Liebe und Eigenständigkeit

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1Wenn Elternliebe an Bedingungen geknüpft ist

Bisweilen hat mich der Gedanke getröstet, dass sich meine Kinder trotz all der Fehler, die ich als Vater gemacht habe (und die ich weiterhin machen werde), gut entwickeln werden, ganz einfach deshalb, weil ich sie aus ganzem Herzen liebe. Schließlich heilt Liebe alle Wunden. Alles besiegt die Liebe. Liebe bedeutet, sich nie dafür entschuldigen zu müssen, dass man heute Morgen in der Küche einen Wutanfall bekommen hat.

Dieser beruhigende Gedanke beruht auf der Vorstellung, es gäbe ein Ding namens Elternliebe, eine einzige Substanz, die man seinen Kindern in einer größeren oder kleineren Menge schenken könne (wobei eine größere Menge natürlich besser sei). Doch was ist, wenn sich diese Annahme als verhängnisvolle Vereinfachung erweist? Was ist, wenn es tatsächlich verschiedene Arten gibt, ein Kind zu lieben, und wenn nicht alle davon gleichermaßen wünschenswert sind? Die Psychoanalytikerin Alice Miller hat einmal bemerkt, es sei möglich, ein Kind hingebungsvoll zu lieben – ihm jedoch nicht die Art von Liebe zu schenken, die es braucht. Falls sie Recht hat, ist nicht nur die Frage entscheidend, ob – oder wie sehr – wir unsere Kinder lieben. Es kommt auch darauf an, wie wir sie lieben.

Wenn wir das verstanden haben, könnten wir ziemlich schnell eine lange Liste verschiedener Arten elterlicher Liebe erstellen und Ratschläge geben, welche besser sind als andere. In diesem Buch wird ein solcher Unterschied näher beleuchtet: Kinder dafür zu lieben, was sie tun, oder Kinder dafür zu lieben, wer sie sind. Die erste Art von Liebe ist an Bedingungen geknüpft, das heißt, Kinder müssen sich unsere Liebe dadurch verdienen, dass sie sich so verhalten, wie wir es für angemessen halten, oder dadurch, dass ihre Leistungen unseren Erwartungen entsprechen. Die zweite Art von Liebe ist bedingungslos: Sie hängt nicht davon ab, wie sie sich verhalten, ob sie erfolgreich sind oder gute Manieren haben oder irgendetwas sonst.

Ich möchte das Konzept bedingungsloser Elternliebe mit einem Werturteil und einer Voraussage begründen. Das Werturteil lautet ganz einfach: Kinder sollten sich unsere Anerkennung nicht verdienen müssen. Wir sollten sie, wie meine Freundin Deborah sagt, „ohne jeden Grund“ lieben. Darüber hinaus kommt es nicht nur darauf an, dass wir selbst davon überzeugt sind, sie bedingungslos zu lieben, sondern dass sie sich auch auf diese Weise geliebt fühlen.

Die Voraussage lautet, dass es sich positiv auswirken wird, wenn wir Kinder bedingungslos lieben. Es ist nicht nur in moralischer Hinsicht das Richtige, sondern es ist auch klug, dies zu tun. Kinder haben das Bedürfnis, so, wie sie sind, und als die Menschen, die sie sind, geliebt zu werden. Wenn sie das erleben, können sie sich selbst als im Grunde gute Menschen annehmen, auch wenn ihnen etwas misslingt oder sie einmal versagen. Und wenn dieses Grundbedürfnis erfüllt ist, sind sie auch freier, andere Menschen anzunehmen und ihnen zu helfen. Kurz gesagt, bedingungslose Liebe ist das, was Kinder brauchen, um zu gedeihen.

Dennoch tendieren wir Eltern oft dazu, unsere Anerkennung an Bedingungen zu knüpfen. Dies liegt nicht nur an den Überzeugungen, die uns vermittelt wurden, sondern auch an der Art, wie wir erzogen wurden. Man könnte sagen, wir wurden dazu konditioniert, unsere Liebe von Bedingungen abhängig zu machen. Die Wurzeln dieser Neigung reichen tief ins amerikanische (und auch deutsche) Bewusstsein. Tatsächlich scheint bedingungsloses Annehmen sogar als Vorstellung Seltenheitswert zu haben: Wenn man im Internet nach Varianten des Wortes bedingungslos sucht, stößt man größtenteils auf Diskussionen über Religion oder über Haustiere. Offenbar fällt es vielen Leuten schwer, sich Liebe zwischen Menschen ohne Bedingungen vorzustellen.

Für ein Kind beziehen sich diese Bedingungen zum Teil auf gutes Benehmen und zum Teil auf Leistung. In diesem und dem folgenden Kapitel geht es um das Benehmen und vor allem darum, wie viele verbreitete Erziehungsstrategien bei Kindern das Gefühl hervorrufen, sie würden nur dann akzeptiert, wenn sie sich so benehmen, wie wir es von ihnen verlangen. In Kapitel 5 werde ich erläutern, wie manche Kinder schlussfolgern, die Liebe ihrer Eltern hänge von ihrer Leistung – etwa in der Schule oder beim Sport – ab.

In der zweiten Hälfte dieses Buches mache ich konkrete Vorschläge, wie wir diesen Ansatz hinter uns lassen und unseren Kindern etwas schenken können, was der Art von Liebe, die sie brauchen, näher kommt. Zunächst jedoch möchte ich das Konzept von Elternliebe, die an Bedingungen geknüpft ist, umfassender untersuchen: welche Annahmen ihm zugrunde liegen (und inwiefern sich diese von denen unterscheiden, die bedingungsloser Liebe zugrunde liegen) und welche Auswirkungen es auf Kinder hat.

Zwei Arten, mit Kindern umzugehen: Annahmen, die ihnen zugrunde liegen

Meine Tochter Abigail machte einige Monate nach ihrem vierten Geburtstag eine schwierige Phase durch, vielleicht weil ein Rivale in die Familie gekommen war. Sie widersetzte sich, wenn man sie um etwas bat, war oft schlecht gelaunt, schrie, stampfte mit den Füßen auf. Alltägliche Rituale eskalierten schnell zu Machtkämpfen. Ich weiß noch, wie sie eines Abends versprochen hatte, nach dem Essen gleich in die Wanne zu gehen. Doch sie tat es nicht – und als wir sie an ihr Versprechen erinnerten, schrie sie so laut, dass ihr kleiner Bruder aufwachte. Als wir sie baten, leiser zu sein, schrie sie weiter.

Nun stellt sich folgende Frage: Sollten meine Frau und ich, nachdem sich alles wieder beruhigt hatte, zum normalen Abendritual, das darin bestand, mit Abigail zu kuscheln und ihr ein Buch vorzulesen, übergehen? Bei einem Erziehungsansatz, bei dem Elternliebe an Bedingungen geknüpft ist, lautet die Antwort nein: Wir würden ihr inakzeptables Verhalten belohnen, wenn wir die üblichen angenehmen Beschäftigungen darauf folgen ließen. Diese Beschäftigungen sollten heute ausfallen und man sollte ihr sanft, aber bestimmt mitteilen, warum diese „Konsequenz“ verhängt werde.

Diese Handlungsweise kommt vielen von uns angenehm vertraut vor und stimmt mit dem überein, was in vielen Elternratgebern empfohlen wird. Darüber hinaus muss ich zugeben, dass ich eine gewisse Genugtuung dabei empfunden hätte, meine Autorität zu demonstrieren, weil ich mich über Abigails Trotz wirklich ärgerte. Ich hätte das Gefühl gehabt, dass ich, der Vater, mich durchsetzte, ihr klarmachte, dass sie sich nicht so aufführen durfte. Ich wäre wieder derjenige, der die Macht hätte.

Der bedingungslose Erziehungsansatz sagt jedoch, dass dies eine Versuchung sei, der man widerstehen sollte, und dass wir sehr wohl mit unserer Tochter kuscheln und ihr wie gewohnt eine Geschichte vorlesen sollten. Das bedeutet allerdings nicht, dass wir das, was gerade geschehen war, einfach ignorieren sollten. Bedingungslose Elternliebe ist kein schicker Begriff für die Vorstellung, man solle Kinder alles tun lassen, was sie wollen. Es ist sehr wichtig (sobald der Sturm vorüber ist), etwas zu lehren, gemeinsam nachzudenken – und genau das taten wir auch mit unserer Tochter, nachdem wir ihr eine Geschichte vorgelesen hatten. Was wir ihr vermitteln wollten, konnte sie viel besser lernen, wenn sie wusste, dass unsere Liebe zu ihr durch ihr Verhalten ungeschmälert war.

Ob wir uns darüber Gedanken gemacht haben oder nicht – jeder dieser beiden Erziehungsstile beruht auf ganz bestimmten Ansichten über Psychologie, über Kinder und sogar über die Natur des Menschen. Zunächst einmal steht der an Bedingungen geknüpfte Erziehungsansatz in einem engen Zusammenhang mit einer als Behaviorismus bekannten Gedankenrichtung, die im Allgemeinen mit B. F. Skinner verbunden wird. Sie zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass sie den Blick ausschließlich auf das Verhalten richtet, wie der Name schon sagt. Gemäß dieser Ansicht ist an Menschen nur das von Bedeutung, was man sehen und messen kann. Einen Wunsch oder eine Angst kann man nicht sehen, daher konzentriert man sich nur darauf, was Menschen tun.

Weiterhin glaubt man, alle Verhaltensweisen träten nur auf, wenn sie „verstärkt“ würden, und hörten ebenso wieder auf, wenn sie nicht „verstärkt“ würden. Behavioristen gehen davon aus, dass sich alles, was wir tun, dadurch erklären lässt, ob es eine Art Belohnung nach sich zieht, sei es eine, die gezielt angeboten wird, oder eine, die von Natur aus auftritt. Wenn sich ein Kind seinen Eltern gegenüber liebevoll verhält oder seinen Nachtisch mit einem Freund teilt, liege das nur daran, dass dies in der Vergangenheit positive Folgen für es gehabt hat.

Kurzum: Äußere Faktoren, zum Beispiel wofür man schon einmal belohnt (oder bestraft) wurde, bestimmen, wie „wir uns verhalten“ – und „wie wir uns verhalten“, ist gleichbedeutend mit „wer wir sind“. Sogar Menschen, die noch nie ein Buch von Skinner gelesen haben, scheinen seine Annahmen akzeptiert zu haben. Wenn Eltern und Lehrer ständig über das „Verhalten“ eines Kindes sprechen, tun sie so, als käme es nur darauf an, was auf der Oberfläche zu sehen ist. Es spielt keine Rolle, was für ein Mensch ein Kind ist, was es denkt oder fühlt oder braucht. Vergessen Sie Motive und Werte: Es kommt nur darauf an, das, was sie tun, zu ändern. Das ist natürlich eine Aufforderung, sich auf Erziehungsmethoden zu verlassen, deren einziger Zweck darin besteht, ein bestimmtes Verhalten von Kindern zu fördern oder abzustellen.

Ein konkreteres Beispiel für alltäglichen Behaviorismus: Vielleicht sind Sie schon Eltern begegnet, die ihre Kinder zwingen, sich zu entschuldigen, wenn sie etwas Verletzendes oder Gemeines getan haben. („Kannst du sagen, dass es dir leid tut?“) Was geschieht hier? Glauben die Eltern, dadurch, dass sie ihre Kinder dazu bewegen, diesen Satz auszusprechen, stellte sich auf wundersame Weise das Gefühl ein, es tue ihnen wirklich leid, trotz jedes gegenteiligen Anscheins? Oder, was noch schlimmer wäre, interessiert es Sie gar nicht, ob es dem Kind wirklich leid tut, weil Ehrlichkeit unwichtig ist und es nur darauf ankommt, die richtigen Worte auszusprechen? Durch erzwungene Entschuldigungen lernen Kinder nur, Dinge zu sagen, die sie gar nicht wirklich meinen – mit anderen Worten, zu lügen.

 

Doch dies ist nicht einfach eine isolierte Erziehungspraxis, die man überdenken sollte, sondern eins der vielen möglichen Beispiele dafür, wie das Skinnersche Denken – die alleinige Konzentration auf das Verhalten – unser Verständnis von Kindern eingeschränkt und der Art, wie wir mit ihnen umgehen, geschadet hat. Man kann dies auch bei Programmen feststellen, mit deren Hilfe kleine Kinder lernen sollen, alleine einzuschlafen oder aufs Töpfchen zu gehen. Vom Blickwinkel dieser Programme aus gesehen, spielt es keine Rolle, warum ein Kind im Dunkeln weint. Der Grund könnte Angst, Langeweile, Einsamkeit, Hunger oder sonst etwas sein. Ebenso ist es unwichtig, warum ein Kleinkind nicht in die Toilette pinkeln will, wenn seine Eltern es dazu auffordern. Experten, die Schritt-für-Schritt-Rezepte anbieten, damit Kinder „lernen“, alleine in einem Zimmer zu schlafen, oder die uns empfehlen, das Pinkeln in die Toilette mit Sternchen, Süßigkeiten oder Lob zu belohnen, interessieren sich nicht für die Gedanken, Gefühle und Absichten, die einem Verhalten zugrunde liegen, sondern nur für das Verhalten als solches. (Zwar habe ich nicht nachgezählt, um den Beweis zu erbringen, aber ich würde versuchsweise folgende Faustregel vorschlagen: Der Wert eines Erziehungsbuches ist umgekehrt proportional zu der Anzahl der Erwähnungen des Wortes Verhalten.)

Kommen wir noch einmal auf Abigail zu sprechen. Bei einem an Bedingungen geknüpften Erziehungskonzept wird angenommen, dass wir, wenn wir ihr vorlesen oder auf andere Weise das Fortbestehen unserer Liebe zu ihr zum Ausdruck bringen, sie nur ermutigen, noch einen Tobsuchtsanfall zu bekommen. Sie lerne, es sei in Ordnung, das Baby zu wecken und sich gegen das Baden zu wehren, weil sie unsere Zuneigung angeblich als Verstärkung für das, was sie getan hat, interpretiert.

Bei einem bedingungslosen Erziehungsansatz sieht man diese Situation – und Menschen im Allgemeinen – völlig anders. Zunächst einmal sollten wir diesem Konzept zufolge darüber nachdenken, dass die Gründe für das, was Abigail getan hat, möglicherweise mehr „innen“ als „außen“ zu finden sind. Ihr Handeln kann nicht unbedingt auf mechanische Weise erklärt werden, indem man externe Faktoren wie positive Reaktionen auf früheres ähnliches Verhalten betrachtet. Vielleicht fühlt sie sich überwältigt von Ängsten, die sie nicht benennen kann, oder von Frustrationen, die sie nicht auszudrücken weiß.

Das bedingungslose Erziehungskonzept geht davon aus, dass Verhaltensweisen nur der äußere Ausdruck von Gefühlen und Gedanken, Bedürfnissen und Absichten sind. Auf den Punkt gebracht: Es geht um das Kind, das ein bestimmtes Verhalten zeigt, nicht nur um das Verhalten selbst. Kinder sind keine Haustiere, die man dressiert, oder Computer, die man darauf programmiert, auf eine Eingabe immer gleich zu reagieren. Kinder verhalten sich aus vielen unterschiedlichen Gründen, die manchmal schwer zu ermitteln sind, so und nicht so. Doch wir können diese Gründe nicht einfach ignorieren und nur auf die Auswirkungen (sprich die Verhaltensweisen) reagieren. Ja, jeder dieser Gründe erfordert wahrscheinlich eine ganz unterschiedliche Vorgehensweise. Sollte es sich zum Beispiel herausstellen, dass Abigail so trotzig war, weil es sie verunsichert, dass wir ihrem kleinen Bruder so viel Aufmerksamkeit widmen, müssen wir uns damit auseinandersetzen und nicht einfach versuchen, die Art, wie sie ihre Angst zum Ausdruck bringt, zu unterdrücken.

Neben unseren Bemühungen, Gründe für bestimmte Verhaltensweisen zu finden und uns damit zu befassen, ist eines unbedingt erforderlich: Sie muss wissen, dass wir sie lieben, komme, was wolle. Ja, heute Abend ist es besonders wichtig für sie, mit uns kuscheln zu können, an dem, was wir tun, erkennen zu können, dass unsere Liebe zu ihr unerschütterlich ist. Das wird ihr helfen, diese schwierige Phase zu überstehen.

Auf jeden Fall wird das Verhängen von etwas, was auf eine Strafe hinausläuft, kaum einen konstruktiven Beitrag leisten. Wahrscheinlich wird sie daraufhin noch einmal zu weinen anfangen. Und selbst wenn diese Maßnahme sie vorübergehend zum Schweigen bringt oder sie daran hindert, ihre Gefühle morgen Abend zum Ausdruck zu bringen, aus Angst, dass wir dann auf Distanz zu ihr gehen, wird die Gesamtwirkung kaum positiv sein. Das liegt erstens daran, dass diese Maßnahme nicht berücksichtigt, was in ihrem Kopf vorgeht, und zweitens daran, dass das, was wir als Lektion für sie ansehen, in ihren Augen wie ein Liebesentzug wirkt. Im Allgemeinen wird sie sich dadurch noch unglücklicher, einsamer und hilfloser fühlen. Im Besonderen wird sie lernen, dass sie nur dann geliebt wird – und liebenswert ist –, wenn sie sich so verhält, wie wir es wollen. Die vorhandene Forschung, mit der ich mich gleich befassen werde, legt nahe, dass die Lage dadurch nur verschlimmert wird.

Im Lauf der Jahre habe ich über diese Dinge nachgedacht und bin zu der Überzeugung gelangt, dass sich ein an Bedingungen geknüpftes Erziehungskonzept nicht allein durch den Behaviorismus erklären lässt. Noch etwas anderes spielt hier eine Rolle. Stellen Sie sich noch einmal die Situation vor: Ein kleines Mädchen schreit, offenbar ganz außer sich, und als sie sich wieder beruhigt hat, liegt ihr Vater mit dem Arm um sie im Bett und liest ihr eine Geschichte vor. Der Verfechter eines an Bedingungen geknüpften Erziehungskonzeptes erwidert darauf: „Nein, nein, nein, dadurch verstärken Sie nur ihr schlechtes Benehmen! Sie bringen ihr bei, es sei in Ordnung, ungezogen zu sein!“

Diese Interpretation spiegelt nicht nur eine Annahme darüber wider, was Kinder in einer bestimmten Situation lernen, sondern auch wie sie lernen. Sie zeugt von einer schrecklich negativen Ansicht über Kinder – und, davon abgeleitet, über die menschliche Natur. Sie beruht auf der Annahme, dass Kinder uns ausnutzen wollen, wo sie nur können. Wenn man ihnen den kleinen Finger reicht, nehmen sie gleich die ganze Hand. Sie ziehen den schlimmstmöglichen Schluss aus einer mehrdeutigen Situation (nicht „Ich werde trotzdem geliebt“, sondern: „Ja! Es ist okay, Ärger zu machen!“). Ein Kind ohne Wenn und Aber anzunehmen wird dann nur als Erlaubnis interpretiert, sich selbstsüchtig, fordernd, gierig oder rücksichtslos zu benehmen. Zumindest teilweise beruht das an Bedingungen geknüpfte Erziehungskonzept also auf der zutiefst zynischen Überzeugung, das Annehmen von Kindern so, wie sie sind, gebe ihnen nur die Freiheit, schlecht zu sein – weil sie eben schlecht seien.1

Im Gegensatz dazu sollten wir uns beim bedingungslosen Erziehungskonzept als Erstes ins Gedächtnis rufen, dass Abigails Ziel nicht darin besteht, mich unglücklich zu machen. Sie handelt nicht böswillig. Sie teilt mir auf die einzige Weise, die sie kennt, mit, dass etwas nicht stimmt. Das kann etwas sein, was geschehen ist, etwas, was ihr unterschwellig schon eine Weile zu schaffen macht. Dieser Ansatz zeugt von Vertrauen in Kinder und stellt die Annahme in Frage, sie würden die falsche Lektion lernen, wenn man ihnen Zuneigung schenkt, oder sie wollten sich immer schlecht benehmen, wenn sie glaubten, damit durchkommen zu können.

Eine solche Sichtweise ist weder romantisch noch unrealistisch, noch leugnet sie die Tatsache, dass Kinder (und Erwachsene) manchmal gemeine Dinge tun. Kinder brauchen Anleitung und Hilfe, ja, aber sie sind keine kleinen Monster, die gezähmt oder gefügig gemacht werden müssen. Sie besitzen die Fähigkeit, mitfühlend oder aggressiv zu sein, altruistisch oder selbstsüchtig, kooperativ oder konkurrierend. Viel hängt davon ab, wie sie aufwachsen – einschließlich der Frage, ob sie das Gefühl haben, bedingungslos geliebt zu werden. Und wenn kleine Kinder einen Trotzanfall bekommen oder sich weigern, wie versprochen in die Badewanne zu gehen, lässt sich dies oft auf ihr Alter zurückführen – das heißt auf ihre Unfähigkeit, die Ursache ihrer Unzufriedenheit zu verstehen, ihre Gefühle auf angemessenere Weise auszudrücken, sich an ihre Versprechen zu erinnern und sie einzuhalten. Die Entscheidung zwischen einem an Bedingungen geknüpften und einem bedingungslosen Erziehungskonzept ist also eine Entscheidung zwischen zwei radikal unterschiedlichen Sichtweisen der menschlichen Natur.

Doch es gibt noch mehr Annahmen, die wir offenlegen sollten. In unserer Gesellschaft wird uns beigebracht, etwas Gutes müsse man sich stets verdienen und dürfe es niemals geschenkt bekommen. Viele Menschen werden sogar wütend, wenn sie glauben, diese Regel sei verletzt worden. Denken Sie zum Beispiel an die Ablehnung, die viele Menschen gegenüber Sozialhilfe und denjenigen, die sie beziehen, empfinden. Oder an die rasante Ausbreitung von leistungsorientierten Entlohnungssystemen am Arbeitsplatz. Oder an die vielen Lehrer, die alles, was Spaß macht, (etwa die Pause) als eine Art Lohn dafür definieren, dass die Schüler den Erwartungen des Lehrers entsprechen.

Letztlich spiegelt ein an Bedingungen geknüpftes Erziehungskonzept die Tendenz wider, fast jede Interaktion, sogar zwischen Mitgliedern einer Familie, als eine Art wirtschaftliche Trans aktion anzusehen. Die Gesetze des Marktes – Angebot und Nachfrage, wie du mir, so ich dir – haben den Status universeller und absoluter Grundsätze angenommen, als entspräche alles in unserem Leben, einschließlich unseres Verhaltens gegenüber unseren Kindern, dem Kauf eines Autos oder dem Mieten einer Wohnung.

Ein Autor eines Erziehungsratgebers – ein Behaviorist, was natürlich kein Zufall ist – drückt es so aus: „Wenn ich mit meinem Kind einen Ausflug machen oder wenn ich es umarmen und küssen möchte, muss ich mir erst sicher sein, dass es das auch verdient hat.“2 Bevor Sie dies als die Ansicht eines einzelnen Extremisten abtun, denken Sie daran, dass die berühmte Psychologin Diana Baumrind (siehe S.124) ein ähnliches Argument gegen ein bedingungsloses Erziehungskonzept vorbringt: „Das Gesetz der Wechselseitigkeit, des Bezahlens für einen erhaltenen Wert, ist ein Lebensgesetz, das für uns alle gilt.“3

Auch scheinen viele Autoren und Therapeuten, die das Thema nicht explizit ansprechen, dennoch von einer Art ökonomischem Modell auszugehen. Wenn man zwischen den Zeilen liest, scheinen ihre Ratschläge auf der Ansicht zu beruhen, man solle Kindern das, was sie mögen, vorenthalten, wenn sie sich nicht so verhalten, wie wir es wollen. Schließlich sollte man nichts ohne Gegenleistung bekommen. Nicht einmal Glück. Oder Liebe.

Wie oft haben Sie Leute schon sagen gehört – nachdrücklich und trotzig –, etwas sei „ein Privileg und kein Recht“? Manchmal male ich mir aus, eine wissenschaftliche Studie durchzuführen, um zu ermitteln, welche Persönlichkeitsmerkmale im Allgemeinen bei Menschen zu finden sind, die diese Haltung vertreten. Stellen Sie sich jemanden vor, der darauf besteht, dass man alles, von Eis bis hin zu Aufmerksamkeit, davon abhängig machen sollte, wie Kinder sich benehmen, und es nie einfach verschenken sollte. Können Sie sich diese Person vorstellen? Welchen Gesichtsausdruck sehen Sie? Wie glücklich ist dieser Mensch? Genießt er oder sie es wirklich, mit Kindern zusammen zu sein? Hätten Sie diese Person gern zum Freund?

Wenn ich den Spruch „ein Privileg und kein Recht“ höre, frage ich mich oft, was derjenige, der das sagt, überhaupt als Recht ansehen würde. Gibt es irgendetwas, auf das Menschen einfach einen Anspruch haben? Gibt es keine Beziehungen, auf die wir lieber keine Wirtschaftsgesetze anwenden wollen? Zwar erwarten Erwachsene, für ihre Arbeit entlohnt zu werden, ebenso wie sie erwarten, für Essen und Trinken bezahlen zu müssen. Doch die Frage ist, ob oder unter welchen Umständen eine ähnliche „Gegenseitigkeitsregel“ auch für unseren Umgang mit Freunden und Familienmitgliedern gilt. Sozialpsychologen haben festgestellt, dass es tatsächlich Personen gibt, zu denen wir eine Art Austauschbeziehung haben: Ich tue nur etwas für dich, wenn du etwas für mich tust (oder mir etwas gibst). Doch sie fügen hinzu, dass dies (glücklicherweise) nicht für all unsere Beziehungen gilt, von denen manche auf Zuneigung statt auf Austausch beruhen. Eine Studie kam sogar zu dem Ergebnis, dass Menschen, die ihre Beziehungen zu ihrem Ehepartner als ein Tauschgeschäft sehen und darauf achten, genau so viel zu bekommen, wie sie geben, oft Ehen führen, die weniger befriedigend sind.4

 

Wenn unsere Kinder heranwachsen, werden sie reichlich Gelegenheit haben, wirtschaftlich zu agieren, ihre Rolle als Verbraucher und Arbeitskraft einzunehmen, wobei die Regeln des Eigeninteresses und die Bedingungen jedes wirtschaftlichen Austausches präzise kalkuliert werden können. Doch das bedingungslose Erziehungskonzept plädiert dafür, dass die Familie ein sicherer Hafen, ein Ort der Zuflucht vor solchen Geschäften sein sollte. Insbesondere sollte man in keiner Hinsicht für die Liebe seiner Eltern bezahlen müssen. Sie ist schlicht und einfach ein Geschenk. Es ist etwas, worauf alle Kinder ein Anrecht haben.

Wenn Ihnen das einleuchtet und auch andere der zugrunde liegenden Annahmen des bedingungslosen Erziehungskonzepts für Sie plausibel klingen – dass wir das ganze Kind und nicht nur einzelne Verhaltensweisen betrachten sollten, dass wir nicht stets das Schlechteste über die Neigungen von Kindern annehmen sollen und so weiter –, müssen wir all die konventionellen Erziehungsmethoden, die auf dem Gegenteil dieser Annahmen beruhen, in Frage stellen. Diese Praktiken, die das an Bedingungen geknüpfte Erziehungskonzept bestimmen, sind meistens Arten, mit Kindern (als Objekten) etwas zu tun, um Gehorsam herbeizuführen. Im Gegensatz dazu sind die Empfehlungen in der zweiten Hälfte dieses Buches, die sich ganz natürlich aus dem bedingungslosen Erziehungsansatz ergeben, Variationen des Themas, mit Kindern zusammenzuarbeiten, um ihnen zu helfen, gute Menschen zu werden und gute Entscheidungen zu treffen.

Die Unterschiede zwischen diesen beiden Konzepten könnte man also folgendermaßen zusammenfassen:


BEDINGUNGSLOSAN BEDINGUNGEN GEKNÜPFT
Blick richtet sich aufDas ganze Kind (einschließlich der Gründe, Gedanken und Gefühle)Verhalten
Sicht der menschlichen NaturPositiv oder ausgeglichenNegativ
Sicht der ElternliebeEin GeschenkEin Privileg, das verdient werden muss
StrategienZusammenarbeiten (Problemlösungen finden)Mit Kindern als Objekten etwas tun (Kontrolle durch Belohnungen und Bestrafungen)

Die Folgen eines an Bedingungen geknüpften Erziehungskonzepts

Ebenso, wie es sein kann, dass unsere Erziehungsmethoden nicht im Einklang mit unseren langfristigen Zielen für unsere Kinder stehen (siehe Einleitung), kann es einen Widerspruch zwischen Methoden des an Bedingungen geknüpften Erziehungsansatzes und unseren tiefsten Überzeugungen geben. In beiden Fällen kann es sinnvoll sein, zu überdenken, was wir mit unseren Kindern tun. Doch die Argumente gegen ein an Bedingungen geknüpftes Erziehungskonzept hören nicht damit auf, dass es im Zusammenhang mit Werten und Annahmen steht, die viele von uns beunruhigend finden. Sie werden sogar noch stärker, wenn wir untersuchen, wie sich ein solcher Erziehungsstil tatsächlich auf Kinder auswirkt.

Vor fast einem halben Jahrhundert antwortete der bahnbrechende Psychologe Carl Rogers auf die Frage: „Was geschieht, wenn die Liebe der Eltern davon abhängt, was Kinder tun?“ Er erklärte, dass die Empfänger einer solchen Liebe die Teile von sich, die nicht geschätzt werden, ablehnen. Schließlich sehen sie sich selbst nur dann als wertvoll an, wenn sie sich auf eine bestimmte Weise verhalten (oder entsprechend denken oder fühlen).5 Das ist im Grunde ein Rezept für eine Neurose – oder schlimmer. In einer Publikation des irischen Department of Health and Children (die von anderen Organisationen auf der ganzen Welt verbreitet und übernommen wurde) sind zehn Beispiele für „emotionale Misshandlung“ aufgeführt. Die Nummer zwei auf dieser Liste, gleich hinter „ständiger Kritik, Sarkasmus, Feindseligkeit oder Beschuldigung“, lautet „an Bedingungen geknüpfte Erziehung, bei der das Maß an Zuneigung, das einem Kind gegenüber ausgedrückt wird, von seinem Verhalten oder seinen Handlungen abhängig gemacht wird“.6

Wenn man sie fragte, würden die meisten Eltern beteuern, natürlich liebten sie ihre Kinder bedingungslos, und dies gelte trotz der Verwendung von Strategien, deren Problematik ich (und andere Autoren) herausgestellt habe. Manche Eltern würden vielleicht sogar sagen, dass sie ihre Kinder auf diese Weise disziplinieren, weil sie sie lieben. Doch ich möchte auf eine Bemerkung zurückkommen, die ich bisher nur nebenbei geäußert habe. Welche Gefühle wir gegenüber unseren Kindern empfinden, ist nicht so wichtig wie die Frage, wie sie diese Gefühle erleben und wie sie unsere Art, mit ihnen umzugehen, ansehen. Pädagogen erinnern uns daran, dass es in einer Klasse nicht so sehr darauf ankommt, was der Lehrer lehrt, wie darauf, was der Schüler lernt. So verhält es sich auch in Familien. Es kommt auf die Botschaft an, die bei unseren Kindern ankommt, nicht auf die, die wir zu senden glauben.

Forscher, die sich bemüht haben, die Auswirkungen unterschiedlicher Erziehungsstile zu untersuchen, hatten oft Schwierigkeiten, das, was bei den Leuten zu Hause tatsächlich geschieht, zu ermitteln und zu erfassen. Es ist nicht immer möglich, die relevanten Interaktionen aus erster Hand zu beobachten (oder auf Video aufzuzeichnen), daher mussten einige Versuche in Labors durchgeführt werden, wo ein Elternteil und ein Kind aufgefordert wurden, gemeinsam etwas zu tun. Manchmal werden Eltern auch befragt oder gebeten, einen Fragebogen auszufüllen, um Angaben über ihren Erziehungsstil zu machen. Wenn die Kinder alt genug sind, werden vielleicht sie gefragt, was ihre Eltern tun – oder, wenn sie schon erwachsen sind, was ihre Eltern früher getan haben.

Jede dieser Methoden hat ihre Nachteile und die Wahl der Methode kann sich auf die Studienergebnisse auswirken. Wenn Eltern und Kinder zum Beispiel aufgefordert werden, einzeln zu beschreiben, was bei ihnen zu Hause üblich ist, weichen ihre Schilderungen oft deutlich voneinander ab.7 Wenn es eine objektive Möglichkeit gibt, die Wahrheit herauszufinden, erweisen sich die Berichte der Kinder über das Verhalten ihrer Eltern interessanterweise als genauso zutreffend wie die Berichte der Eltern über ihr eigenes Verhalten.8

Doch die entscheidende Frage lautet nicht, wer Recht hat, was sich ohnehin kaum beantworten lässt, wenn es um Gefühle geht. Vielmehr kommt es darauf an, wessen Sicht im Zusammenhang mit verschiedenen Auswirkungen auf die Kinder steht. Betrachten wir eine Studie, in der eine Variante des an Bedingungen geknüpften Erziehungsansatzes untersucht wurde. Kindern, deren Eltern angaben, auf diese Weise zu erziehen, ging es nicht schlechter als Kindern, deren Eltern angaben, anders zu erziehen. Doch als der Forscher die Kinder daraufhin einteilte, ob sie den Eindruck hatten, dass ihre Eltern diesen Erziehungsstil verwendeten, war der Unterschied auffallend. Im Durchschnitt ging es Kindern, die sagten, nach ihrem Empfinden sei die Zuneigung ihrer Eltern zu ihnen an Bedingungen geknüpft, nicht so gut wie Kindern, die den gegenteiligen Eindruck hatten.9 Die Einzelheiten der Studie werde ich später diskutieren; hier geht es mir darum, dass das, was wir zu tun glauben (oder wovon wir überzeugt sind, dass wir es nicht tun), hinsichtlich der Auswirkungen auf unsere Kinder keine so große Rolle spielt wie die Art, wie sie unser Tun erleben.

Im Lauf der letzten Jahre hat es einen kleinen Anstieg der Forschungsarbeiten über den an Bedingungen geknüpften Erziehungsstil gegeben, und eine der bemerkenswertesten wurde 2004 veröffentlicht. Im Rahmen dieser Studie wurden über hundert Hochschulstudenten einzeln befragt, ob die Liebe, die sie von ihren Eltern bekommen hätten, von einem der folgenden vier Faktoren abhängig gewesen sei: ob der Betreffende als Kind (1) in der Schule erfolgreich gewesen sei, (2) sich beim Sport angestrengt habe, (3) sich anderen gegenüber rücksichtsvoll verhalten habe oder (4) negative Gefühle, wie etwa Angst, unterdrückt habe. Den Studenten wurden noch mehrere andere Fragen gestellt, unter anderem, ob sie tatsächlich dazu neigten, sich so zu verhalten (also ihre Gefühle zu verbergen, viel für Prüfungen lernten usw.), und wie sie sich mit ihren Eltern verstanden.