aufsässig galten. Einige ihrer Mütter wurden gebeten, so mit den Kindern zu spielen, wie sie es gewöhnlich taten, während die anderen aufgefordert wurden, „sich auf jede Beschäftigung einzulassen, die das Kind wählte, und die Art und Regeln der Interaktion vom Kind bestimmen zu lassen“. Sie wurden gebeten, dem Kind nichts zu befehlen, es nicht zu kritisieren und nicht zu loben. (Beachten Sie, dass auch Loben neben anderen Formen der Manipulation eingeschlossen wurde.) Nach dem Spiel richteten die Mütter auf die Bitte der Versuchsleiter an ihre Kinder eine Reihe von Aufforderungen, die mit dem Wegräumen der einzelnen Spielsachen zu tun hatten. Das Ergebnis: Die Kinder, über die weniger Kontrolle ausgeübt worden war – das heißt diejenigen, die mehr über ihr Spiel hatten bestimmen dürfen –, neigten mehr dazu, die Anweisungen ihrer Mütter zu befolgen.9

So bemerkenswert diese Versuchsergebnisse auch sein mögen – die Probleme, die mit traditioneller, auf Kontrolle beruhender Erziehung verbunden sind, werden noch deutlicher, wenn wir uns ansehen, was Kinder tun, nachdem der Erwachsene das Zimmer verlassen hat. Ein Forscher fragte sich nicht nur, welche Kleinkinder wohl eine Bitte, etwas zu tun (aufzuräumen), befolgen würden, sondern auch, welche Kinder die Bitte, etwas nicht zu tun (nämlich mit bestimmten Spielsachen zu spielen), befolgen würden, wenn sie alleine im Raum wären. Die Antwort auf beide Fragen war dieselbe: Die Kinder, die sich nach den Anweisungen richteten, waren die, deren Mütter sie im Allgemeinen unterstützten, liebevoll waren und gewaltsame Kontrolle vermieden.10

Es gibt noch viel mehr Beweismaterial. Zwei Psychologen untersuchten, was die aufrichtige, „engagierte“ Folgsamkeit im Gegensatz zur widerwilligeren, „situationsbezogenen“ Folgsamkeit fördert. Zwei andere wollten wissen, was ein Kind dazu bewegt, die Anweisungen eines Erwachsenen, der nicht seine Mutter oder sein Vater ist, zu befolgen.11 In beiden Fällen waren die Ergebnisse besser, wenn Kinder bei Eltern aufwuchsen, die sie mit Respekt behandelten und auf sie eingingen, als bei solchen, die den Schwerpunkt auf Kontrolle legten.

Ein Grund, weshalb ein strenger, autoritärer Erziehungsstil meist nicht besonders gut funktioniert, ist, dass wir unsere Kinder letzten Endes nicht steuern können – jedenfalls nicht dort, wo es darauf ankommt. Es ist sehr schwierig, ein Kind dazu zu bewegen, dieses Lebensmittel statt jenem zu essen oder hierhin statt dorthin zu pinkeln, und es ist einfach unmöglich, ein Kind zu zwingen, einzuschlafen, mit dem Schreien aufzuhören, uns zuzuhören oder zu respektieren. Diese Dinge sind für Eltern am anstrengendsten, eben weil wir hier an die natürlichen Grenzen dessen stoßen, was ein Mensch einem anderen aufzwingen kann. Besonders bei Säuglingen und dann wieder bei Jugendlichen erweist sich das Ziel der Kontrolle letztlich als Illusion.12 Doch leider hindert uns das nicht, neue, schlauere oder gewaltsamere Strategien auszuprobieren, um Kinder zum Gehorchen zu bewegen. Und wenn diese Methoden versagen, wird das oft als Beweis dafür angesehen, dass … noch mehr davon nötig sei.

Gegensätzliche Extreme

Es hat etwas Paradoxes, dass gerade die Eltern, denen das Kontrollieren ihrer Kinder am wichtigsten ist, letztlich oft am wenigsten Kontrolle über sie haben. Doch das ist noch nicht alles. Viel bedeutender ist die Tatsache, dass dieser machtzentrierte Ansatz nicht nur ineffektiv ist, sondern auch furchtbaren Schaden anrichtet, selbst wenn er zu funktionieren scheint. Wie der verstorbene Thomas Gordon, Begründer des Parent Effectiveness Training, einmal zu mir sagte: „Eine autokratische Umgebung macht die Menschen krank.“

Natürlich werden nicht alle Menschen auf die gleiche Art krank. Psychotherapeuten haben schon lange erkannt, dass eine einzige Ursache zu ganz unterschiedlichen Ergebnismustern führen kann. So setzen manche Menschen, die Zweifel an ihrem eigenen Wert haben, sich ständig selbst herab und verhalten sich unsicher, während andere mit den gleichen Zweifeln arrogant und selbstgefällig wirken, weil sie offenbar versuchen, ihr geringes Selbstwertgefühl durch ihr Auftreten auszugleichen. Diese anscheinend gegensätzlichen Persönlichkeiten können demselben Ursprung entstammen.

Ähnlich verhält es sich bei Kindern, deren Eltern auf absoluter Kontrolle bestehen. Manche dieser Kinder werden übermäßig folgsam, andere übermäßig aufsässig. Betrachten wir beide Reaktionen nacheinander.

Viele Eltern träumen davon, Kinder zu haben, die stets tun, was man ihnen sagt, doch wie ich schon in der Einleitung erläutert habe, ist es eigentlich kein gutes Zeichen, wenn Kinder durch Einschüchterung zum Gehorsam bewegt werden. Bei Erwachsenen machen wir uns über „Ja-Sager“, die immer derselben Meinung sind wie ihr Chef, lustig – wie kommen wir dann auf den Gedanken, „Ja-Sager-Kinder“ wären ideal?

1948 wurde in der Zeitschrift Child Development eine der ersten Studien zu diesem Thema veröffentlicht. Das Ergebnis der Studie war, dass Kinder im Vorschulalter, deren Eltern starke Kontrolle über sie ausübten, dazu neigten, „ruhig zu sein, sich gut zu benehmen und sich nicht aufzulehnen“. Jedoch interagierten sie nur wenig mit anderen Kindern, und es schien ihnen an Neugier und Originalität zu mangeln. „Autoritäre Kontrolle… führt zu Konformität, jedoch auf Kosten der persönlichen Freiheit“, schloss der Forscher aus seinen Beobachtungen.13

Über vier Jahrzehnte später erschien in derselben Zeitschrift eine Studie an rund 4100 Jugendlichen. Wieder lautete das Ziel der Studie, das psychische und soziale Wohlergehen dieser Jugendlichen zu untersuchen und dies dazu in Bezug zu setzen, wie sie erzogen wurden. Es stellte sich heraus, dass diejenigen, die autoritäre Eltern hatten, oft ein hohes Maß an „Gehorsam und Übereinstimmung mit den Erwartungen der Erwachsenen“ aufwiesen. Jedoch fügten die Forscher hinzu: „Diese Jugendlichen scheinen einen Preis hinsichtlich ihres Selbstbewusstseins bezahlt zu haben – sowohl, was ihr Selbstvertrauen angeht, als auch im Hinblick darauf, wie sie ihre eigenen sozialen und akademischen Fähig keiten wahrnehmen. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass eine Gruppe junger Menschen zum Gehorsam gezwungen wurde.“14

Übermäßige Folgsamkeit ist also eine mögliche Folge übermäßiger Kontrolle. Jedoch treibt derselbe Erziehungsstil manche Kinder auch in das andere Extrem – dazu, dass sie sich gegen alles und jedes auflehnen. Ihr Wille, ihr Urteilsvermögen, ihr Bedürfnis, etwas Selbstbestimmung über ihr Leben zu haben, sind unterdrückt worden, und sie können nur dadurch ein Gefühl von Autonomie wiederbekommen, dass sie sich übermäßig viel auflehnen.

Wenn wir Kinder dazu bringen, sich machtlos zu fühlen, weil wir sie zwingen, sich unserem Willen zu unterwerfen, löst das oft heftige Wut aus, und nur weil diese Wut in dem Augenblick nicht zum Ausdruck gebracht werden kann, bedeutet das nicht, dass sie verschwindet. Was mit der Wut geschieht, hängt von der Persönlichkeit des Kindes und den genauen Umständen ab. Manchmal kommt es zu weiteren Gefechten mit den Eltern. Wie die Autorin Nancy Samalin bemerkt: „Selbst wenn wir ‚gewinnen‘, verlieren wir. Wenn wir Kinder durch Gewalt, Drohungen oder Strafen zum Gehorchen bewegen, fühlen sie sich hilflos. Dieses Gefühl der Hilflosigkeit können sie nicht ausstehen, daher provozieren sie eine weitere Konfrontation, um zu beweisen, dass sie noch eine gewisse Macht haben.“15 Und von wem lernen sie, diese Macht zu benutzen? Von uns. Ein autoritärer Erziehungsstil macht sie nicht nur wütend, sondern lehrt sie auch, diese Wut gegen andere Menschen zu richten.16

 

Es kann passieren, dass solche Kinder ständig das Bedürfnis verspüren, Autoritätsfiguren eine lange Nase zu machen. Manchmal bringen sie die ganze Feindseligkeit mit in die Schule oder auf den Spielplatz. (Studien lassen darauf schließen, dass Kinder stark kontrollierender Eltern – sogar Kinder, die erst drei Jahre alt sind – besonders dazu neigen, sich Gleichaltrigen gegenüber störend und aggressiv zu verhalten, woraufhin diese vielleicht nichts mehr mit ihnen zu tun haben wollen.17 Natürlich ist eine solche erzwungene Isolation nicht gut für ihre Entwicklung.)

Es kommt auch vor, dass ein Kind Angst hat, sich offen aufzulehnen, jedoch einen Weg findet, es hinter dem Rücken seiner Eltern zu tun. Ein autoritärer Erziehungsstil kann dazu führen, dass die Kinder sich so gut benehmen, dass die ganze Nachbarschaft die Eltern darum beneidet. Doch oft haben diese Kinder nur gelernt, ihr Fehlverhalten, das bisweilen erschreckend bösartig sein kann, besser zu verbergen. Nach außen hin scheinen sie perfekt zu sein, doch in Wirklichkeit führen sie ein „Doppelleben“, wie ein Therapeut es formuliert hat: „Die Kontrolle der Erwachsenen und ihre Machtausübung (machten es) nötig, eine Art Doppelleben zu etablieren – eines, zu dem die Eltern zugelassen waren, und eines, von dem sie möglichst nichts wissen sollten.“18 Solche Kinder können ein erhöhtes Risiko haben, diverse psychische Störungen zu entwickeln. Auch können sie große Angst vor den Menschen entwickeln, die sie so behandelt haben, und sich dauerhaft von ihnen entfremden. Ähnlich wie eine an Bedingungen geknüpfte Liebe kann eine starke Kontrolle manchmal auf kurze Sicht zu Erfolgen führen, jedoch um den Preis, dass unsere Beziehung zu unseren Kindern im Lauf der Zeit schwer geschädigt wird.

Eine Mutter berichtete in einem Online-Diskussionsforum von einem verblüffenden Erlebnis. Sie erzählte, wie sie die Weihnachtsfeiertage einmal bei den Verwandten ihres Mannes verbracht habe, die mit strenger Disziplin erzogen worden waren und ihre Kinder nun ebenso erzogen. Während der Feiertage erzählten sie Geschichten über ihre diversen Jugendstreiche. „Diese wohlerzogenen, regelmäßig disziplinierten, höflichen Kinder verwandelten sich jedes Mal, wenn ihre Eltern ihnen den Rücken zuwandten, in wilde Rowdys“, berichtete sie. „Sie taten Dinge, die mir nie eingefallen wären.“ Auf ihrer Seite der Familie habe es dagegen „nie einen Verhaltensplan gegeben, ein Bonus- oder Bestrafungssystem, Stubenarrest, eine Tracht Prügel oder ein Wegnehmen von Vergnügungen“. Und ebenso wenig, beteuert sie, habe es ernsthaftes Fehlverhalten gegeben.

Damit will ich nicht sagen, man müsse sich immer gleich Sorgen machen, wenn ein Kind sich auflehnt. Ein gewisses Maß an Nein-Sagen ist völlig normal und gesund, vor allem im Alter von etwa zwei oder drei Jahren und dann wieder im frühen Teenageralter. Vielmehr meine ich hier ein übertriebenes, reaktives Sich-Auflehnen, das länger andauert und tiefer geht. Solche Kinder sind der lebende Beweis dafür, dass ein Erziehungsstil, der vor allem Gehorsam zum Ziel hat, oft sogar nach seinen eigenen Maßstäben versagt, ganz abgesehen davon, dass er eine Menge weiterer Probleme schafft.

Was ist die Alternative dazu, übermäßig folgsam zu sein oder sich übermäßig viel aufzulehnen? Was kennzeichnet solche Kinder? Wenn sie von ihren Eltern – und später auch von anderen Leuten – um etwas gebeten werden, sagen sie manchmal ja und manchmal nein und fühlen sich weder gezwungen, die Bitte zu befolgen, noch sich dagegen aufzulehnen. Oft tun sie das, worum man sie bittet, vor allem wenn sie den Eindruck haben, dass es vernünftig oder demjenigen, der die Bitte äußert, sehr wichtig ist. Mit einiger Wahrscheinlichkeit sind dies die Kinder von Eltern, die eine gute Vertrauensgrundlage aufgebaut haben, indem sie sie mit Respekt behandeln, ihre Bitten begründen und unrealistische Erwartungen an den Gehorsam der Kinder vermeiden. Solche Eltern haben sich mit der Tatsache angefreundet, dass ihre Kinder sich behaupten, indem sie sich ab und zu auflehnen, und sie überreagieren nicht, wenn dies geschieht.

Zu viel essen, weniger Freude an dem, was man tut – und andere Folgen von Kontrolle

In Kapitel 2 habe ich die Auswirkungen eines an Bedingungen geknüpften Selbstwertgefühls geschildert und die Arbeiten der an der Universität Rochester tätigen Psychologen Richard Ryan und Edward Deci erwähnt. (Deci war auch an der Studie an Hochschulstudenten beteiligt, bei der diverse negative Folgen eines an Bedingungen geknüpften Erziehungsstils festgestellt wurden.) Diese beiden Forscher sowie ihre Mitarbeiter und ehemalige Studenten haben im Lauf der vergangenen Jahrzehnte Beweismaterial dafür zusammengetragen, dass es meist ungünstige Folgen hat, wenn sich Menschen verschiedenen Alters kontrolliert fühlen, ganz gleich, ob die Kontrolle durch Strafen, Belohnungen, durch eine an Bedingungen geknüpfte Liebe, durch offenen Zwang oder andere Mittel erreicht wird.

Im Hinblick auf die Erziehung von Kindern haben sie festgestellt, dass je stärker sich Kinder eingeschränkt und kontrolliert fühlen, umso höher die Wahrscheinlichkeit „offenen Widerstands gegen das, was Sozialisieret fördern wollen“, ist – und umso instabiler ist meist auch die Identität oder das Selbstgefühl des Kindes.19 Betrachten wir noch einmal die Studie an Hochschulstudenten. Warum richtete es solchen Schaden an, wenn sie von ihren Eltern die Botschaft „Ich liebe dich nur, wenn du…“ zu hören bekamen? Weil diese Botschaft dazu führte, dass sie sich von innen kontrolliert fühlten. Sie wuchsen mit dem Gefühl auf, sie müssten sich auf eine bestimmte Weise verhalten – oder Erfolg haben –, um ihren Eltern zu gefallen und letztlich um mit sich selbst zufrieden sein zu können. Die zentrale Formulierung in dem Satz ist sie müssten: Sie fühlten sich psychologisch gesehen nicht frei, anders zu handeln.

Eine Verinnerlichung des Drangs, sich gut zu benehmen, hart zu arbeiten oder sonst etwas zu tun, um Mama oder Papa zu gefallen, ist nichts Gutes, wenn man nicht das Gefühl hat, dass das Handeln einer echten Entscheidung entspringt. Und laut dieser Studie war das bei den Hochschulstudenten nicht der Fall. Diejenigen, die glaubten, ihre Eltern liebten sie nur unter bestimmten Bedingungen, neigten viel eher zu der Aussage, ihr Handeln beruhe oft mehr auf einem „starken inneren Druck“ als auf „dem Gefühl, wirklich eine Entscheidung getroffen zu haben“. Sie äußerten auch, dass ihr Glücksgefühl über einen Erfolg gewöhnlich nur von kurzer Dauer sei, ihre Meinung über sich selbst stark schwanke und dass sie sich oft schuldig fühlten oder schämten.20

Deci und Ryan sind der Überzeugung, dass Kinder nicht nur mit bestimmten grundlegenden Bedürfnissen einschließlich des Bedürfnisses, in einem bestimmten Maß selbst über ihr Leben bestimmen zu können, geboren werden, sondern auch mit der Fähigkeit, Entscheidungen auf eine Weise zu treffen, die ihren Bedürfnissen entspricht; sie verfügen über ein „Gyroskop natürlicher Selbstregulierung“. Wenn wir Kinder übermäßig kontrollieren – etwa indem wir ihnen Belohnungen und Lob dafür anbieten, dass sie tun, was wir wollen –, beginnen sie von externen Steuerungsquellen abhängig zu werden. Das Gyroskop gerät ins Wanken und sie verlieren ihre Fähigkeit der Selbstregulierung.21

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