Liebe und Eigenständigkeit

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Es stellte sich heraus, dass das Knüpfen von Liebe an Bedingungen zumindest teilweise das erwünschte Verhalten hervorrief. Bei Kindern, die nur dann Anerkennung von ihren Eltern bekamen, wenn sie ein bestimmtes Verhalten zeigten, war es etwas wahrscheinlicher, dass sie sich entsprechend verhielten – sogar auf der Hochschule. Doch der Preis dieser Strategie war erheblich. Die Studenten, die glaubten, die Liebe ihrer Eltern zu ihnen sei an Bedingungen geknüpft, neigten viel eher dazu, sich abgelehnt zu fühlen und als Folge davon ihre Eltern nicht zu mögen und Groll gegen sie zu empfinden.

Sicher können Sie sich vorstellen, dass diese Eltern, wenn man sie gefragt hätte, alle verkündet hätten: „Ich weiß nicht, wie mein Kind auf so eine Idee kommt! Ich liebe es, egal, was geschieht!“ Nur dadurch, dass die Forscher die (inzwischen erwachsenen) Kinder direkt befragten, bekamen sie eine ganz andere – und sehr beunruhigende – Geschichte zu hören. Viele der Studenten hatten den Eindruck, regelmäßig weniger Zuneigung bekommen zu haben, wenn es ihnen nicht gelungen war, ihre Eltern zu beeindrucken, oder wenn sie ihnen nicht gehorcht hatten – und bei eben diesen Studenten waren die Beziehungen zu den Eltern oft angespannt.

Zum Beweis führten die Forscher eine zweite Studie durch, diesmal mit über hundert Müttern erwachsener Kinder. Auch bei dieser Generation erwies sich das Knüpfen von Liebe an Bedingungen als schädlich. Die Mütter, die als Kinder den Eindruck gehabt hatten, nur geliebt zu werden, wenn sie die Erwartungen ihrer Eltern erfüllten, fühlten sich nun als Erwachsene weniger wertvoll. Erstaunlicherweise jedoch neigten sie dazu, denselben Erziehungsstil zu verwenden, sobald sie Eltern wurden. Die Mütter knüpften bei ihren eigenen Kindern Zuneigung an Bedingungen, „obwohl diese Strategie negative Auswirkungen auf sie gehabt hatte“.10

Zwar ist dies (soweit ich weiß) die erste Studie, die zeigt, dass ein an Bedingungen geknüpfter Erziehungsstil an die eigenen Kinder weitergegeben werden kann, jedoch haben andere Psychologen ähnliche Belege für dessen Folgen gefunden. Manche davon werden im nächsten Kapitel diskutiert, in dem zwei bestimmte Arten, wie ein an Bedingungen geknüpfter Erziehungsansatz praktisch umgesetzt wird, geschildert werden. Doch auch in allgemeiner Hinsicht sind die Ergebnisse ziemlich erdrückend. So hat etwa eine Gruppe von Forschern an der Universität Denver gezeigt, dass es bei Teenagern, die das Gefühl haben, bestimmte Bedingungen erfüllen zu müssen, um die Anerkennung ihrer Eltern zu gewinnen, passieren kann, dass sie sich schließlich selbst nicht mehr mögen. Das wiederum kann einen Heranwachsenden dazu bewegen, ein „falsches Selbst“ zu konstruieren – mit anderen Worten, vorzugeben, er sei die Art von Mensch, den seine Eltern lieben werden. Diese verzweifelte Strategie, Anerkennung zu gewinnen, ist oft verbunden mit Depression, einem Gefühl der Hoffnungslosigkeit und einer Tendenz, das Gefühl für das eigene wahre Selbst zu verlieren. Irgendwann wissen solche Teenager vielleicht gar nicht mehr, wer sie wirklich sind, weil sie sich solche Mühe geben mussten, etwas zu sein, was sie nicht sind.11

Über Jahre hinweg haben Forscher festgestellt, dass „je mehr die Unterstützung (die man bekommt) an Bedingungen geknüpft ist, umso geringer das allgemeine Selbstwertgefühl“ ist. Wenn Kinder Zuneigung nur unter bestimmten Bedingungen erleben, neigen sie dazu, auch sich selbst nur unter bestimmten Bedingungen zu akzeptieren. Im Gegensatz dazu tendieren diejenigen, die den Eindruck haben, bedingungslos angenommen zu werden – von ihren Eltern oder einer anderen Studie zufolge sogar von einem Lehrer –, dazu, ein besseres Selbstwertgefühl zu haben,12 genau wie Carl Rogers es vorhersagte.

Und das führt uns zum eigentlichen Zweck dieses Buches, der zentralen Frage, über die Sie vielleicht einmal nachdenken können. In den Fragebögen, die verwendet werden, um den an Bedingungen geknüpften Erziehungsansatz zu untersuchen, werden Teenager oder Erwachsene meist gebeten, anzugeben, ob sie Sätzen wie den folgenden „stark zustimmen“, „zustimmen“, „neutral gegenüberstehen“, „nicht zustimmen“ oder „überhaupt nicht zustimmen“: „Meine Mutter bewahrte selbst bei unseren schlimmsten Konflikten ein Gefühl liebevoller Verbundenheit zu mir“ oder „Wenn mein Vater anderer Meinung ist als ich, weiß ich, dass er mich trotzdem liebt.“13 Wie würden Sie sich wünschen, dass Ihre Kinder eine derartige Frage in fünf oder zehn oder fünfzehn Jahren beantworten würden – und was glauben Sie, wie sie sie beantworten werden?


2Liebe schenken und Liebe entziehen

Als Wissenschaftler in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts anfingen, Erziehungsmethoden zu untersuchen, neigten sie dazu, das, was Eltern mit ihren Kindern taten, danach zu klassifizieren, ob es auf Macht oder auf Liebe beruhte. Auf Macht beruhende Erziehungsmethoden umfassten Schlagen, Schreien und Drohen. Auf Liebe beruhende Erziehungsmethoden umfassten so ziemlich alles andere. Die Forschungsergebnisse zeigten schnell, dass Macht zu schlechteren Ergebnissen führte als Liebe.

Leider wurden unter dieser zweiten Rubrik sehr viele verschiedene Strategien in einen Topf geworfen. Manche bestanden daraus, vernünftig mit Kindern zu reden und ihnen etwas zu erklären, ihnen Wärme und Verständnis entgegenzubringen. Andere Methoden jedoch waren viel weniger liebevoll. Ja, manche von ihnen liefen darauf hinaus, durch Liebe Kontrolle über Kinder auszuüben, entweder indem ihnen Liebe entzogen wurde, wenn sie sich schlecht benahmen, oder indem man sie mit Aufmerksamkeit und Zuneigung überhäufte, wenn sie sich gut benahmen. Dies sind die beiden Gesichter des an Bedingungen geknüpften Erziehungsansatzes: „Liebesentzug“ (Peitsche) und „positive Verstärkung“ (Zuckerbrot). In diesem Kapitel möchte ich untersuchen, wie diese beiden Methoden in der Praxis aussehen, welche Folgen sie haben und welche Gründe es für diese Folgen gibt. Später werde ich das Konzept der Bestrafung noch genauer betrachten.

Auszeit von der Liebe

Wie alles andere kann Liebesentzug auf verschiedene Weise und in unterschiedlichen Intensitätsgraden eingesetzt werden. An einem Ende der Skala kann ein Elternteil als Reaktion auf etwas, was das Kind getan hat, ein ganz klein wenig zurückweichen, kühler und weniger herzlich werden – vielleicht ohne sich dessen überhaupt bewusst zu sein. Am anderen Ende der Skala kann eine Mutter oder ein Vater ganz direkt verkünden: „Ich hab dich nicht lieb, wenn du dich so benimmst“ oder: „Wenn du so etwas tust, will ich überhaupt nicht in deiner Nähe sein.“

Manche Eltern entziehen ihre Liebe einfach dadurch, dass sie sich weigern, auf ihr Kind zu reagieren – das heißt, indem sie es absichtlich ignorieren. Vielleicht sprechen sie es nicht aus, doch die Botschaft, die sie senden, ist ziemlich klar: „Wenn du etwas tust, was mir nicht gefällt, schenke ich dir keine Aufmerksamkeit. Ich tue so, als wärst du gar nicht hier. Wenn du willst, dass ich dich wieder zur Kenntnis nehme, solltest du mir lieber gehorchen.“

Wieder andere Eltern trennen sich räumlich von ihrem Kind. Dies kann man auf zweierlei Art tun. Die Mutter oder der Vater kann entweder selbst weggehen (woraufhin das Kind möglicherweise schluchzt oder in Panik schreit: „Mama, komm zurück! Komm zurück!“) oder das Kind in sein Zimmer oder an einen anderen Ort verbannen, wo der Elternteil nicht ist. Diese Taktik könnte man zutreffend als erzwungene Isolierung bezeichnen. Doch dieser Ausdruck wäre vielen Eltern unangenehm, daher wird meist eine harmlosere Bezeichnung verwendet, die uns ermöglicht, das, was wirklich dabei geschieht, nicht beim Namen nennen zu müssen. Der verbreitete Euphemismus lautet, wie Sie vielleicht schon erraten haben, Auszeit.

In Wirklichkeit ist diese sehr beliebte Erziehungsmethode eine Form von Liebesentzug – zumindest dann, wenn Kinder gegen ihren Willen fortgeschickt werden. Nichts ist verkehrt daran, einem Kind die Möglichkeit zu geben, in sein Zimmer oder an einen anderen angenehmen Ort zu gehen, wenn es wütend oder aufgeregt ist. Wenn sich das Kind selbst entschieden hat, etwas Zeit alleine zu verbringen, und wenn es alle Aspekte (wann es gehen kann, wohin es gehen kann, was es tun kann und wann es wieder zurückkommen kann) selbst bestimmen kann, wird dies nicht als Verbannung oder Strafe erlebt und ist oft hilfreich. Darum geht es mir hier jedoch nicht. Ich meine „Auszeit“ in dem Sinne, wie der Begriff gewöhnlich verwendet wird, als Urteil, das von der Mutter oder dem Vater verhängt wird: Einzelhaft.

Einen Hinweis zum Wesen dieser Methode liefert der Ursprung des Begriffs. Auszeit im pädagogischen Sinne ist dem Ausdruck Auszeit von positiver Verstärkung entnommen. Diese Methode wurde vor fast einem halben Jahrhundert zum Trainieren von Versuchstieren entwickelt. B. F. Skinner und seine Schüler bemühten sich beispielsweise, Tauben beizubringen, als Reaktion auf blinkende Lichter auf bestimmte Tasten zu drücken, und zu diesem Zweck experimentierten sie mit verschiedenen Systemen, Futter als Belohnung für das anzubieten, was die Forscher wollten. Manchmal probierten sie auch aus, die Vögel zu bestrafen, indem ihnen das Futter vorenthalten wurde oder indem alle Lampen ausgeschaltet wurden, um zu sehen, ob dies das Verhalten, auf die Tasten zu picken, „auslöschen“ würde. Die Versuche wurden auch an anderen Tierarten durchgeführt. So veröffentlichte ein Kollege Skinners im Jahr 1958 einen Artikel mit dem Titel „Verhaltenssteuerung bei Schimpansen und Tauben durch Auszeit von positiver Verstärkung“.

Binnen weniger Jahre erschienen in denselben Zeitschriften über experimentelle Psychologie mehrere Artikel mit Titeln wie „Dauer der Auszeit und Unterdrückung von abweichendem Verhalten bei Kindern“. Die Kinder, für die im Rahmen der betreffenden Studie Auszeiten verhängt wurden, wurden als „zurückgebliebene Heimkinder“ beschrieben. Doch bald wurde diese Art des Eingreifens ganz allgemein empfohlen, und sogar Erziehungsexperten, die über die Vorstellung, Kinder wie Versuchstiere zu behandeln, entsetzt gewesen wären, gaben Eltern enthusiastisch den Rat, ihren Kindern eine Auszeit zu geben, wenn sie etwas Falsches getan hatten. Rasch wurde die Auszeit zu dem „in der Fachliteratur am häufigsten empfohlenen Verfahren zur Disziplinierung vorpubertärer Kinder“.1

 

Wir sprechen also von einer Methode, die ursprünglich zur Steuerung tierischen Verhaltens eingesetzt wurde. Jedes dieser drei Worte kann Anlass zu Fragen geben, die uns beunruhigen können. Dem letzten Wort sind wir natürlich schon begegnet: Sollten wir unseren Blick nur auf das Verhalten richten? Bei einer Auszeit geht es, wie bei allen Bestrafungen und Belohnungen, nur um die Oberfläche. Sie dient ausschließlich dazu, ein Geschöpf zu bewegen, etwas Bestimmtes zu tun (oder damit aufzuhören).

Das Wort in der Mitte – tierischen – erinnert uns daran, dass die Behavioristen, die die Methode der Auszeit erfanden, der Ansicht waren, Menschen unterschieden sich nicht sehr von anderen Arten. Zwar „zeigen“ wir ein komplexeres Verhalten, einschließlich der Sprache, doch die Grundsätze des Lernens sind angeblich ziemlich ähnlich. Wer diese Überzeugung nicht teilt, denkt vielleicht lieber noch einmal darüber nach, ob er bei seinen Kindern eine Methode anwendet, die für Vögel und Nagetiere entwickelt wurde.

Und schließlich bleibt noch die Frage, die sich durch dieses ganze Buch zieht: Ist es sinnvoll, der Erziehung unserer Kinder ein Modell der Steuerung, der Kontrolle, zugrunde zu legen?

Selbst wenn die Geschichte und die theoretische Grundlage Sie nicht beunruhigen, betrachten Sie noch einmal den ursprünglichen Titel Auszeit von positiver Verstärkung.. Meist sind ja Eltern nicht gerade dabei, ihren Kindern Aufkleber oder Süßigkeiten zu geben, und beschließen plötzlich, damit aufzuhören. Was also ist die positive Verstärkung, die ausgesetzt wird, wenn ein Kind eine Auszeit bekommt? Manchmal macht es vielleicht gerade etwas, was Spaß macht, und wird gezwungen aufzuhören. Doch das ist nicht immer der Fall – und selbst wenn es so ist, steckt noch mehr dahinter, denke ich. Wenn man ein Kind fortschickt, ist das, was ihm wirklich weggenommen oder entzogen wird, Ihre Gegenwart, Ihre Aufmerksamkeit, Ihre Liebe. Vielleicht haben Sie das noch nicht so gesehen. Ja, möglicherweise bestehen Sie darauf, Ihrer Liebe zu Ihrem Kind habe sein Fehlverhalten nichts anhaben können. Doch wie wir gesehen haben, kommt es darauf an, wie sich die Dinge für das Kind darstellen.

Die Folgen des Liebesentzugs

In einem späteren Kapitel werde ich mehr über Alternativen zu Auszeiten sagen. Doch schauen wir uns zunächst das ganze Konzept des Liebesentzugs einmal genauer an. Für viele Menschen würde die erste Frage lauten, ob diese Methode funktioniert. Jedoch erweist sich diese Frage wieder als komplizierter, als sie scheint. Wir müssen fragen: „Was heißt ‚funktioniert‘?“, und wir müssen eine zeitweilige Änderung des Verhaltens gegen mögliche tiefer greifende und länger andauernde negative Folgen abwägen. Mit anderen Worten, wir müssen über die kurzfristigen Auswirkungen hinausblicken und wir müssen auch darauf achten, was sich unter der Oberfläche des sichtbaren Verhaltens abspielt. Denken Sie an die im letzten Kapitel beschriebene Befragung von Hochschulstudenten, bei der sich herausstellte, dass sich durch eine an Bedingungen geknüpfte Liebe zwar das Verhalten von Kindern mitunter erfolgreich ändern lässt, jedoch zu einem gewaltigen Preis. Dasselbe gilt auch für die konkrete Methode des Liebesentzugs.

Betrachten wir diesen Bericht der Mutter eines kleinen Jungen, den wir Lee nennen wollen:

Vor einiger Zeit stellte ich fest, dass ich, wenn Lee anfing Theater zu machen, gar nicht drohen musste, ihm irgendwelche schönen Dinge zu verbieten; ich musste nicht einmal laut werden. Ich teilte ihm nur ruhig mit, dass ich jetzt das Zimmer verlassen würde. Manchmal brauchte ich bloß auf die andere Seite des Zimmers zu gehen, von ihm weg, und zu sagen, ich würde warten, bis er aufhörte, zu schreien oder sich zu wehren oder was auch immer. Meistens war das erstaunlich wirkungsvoll. Er bettelte dann: „Nein, nicht!“, und wurde sofort ruhig oder tat, was ich ihm gesagt hatte. Anfangs zog ich daraus den Schluss, dass eine leichte Hand genügte. Ich konnte ihn dazu bringen, zu tun, was ich wollte, ohne ihn bestrafen zu müssen. Aber ich musste ständig an die Angst denken, die ich in seinen Augen sah. Mir wurde klar, dass das, was ich tat, für Lee eine Strafe war – vielleicht nur eine symbolische, aber eine, die ihm verdammt viel Angst einjagte.

Eine bedeutende Studie über die Wirksamkeit des Liebesentzugs stützt im Prinzip die Schlussfolgerung dieser Mutter: Manchmal scheint diese Methode tatsächlich zu wirken, doch das bedeutet nicht, dass wir sie anwenden sollten. Anfang der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts untersuchten Forscher des amerikanischen National Institute of Mental Health (NIMH), was Mütter mit ihren ungefähr ein Jahr alten Kindern machten. Offenbar wurde Liebesentzug – das bewusste Ignorieren eines Kindes oder das Erzwingen einer Trennung – in der Regel mit anderen Strategien kombiniert. Unabhängig davon, um welche Methoden es sich dabei handelte – vom Erklären bis hin zum Schlagen –, steigerte die zusätzliche Anwendung von Liebesentzug die Wahrscheinlichkeit, dass diese noch sehr kleinen Kinder die Wünsche ihrer Mütter befolgen würden, zumindest im Moment.

Doch die Forscher waren angesichts dessen, was sie sahen, eher besorgt als beruhigt und sie betonten, dass sie Eltern nicht raten würden, Liebesentzug anzuwenden. Erstens wiesen sie darauf hin, dass „Disziplinartechniken, die sofortige Folgsamkeit wirksam sicherstellen, nicht unbedingt auf lange Sicht wirksam sind“. Zweitens stellten sie fest, dass „Kinder auf Liebesentzug möglicherweise auf eine Weise reagieren, die in den Augen der Eltern Anlass zu weiteren Disziplinarmaßnamen gibt“. So kann ein Teufelskreis entstehen, bei dem Kinder schreien und protestieren, was zu weiterem Liebesentzug führt, was wiederum zu weiterem Schreien und Protestieren führt und so weiter. Und schließlich waren die Forscher auch dann, wenn diese Methode zum Erfolg führte, besorgt darüber, warum sie funktionierte.2

Vor vielen Jahren stellte ein Psychologe namens Martin Hoffman die Unterscheidung zwischen auf Macht beruhenden und auf Liebe beruhenden Erziehungsmethoden in Frage, indem er darauf hinwies, dass Liebesentzug, ein verbreitetes Beispiel für die zweite Methode, in Wirklichkeit viel mit härteren Formen von Bestrafung gemeinsam hat. Bei beiden Methoden wird Kindern vermittelt, dass wir ihnen, falls sie etwas tun, was uns nicht gefällt, Leid zufügen werden, um ihr Verhalten zu ändern. (Die einzige Frage ist dann nur noch, welche Art von Leid wir ihnen zufügen werden: körperlichen Schmerz durch Schlagen oder seelischen Schmerz durch erzwungene Isolierung.) Und beide beruhen darauf, dass Kinder dazu bewegt werden, sich auf die Folgen ihres Handelns für sich selbst zu konzentrieren, was natürlich etwas ganz anderes ist, als Kinder dazu zu erziehen, darüber nachzudenken, wie sich ihr Handeln auf andere Menschen auswirkt.

Hoffman äußerte daraufhin eine noch überraschendere Vermutung: In manchen Situationen könne Liebesentzug sogar schlimmer als andere augenscheinlich härtere Strafen sein. „Auch wenn Liebesentzug für das Kind keine körperliche oder materielle Bedrohung darstellt“, schrieb er, „kann er emotional verheerender sein als Durchsetzung von Macht, weil er die elementare Drohung des Verlassenwerdens oder der Trennung beinhaltet.“ Außerdem „weiß die Mutter oder der Vater, wann es wieder vorbei sein wird, doch ein sehr junges Kind weiß das möglicherweise noch nicht, weil es vollkommen von den Eltern abhängig ist und ihm darüber hinaus die Erfahrung und das Zeitgefühl fehlen, um zu erkennen, dass die Haltung der Eltern nur vorübergehend so ist“3.

Selbst Kinder, denen klar ist, dass Mama oder Papa irgendwann wieder mit ihnen sprechen (oder sie von ihrer Auszeit befreien) werden, erholen sich vielleicht nicht ganz von den Nachwirkungen dieser Bestrafung. Methoden des Liebesentzugs können zwar erfolgreich dazu führen, dass das Verhalten eines Kindes für Erwachsene akzeptabler wird, doch die Triebkraft hinter diesem Erfolg ist die tief empfundene „Angst vor einem möglichen Verlust der elterlichen Liebe“4, sagt Hoffman. Eben das stimmte auch die Forscher vom NIMH nachdenklich, obwohl sie festgestellt hatten, dass Liebesentzug zu zeitweiligem Gehorsam führen kann. Ja, eine andere Gruppe von Psychologen beobachtete, dass diese Form der Disziplinierung „ein Kind oft länger in einen Zustand emotionalen Unbehagens versetzt“5 als eine Prügelstrafe.

Es gibt nicht sehr viele wissenschaftliche Forschungsarbeiten über Liebesentzug, doch die wenigen, die es gibt, haben erschreckend übereinstimmende Ergebnisse zutage gebracht. Kinder, bei denen diese Methode angewandt wird, neigen dazu, ein geringeres Selbstwertgefühl zu haben. Sie zeigen Anzeichen einer allgemein schlechteren emotionalen Gesundheit und sind möglicherweise sogar stärker gefährdet, straffällig zu werden. Wenn wir die umfassendere Kategorie der „psychologischen Kontrolle“ seitens der Eltern zugrunde legen (Liebesentzug gilt als „definierendes Merkmal“ einer solchen Kontrolle), können wir feststellen, dass bei älteren Kindern, die so behandelt werden, die Wahrscheinlichkeit, Depressionen zu entwickeln, im Vergleich zu Gleichaltrigen erhöht ist.6

Keine Frage: Eltern haben erhebliche Macht, „ihre Kinder aufgrund ihres Bedürfnisses nach elterlicher Zuneigung und Anerkennung und ihrer Angst vor Verlust der emotionalen Unterstützung der Eltern zu manipulieren“7. Jedoch ist diese Angst etwas anderes als beispielsweise die Angst vor der Dunkelheit, aus der die meisten Menschen irgendwann herauswachsen. Vielmehr ist es die Art von Angst, die ebenso dauerhaft wie erdrückend sein kann. Wenn wir jung sind, ist für uns nichts wichtiger als das, was unsere Eltern für uns empfinden. Ungewissheit darüber oder Panik davor, verlassen zu werden, können ihre Spuren bis ins Erwachsenenalter hinterlassen.

Daher ist es absolut einleuchtend, dass die auffallendste langfristige Auswirkung von Liebesentzug Angst ist. Menschen, die von ihren Eltern so behandelt wurden, neigen oft auch als junge Erwachsene noch dazu, ungewöhnlich ängstlich zu sein. Viele von ihnen haben Angst, Ärger zu zeigen. Sie neigen zu erheblichen Versagensängsten. Und ihre Beziehungen zu anderen Erwachsenen sind oft durch das Bedürfnis, eine engere Bindung zu vermeiden, beeinträchtigt –vielleicht weil sie in der Angst leben, erneut verlassen zu werden. (Erwachsene, die in der Kindheit Liebesentzug erlebt haben, haben möglicherweise „beschlossen, dass ‚die Bedingungen dieses Vertrags unmöglich zu erfüllen sind‘. Das heißt, sie konnten nie damit rechnen, die Anerkennung und Unterstützung ihrer Eltern, die sie brauchten, zu verdienen, und daher versuchen sie nun ihr Leben so zu gestalten, dass sie nicht von Schutz und emotionalem Beistand anderer abhängig sind.“8)

Damit will ich nicht sagen, das Leben Ihres Kindes sei ganz sicher verpfuscht, nur weil Sie es einmal in sein Zimmer geschickt haben, als es vier Jahre alt war. Gleichzeitig ist jedoch diese Liste möglicher Folgen nichts, was ich mir heute Morgen unter der Dusche überlegt habe. Sie beruht nicht auf Spekulationen oder auch auf Anekdoten von Therapeuten. Kontrollierte Studien haben einen Zusammenhang zwischen all diesen Ängsten und der früheren Anwendung von Liebesentzug durch die Eltern erwiesen. In Erziehungsratgebern werden diese Daten fast nie erwähnt, doch ihre Gesamtwirkung muss ernst genommen werden.

Noch ein weiteres Forschungsergebnis sollte genannt werden: die Folgen für die moralische Entwicklung der Kinder. Im Rahmen einer Studie an Siebtklässlern stellte Hoffman fest, dass die Anwendung von Liebesentzug mit einer weniger entwickelten Form von Moralität assoziiert war. Bei der Entscheidung, wie sie sich anderen Menschen gegenüber verhalten sollten, berücksichtigten diese Kinder weder die jeweiligen Umstände noch die Bedürfnisse einer bestimmten Person. Da sie gelernt hatten, genau das zu tun, was man ihnen sagte, um die Liebe ihrer Eltern nicht zu verlieren, neigten sie dazu, einfach nur auf eine starre, pauschale Art Regeln anzuwenden. Wenn es uns ein ernstes Anliegen ist, unseren Kindern zu helfen, zu mitfühlenden und psychisch gesunden Menschen heranzuwachsen, müssen wir uns bewusst werden, wie schwer das ist, wenn wir uns auf Liebesentzug – oder, wie wir später sehen werden, auf irgendeine Art von Strafen – stützen.

 

Belohnungen nützen nichts

Finden Sie es beunruhigend zu hören, dass Auszeiten und andere „mildere“ Formen von Bestrafungen in Wirklichkeit vielleicht gar nicht so harmlos sind? Dann machen Sie sich jetzt auf etwas gefasst. Die Kehrseite des Liebesentzugs – das heißt, die andere Methode, die im Zusammenhang mit einer an Bedingungen geknüpften Liebe steht – ist nichts anderes als positive Verstärkung, ein Konzept, das bei Eltern, Lehrern und anderen Leuten, die mit Kindern zu tun haben, enorm beliebt ist. Selbst Menschen, die Warnungen hinsichtlich der unbeabsichtigten Folgen strafender Disziplin aussprechen, fordern uns meist völlig bedenkenlos auf, unsere Kinder zu loben, wenn sie sich gut benehmen.

Etwas mehr Hintergrundangaben sind hier angebracht.10 In unserer Kultur gibt es am Arbeitsplatz, in der Schule und in der Familie zwei grundlegende Strategien, mittels derer Menschen mit mehr Macht ver suchen, Menschen mit weniger Macht zum Gehorchen zu bewegen. Eine davon ist das Bestrafen von Ungehorsam. Die andere ist das Belohnen von Gehorsam. Die Belohnung kann eine Bezahlung oder ein Privileg sein, ein Sternchen oder eine Süßigkeit, ein Aufkleber oder die Mitgliedschaft in einer angesehenen studentischen Vereinigung. Doch auch Lob kann eine Belohnung sein. Um zu verstehen, was es bedeutet, wenn Sie zu Ihrem Kind „Gut gemacht!“ sagen, müssen Sie die ganze Zuckerbrot-und-Peitsche-Philosophie, zu der eine solche Bemerkung gehört, verstehen.

Als Erstes gilt es zu verstehen, dass Belohnungen auffallend unwirksam darin sind, die Qualität der Arbeit oder der schulischen Leistungen von Menschen zu verbessern. Eine große Anzahl von Studien kam zu dem Schluss, dass sowohl Kinder als auch Erwachsene weniger Erfolg bei vielen Aufgaben haben, wenn ihnen eine Belohnung dafür angeboten wird, sie zu erledigen – oder sie gut zu erledigen. Die ersten Wissenschaftler, die das entdeckten, waren davon ganz überrascht. Sie hatten erwartet, eine Art Prämie für gute Leistungen würde Menschen motivieren, bessere Leistungen zu erbringen, doch sie stellten immer wieder fest, dass das Gegenteil zutraf. So haben Studien wiederholt gezeigt, dass Schüler unter ansonsten gleichen Voraussetzungen in der Regel besser lernen, wenn es keine Einsen zur Belohnung gibt – das heißt in Klassen, wo Leistungsbeschreibungen ohne Noten verwendet werden.

Doch was ist, wenn wir den Blick mehr auf Verhalten und Werte als auf Leistungen richten? Natürlich müssen wir zugeben, dass sich mit Belohnungen – ebenso wie mit Bestrafungen – oft zeitweiliger Gehorsam erkaufen lässt. Wenn ich Ihnen jetzt sofort tausend Dollar dafür anbieten würde, dass Sie Ihre Schuhe ausziehen, würden Sie wahrscheinlich darauf eingehen – und ich könnte triumphierend verkünden, dass „Belohnungen zum Erfolg führen“. Doch ebenso wenig wie Bestrafungen können sie jemandem helfen, sich für eine Aufgabe oder Tat wirklich zu engagieren, einen Grund zu haben, damit weiterzumachen, auch wenn es keine Entlohnung mehr dafür gibt.

Tatsächlich haben etliche Versuche gezeigt, dass Belohnungen nicht nur unwirksam sind – sondern oft sogar kontraproduktiv. Beispielsweise haben Forscher festgestellt, dass Kinder, die dafür belohnt wurden, etwas Nettes zu tun, sich selbst weniger oft als nette Menschen ansehen. Stattdessen neigen sie dazu, ihr Verhalten auf die Belohnung zurückzuführen. Und wenn kein Lohn mehr zu erwarten ist, helfen sie weniger oft als Kinder, die von Anfang an keinen Lohn dafür bekamen. Auch helfen sie weniger oft, als sie es selbst früher getan haben. Schließlich haben sie gelernt, dass man nur jemandem hilft, um eine Belohnung zu bekommen.

Kurzum: Es geht fast immer nach hinten los, wenn man Kindern so etwas wie einen Hundekuchen dafür anbietet, dass sie das tun, was wir wollen. Doch das liegt nicht daran, dass wir die falschen Hundekuchen genommen oder sie nach einem schlechten System verteilt hätten. Vielmehr ist der Grund der, dass das ganze Konzept, Menschen durch Belohnungen (oder Bestrafungen) ändern zu wollen, problematisch ist. Für Eltern ist es oft nicht leicht, herauszufinden, was daran problematisch ist, und oft höre ich von Eltern, die ein vages Unbehagen dabei empfinden, wenn sie ihre Kinder belohnen, aber nicht wirklich benennen können, warum sie sich dabei nicht wohl fühlen.

Eine Hilfe, um zu verstehen, was das Problem ist, ist Folgendes: Die meisten von uns gehen davon aus, es gäbe eine bestimmte Sache namens „Motivation“, von der Menschen viel, wenig oder gar nichts besitzen könnten. Natürlich wünschen wir uns, dass unsere Kinder große Mengen davon besitzen, mit anderen Worten, dass sie hochmotiviert sind, ihre Hausaufgaben zu erledigen, verantwortungsvoll zu handeln und so weiter.

Doch die Schwierigkeit liegt darin, dass es in Wirklichkeit verschiedene Arten von Motivation gibt. Die meisten Psychologen unterscheiden zwischen der intrinsischen und der extrinsischen Motivation. Intrinsische Motivation bedeutet im Wesentlichen, dass einem das, was man tut, aus sich heraus Freude bereitet, während extrinsische Motivation heißt, dass man etwas als Mittel zum Zweck tut – um eine Belohnung zu bekommen oder eine Bestrafung zu vermeiden. Es ist der Unterschied zwischen dem Lesen eines Buches, weil man erfahren will, was im nächsten Kapitel passiert, und dem Lesen eines Buches, weil einem dafür ein Aufkleber oder eine Pizza versprochen worden ist.

Das Entscheidende hier ist nicht nur, dass extrinsische Motivation etwas anderes ist als intrinsische oder dass sie ihr unterlegen ist, obwohl beide Aussagen wahr sind. Was ich betonen möchte, ist, dass die extrinsische Motivation dazu neigt, die intrinsische zu untergraben. In dem Maße, wie die extrinsische Motivation steigt, sinkt meist die intrinsische Motivation. Je mehr jemand dafür belohnt wird, etwas zu tun, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass er das Interesse an dem, was er tun musste, um die Belohnung zu bekommen, verliert. Natürlich gibt es bei einer Zusammenfassung psychologischer Erkenntnisse in einem Satz immer Einschränkungen und Ausnahmen, doch die grundlegende Aussage ist von Dutzenden von Studien an Menschen unterschiedlichen Alters, Geschlechts und kulturellen Hintergrunds – und mit einer Vielzahl unterschiedlicher Aufgaben und Belohnungen – bewiesen worden.11

Kein Wunder also, dass Kinder, die für ihre Hilfsbereitschaft belohnt werden, schließlich weniger hilfsbereit sind, wenn die Belohnungen ausbleiben. Es gibt auch noch etliche andere Beweise. Wenn man kleinen Kindern ein ihnen unbekanntes Getränk gibt, werden diejenigen, die dafür belohnt werden, es zu trinken, es nächste Woche weniger gern mögen als Kinder, die dasselbe getrunken haben, ohne eine Belohnung dafür bekommen zu haben. Oder wenn man Kinder für den Versuch, ein Puzzle zu legen, bezahlt, neigen sie dazu, mit dem Spiel aufzuhören, nachdem das Experiment vorbei ist – während diejenigen, die keine Bezahlung erhalten, danach oft von sich aus weitermachen.

Die Moral, die wir aus all dem ziehen, ist, dass es keine Rolle spielt, wie sehr Ihr Kind „motiviert“ ist, etwas zu tun (aufs Töpfchen zu gehen, Klavier zu üben, zur Schule zu gehen, was auch immer). Vielmehr sollten Sie die Frage stellen, wie Ihr Kind motiviert ist. Anders ausgedrückt, es kommt nicht auf den Grad, sondern auf die Art der Motivation an. Und die Art, die durch Belohnungen erzeugt wird, schmälert gewöhnlich die Art, die wir uns für unsere Kinder wünschen: ein echtes Interesse, das auch anhält, wenn die Belohnungen längst nicht mehr da sind.