Buch lesen: «Inquietudo»

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ALEXANDER SUCKEL

INQUIETUDO

Roman

mitteldeutscher verlag

INHALT

Cover

Titel

Zum Buch

Zitat

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

Quellen

Der Autor

Impressum

Alle Personen dieses Buches haben wirklich gelebt. Jedes Wort darin ist so oder so ähnlich gesagt worden. Ich habe nichts erfunden. Manche Wörter sind geborgt oder übermalt. Allerdings wird gelogen, dass die Balken sich biegen. Und die Stadt Lissabon, wie sie hier beschrieben wird, sie existiert nicht wirklich. Oder doch? Und wenn, dann nur in der Erinnerung und Vorstellung des Autors. Also doch eher nicht.

Nun ja, Lissabon, Lisboa, dein Wesen, kein Meer ohne Schiff. Was ist das? Zwei Verse, ich weiß nicht, von wem. Jetzt verstehe ich nicht. Obwohl Lissabon viel hat, so doch nicht alles, aber mancher glaubt, in Lissabon das zu finden, was er braucht oder wünscht.

José Saramago

I

Tief ist der Fall in die Nacht, und Nacht ist das Wort für etwas, was wir meinen mit einer anderen Art von Schlaflosigkeit, Nacht ist die Erinnerung an das Durchwachen, und tief ist der Fall in diese Nacht.

Kruses Großvater war ein lausiger Klavierspieler. Damals nach dem Krieg, in Berlin. In kleinen muffigen Bars hat er gespielt, meist allein, manchmal mit einem Bassisten und einem Schlagzeuger; Schlagzeuger hießen damals noch Trommler. Besonders schön hat es nie geklungen, sagte der Trommler. Später waren sie bei einer großen Versicherung angestellt, der Großvater und der Trommler. Das Klavier verstaubte und verlor im Laufe der Jahre den letzten Rest von Intonation. Nachdem es mit Großvater zu Ende gegangen war, beschloss der Familienrat, einen Klavierstimmer ins Haus zu holen, der das Instrument untersuchte und in den alten Zustand versetzte. Das Klavier stellte man in Kruses Zimmer auf, und ihm als dem jüngsten der Enkelkinder wurde Unterricht verordnet. Er ging einmal in der Woche zu einer Frau in der Nachbarschaft, die auf den ersten Blick hin von angenehm großmütterlicher Art zu sein schien. Doch hinter der Fassade von Gutmütigkeit und Geduld, von Liebe und Wohlgeruch verbarg sich ein sadistisches, kinderloses und daher wohl auch kinderhassendes Wesen. Sie quälte ihn mit subtilen Foltereinheiten, zunächst mit Hanon und Czerny, den Verfassern stupider Fingerübungen, später mit groben Streckbänken in Form von Dussek- und Clementi-Sonatinen, Tonleiter-Martyrien und Fingersatz-Strafexerzitien. Die höchste Stufe der Gemeinheit war erreicht, wenn sie dem Kind, das er damals war, Selbstverfasstes in pingelig-akkurater Notenschrift vorsetzte; unglaublichen Müll mit Dezimgriffen in der linken und Trillern zwischen viertem und fünftem Finger der rechten Hand. Wo man doch spätestens seit Robert Schumann weiß, dass vierter und fünfter Finger an einem Nervenstrang hängen und kraftvolle Bewegungen wie Verzierungen und Triller nur unter äußersten Qualen zu vollführen sind. An das Aussehen der Tastenzuchtmeisterin erinnerte er sich nur vage. Besonders deutlich aber hatte er noch diesen riesigen Dutt vor Augen, an welchem er sie damals gerne aufgehängt hätte.

Jahre später, als Kruse sich langsam entscheiden musste, welcher Art Tätigkeit er denn fürderhin nachgehen wollte – die Zeit, in welcher man entscheidet, ob man einen Beruf erlernt, eines dieser vielen sinnlosen Studien aufnimmt, oder was auch immer – fiel ihm nichts recht Passendes für sich ein. Kurzum: Zum Malen fehlte ihm das Talent, zum Handwerk die Geschicklichkeit, zur Naturwissenschaft die Neigung und zu allem anderen der Fleiß. Also besann er sich auf das, was er als Einziges gelernt hatte im Leben und beschloss, sich als Klavierspieler durchzuschlagen, allen traumatischen Kindheitserinnerungen zum Trotz. Er spielte in genau jenen kleinen Bars wie der Großvater. Das Inventar mochte sich verändert haben, die Getränkekarte war sicher um einige exotische Abmischungen erweitert worden, ansonsten herrschte noch dieselbe Atmosphäre wie vor Jahrzehnten, die gleiche Mischung aus Tabaksqualm und schlechtem, dickem Parfüm, aus menschlichen Ausdünstungen und scharfem Fusel. Die Zeiten sind nicht gut für einen Klavierspieler. Man lernt sehr schnell, sein Publikum zu verachten. Weil einem niemand zuhört. Weil niemand einen Boogie von einem Bebop unterscheiden kann. Weil es eigentlich egal ist, ob man Time to Remember oder die Warschawjanka spielt.

***

In den Pyrenäen kam Julia die Zeit zwischen August und Winter vor wie ein langsam vor sich hin dämmernder Dorfteich: Auf eine seltene Weise schön, wenngleich langweilig. Anfangs träumte sie manchmal und schreckte im Schlaf hoch. Später nicht mehr. Der Schäfer, bei dem sie wohnte, ein schlichter Bursche von vielleicht dreißig Jahren, hatte ein halbverfallenes Gehöft, wie sie in den Bergen zu Hunderten herumstehen, hergerichtet. Er wies ihr eine kleine Kammer zu. Mehr benötigte sie nicht. Sie reparierte eine Wasserleitung und sprach mit den Hunden. Mit dem Schäfer sprach sie nicht. Oder er nicht mit ihr. Einmal, nachts, im November hatte er sich ihr genähert. Sie wies ihn ab. Dann sprach er doch mit ihr; sagte, sie hätte jetzt zu gehen, die Schafe müssten ins Tal, ins Winterquartier. Am Morgen packte sie ihren Rucksack und ging. Sie verabschiedete sich von den Hunden und wanderte zwei Tage bergab, bis ein Auto sie auf der Landstraße mitnahm und in Perpignan absetzte. Von dort fuhr sie mit dem Zug über Barcelona nach Madrid, ohne recht zu wissen warum.

Fast einen Monat lebte sie bei einem älteren Mann. Tagsüber vegetierte er in einem abgedunkelten Raum und starrte auf die Ölbilder an der Wand. Er schien sehr reich zu sein und ging kaum aus dem Haus. Manchmal gab er Julia Geld und schickt sie zum Bahnhof Atocha, um Heroin zu besorgen. Das rauchte er dann zu Hause und versank tagelang in sich, der Vergangenheit und seinem implodierenden Wahnsinn. Von dem Geld, das übrigblieb, kaufte sie etwas zu essen. Ansonsten klaute sie auf der Straße, was sie brauchte. Es war nicht viel. Kennengelernt hatte sie den alten Mann im Prado. Dort ging sie häufiger hin, mit einer Dauerkarte, die sie einem Studenten gestohlen hat, der sie in ein blödes Gespräch über Kunst verwickeln wollte. Meist sah sie sich die Schwarze Serie an. Ihr gefiel die Düsternis der Goya-Bilder. Aber eigentlich ging sie in den Prado, weil dort zuverlässig geheizt wurde.

Gestern Abend kam sie aus der Stadt zum Haus des alten Mannes, läutete an der Klingel ohne Namensschild. Niemand öffnete, nur ihr Rucksack lag draußen vor der Tür. Es fehlte nichts. Die Nacht über hockte sie in einer Bar und hatte Mühe, sich diversen Avancen läufiger Nachtköter zu erwehren. Zu trinken bekam sie reichlich, doch sie hatte Hunger. Die ganze Nacht. Es war elf Uhr vormittags, und es war heute noch einmal, sehr plötzlich, warm geworden, als Julia lang und ausdauernd gähnte, während sie einen Jungen beobachtete, der mit den Fingern auf dem Bürgersteig nach etwas zu suchen schien.

***

In der Mottenkiste aller Klavierspieler gibt es ein paar Tricks bezüglich der Frauen. Einen davon hatte Kruse vom Trommler erfahren, verbunden mit der süffisanten Erwähnung, welch enorme Anzahl blondierter Schönheiten der Nacht den Weg zu Großvaters Klavier und wohl auch Bett gefunden hatten: Jede Musik hat einen neuralgischen Punkt, einen Kern, ein geheimes subtil-erotisches Zentrum, meist die Wiederholung des B-Teils vor dem Instrumentalsolo oder kurz danach. Der Trick besteht darin, in genau jenem Augenblick die Augen von den Tasten zu heben und fest und unbeirrt auf der Dame des Abends, man darf wohl sagen, dem Opfer, ruhen zu lassen, sie glauben zu machen, dieser geheime Höhepunkt entstehe nur und ausschließlich für sie. Gelegentlich hatte auch Kruse nicht widerstehen können, diesen Trick anzuwenden, und man darf wohl hinzufügen, er war dabei nicht gänzlich erfolglos.

Es war im Herbst, einer dieser grauen Mittwochabende, tote Tage, wie man so sagt, kein Abend für die Bar. Ein paar Fernsehschauspieler lümmelten lärmend an den vorderen Tischen und waren schon ziemlich betrunken. Unter ihnen stand eine Frau, die nicht zu ihnen zu gehören schien und die dennoch den Mittelpunkt dieser Zusammenkunft bildete. Ihr Gesicht erinnerte an das einer Statue im Ägyptischen Museum. Ein Gesicht, von dem Kruse bereits als Frühpubertierender anlässlich von Schulbesuchen gewusst hatte, dass es all das verstrahlte, was Männer in ihren schwitzigen Fantasien von Frauen im Allgemeinen erwarteten und glaubten. Sie hatte den Kopf zur Seite geneigt, in der rechten Hand nachlässig eine Zigarette haltend. Eine nervöse Unruhe ging von ihr aus. Vielleicht war sie auch schon auf dem Sprung, wieder zu gehen. Ihre dunklen Augen irrten ziellos durch den Raum. Die hohen markanten Wangenknochen verliehen ihr ein leicht exotisches, irgendwie slawisches Äußeres. Sie erschien eher klein, aber das konnte täuschen. Auch wenn man wegen der Entfernung von ihr kein Wort hören konnte, glaubte Kruse doch, nahezu alles verstehen zu können. Er lachte darüber, was man als blitzartig Verliebter eben alles von sich glaubt in solchen Momenten. Die trunkenen Mimen sprangen ihr förmlich ins Gesicht, hafteten mit verdrehten Augen an ihren Lippen – distanzlose, klebrige Vampire.

Er spielte irgendeine unbedeutende Improvisation über irgendein Thema von Horace Silver, und ihre Blicke trafen sich für den Bruchteil einer Sekunde, aber sie trafen sich immerhin, und sie trafen sich im nämlichen Moment. Es dauerte anstandshalber einige Minuten, bis sie mit leichten und dennoch bestimmten Schritten zum Klavier herüberkam und mit leiser Stimme fragte, ob er wohl für sie eine bestimmte Nummer spielen könne. Er nickte, und sie ging zu ihrem Platz, lächelte noch einmal kurz und gewollt nachlässig über die Schulter. Er spielte, was sie sich wünschte. Es war nicht sonderlich originell. Irgendwann waren sie verschwunden, die nächtliche Nofretete samt ihren Clowns, ohne dass er es wirklich bemerkt hätte. An diesem Abend arbeitete er nicht mehr lange, auch weil in der Bar kaum noch Gäste auftauchten. Dafür spielte er an den nächsten Tagen fast das doppelte Pensum, meist bis in die frühen Morgenstunden hinein, in der Hoffnung, sie würde wieder auftauchen. Natürlich kam sie nicht zurück. Jedenfalls nicht in die Bar.

***

Der Tag vor dem Heiligen Abend war unerwartet warm und freundlich, die Sonne überflutete Madrid mit einer gleißenden Winterhelle, als Vince den Holzlaster in der Auslage eines Spielwarengeschäftes in der Nähe der Plaza Puerta del Sol erblickte. Mit den Füßen stocherte er nach einer löchrigen Stelle im Pflastergestein, entdeckte alsbald, was er suchte, bückte sich, ergriff einen Stein, indem er mit geübten Handgriffen die Sandverfugung löste, nahm ein paar Schritte Anlauf, holte in einem weiten Bogen aus und schleuderte mit voller Wucht den Stein in die Auslage. Manchmal ist einem danach, einen Stein in die Auslage zu werfen. Vince blickte sich kurz um, einige Leute waren stehen geblieben und sahen ihn entgeistert an. Dann betrachtete er noch einmal für einen kleinen Moment sein Werk. Der Stein hatte die Kipplade eines Baufahrzeuges erwischt. Wie ein totes Tier, das Maul weit aufreißend, starrte ihn das umgefallene Auto an, einen Teddybären von schillernd bläulicher Farbe unter sich begrabend. Der Laster aus groben unbehandeltem Holz stand unberührt daneben, so als hätte dieser Anschlag nicht ihm gegolten. Vince spürte einen heftigen starken Griff in seinem Nacken. Er versuchte sich umzudrehen. Ein Schnauzbärtiger mit einer Jacke aus blauem Stoff, der an den Teddybären erinnerte, schrie auf ihn ein, während seine Finger sich in Vince’ Hals festkrallten. Er sah nur den sich öffnenden und wieder schließenden Mund, eine Reihe dunkelbrauner Zähne und eine dicke weißliche Zunge. Instinktiv legte er den Ellenbogen an und rammte ihn mit aller Kraft dem Schnauzbärtigen in die Eingeweide. Der ließ von seinem Opfer ab und krümmte sich vor Schmerzen. Vince boxte sich einen Weg durch die glotzende Meute. Nach einer Weile war er am Parque del Retiro angelangt. Blieb zum ersten Mal stehen, außer Atem, sah sich um, stellte fest, dass ihm niemand gefolgt war. Er setzte sich auf eine Parkbank, das Gesicht tief in den Händen vergraben. Es war ihm gleichgültig.

Was machst du hier?

Vince blickte auf. Es war kalt. Ihm war kalt.

Was gehts dich an!

Er würdigte das Mädchen nur eines kurzen Blickes.

Redest nicht gerne, was?

Verpiss dich!

Vince spuckte gezielt vor die Füße des Mädchens.

Klobige, heruntergekommene, ehemals teure Stiefel.

Wenn du hier noch lange sitzt, frierst du fest.

Wenn schon, wüsste nicht, was dich das angeht.

Ich mein ja nur.

Tu mirn Gefallen und zieh Leine! Ich sitz hier n bisschen im Park, genieße die Luft und hab keine Lust, mit dir zu reden. Also hau ab!

Weißt du was? Du spinnst! Es wird kalt nachher, du hast überhaupt keine richtige Jacke an, und in einer Stunde ist es dunkel.

Nach einer Pause, die Vince, ohne eine Regung zu zeigen, verstreichen ließ:

Wo bleibst du heute Nacht?

Ich brauch keinen, der auf mich aufpasst, mir sagt, was ich anziehen soll und wann es dunkel wird. Und jetzt hau endlich ab.

Er hob drohend eine Hand.

Du schlägst bestimmt keine Mädchen, könnt ich wetten.

Würds nicht drauf ankommen lassen.

Vince spuckte nochmals aus. Er traf die Stiefelspitze des Mädchens.

Ich hab dich gesehen, vorhin. Das mit dem Stein. Und wie du dem Dicken eine verpasst hast.

Geh doch zur Polizei. Erzähls denen.

Könnt ich machen.

Dann wärst du wenigstens weg.

Wieso hastn du das gemacht, das mit dem Stein?

?

Brauchst es ja nicht zu verraten. Hat mich nur gewundert, wieso du nen Stein ins Fenster von einem Spielwarenladen schießt, mitten am Tag, und dann einfach stehen bleibst unter den ganzen Leuten. Ich hätt wenigstens versucht, irgendwas mitgehen zu lassen. Wieso eigentlich ein Spielwarenladen, das ist doch doof.

Geht dich nichts an.

Du hast echt eine Macke.

Vielleicht. Bist du jetzt fertig?

Vince zog die Beine an, hockte frierend wie ein nackter Embryo auf der Bank und vergrub das Kinn zwischen den Knien.

Hast du Hunger?

Das Mädchen reichte ihm ein halbes Salami-Brot, das in einer Papiertüte steckte. Ohne Zögern griff Vince danach und biss hinein. Er hatte seit vorgestern nichts mehr gegessen.

Darf ich mich wenigstens kurz setzen?

***

Er hatte sie wiedergesehen auf dem Geburtstagsfest eines gemeinsamen Bekannten, Jorgens, ein Wirtschaftsjournalist. Es war ein langweiliger Abend, er hatte es vorher geahnt und sich in einer Bar mittels ein paar Gläser Wodka entsprechend präpariert. Er wusste, wenn ein wohlausstaffiertes, gut möbliertes Wesen wie Jorgens vierzig wird und dazu einen Haufen aufgeblasener, reichlich angefetteter Kollegen aus den Wirtschaftsressorts diverser Tageszeitungen und Rundfunkanstalten einlädt, kann das nur ein grauenvolles Ende nehmen. Man schweift übergangslos von der Zote zum Nasdaq, vom Altherrenwitz zum Anlagetipp, findet sich wesentlich und den Rest der Welt unter Niveau. Mit dem Letzteren mochten sie Recht haben, mit allem anderen konnte man herzlich wenig anfangen, und nur eine langgehegte Zuneigung zu Jorgens konnte ihn davon abbringen, abzusagen.

Wie ausgerechnet sie in diese Versammlung frühergrauter Zyniker geraten konnte, war nicht ganz klar. Er passte sie in einem günstigen Augenblick ab und goss ihr einem Wodka ein. Schön war, dass sie Wodka trank, weitaus schöner war, dass sie sich offenbar genauso langweilte wie er. Weniger schön fand er, dass sie sich seiner nicht mehr erinnerte. Er hatte allerdings keine Lust, sie auf den Besuch in der Bar hin anzusprechen. Es wäre ihm irgendwie kleinlich vorgekommen. Sie arbeitete beim Fernsehen, war eine gefragte Person dort, moderierte eine Menge Sendungen, Interviews mit mehr oder minder bekannten lokalen Größen, Sportsendungen mit Bezirksligaspielen diverser, völlig absurder Sportarten. Sachen, deren tieferer Sinn ihm verborgen blieb. Er wusste, er hätte sie anrufen können, könnte wie zufällig an dem einen oder anderen Ort erscheinen, an dem sie sich sicherlich aufhalten würde, hätte das komplette Repertoire des Leim-Ansetzens und der gewollten Zufälle abspulen können. Er konnte auch nicht behaupten, dass ihm dazu jegliches Talent fehlte. Allein er verspürte keine Lust dazu. Er vertraute vielmehr darauf, zurecht, wie sich herausstellte, dass es einen Augenblick geben würde, der sie auf eine tatsächlich zufällige Art wieder zusammenführte. Sie hieß Marcenda. Dies hatte er inzwischen erfahren. Nicht viel, aber für einen Anfang genug und für die überbordende Fantasie mehr als genug. Sie hatte das Gesicht, das er liebte. Es sollte vorerst das letzte Mal sein, dass er sie sah.

***

Am selben Abend lungerte Vince in Kruses Bar herum, Monate, bevor es ihn nach Spanien verschlagen sollte. Es war wiederum ein Abend mit wenig Betrieb, da hatte der Türsteher ein Einsehen mit dem leicht verwahrlosten, auf jeden Fall noch minderjährigen Besucher. Ein Aushilfspianist stocherte sich weitgehend talent- und erfolgfrei durchs Real Book der Jazzstandards. Vince grölte angetrunken: Üben, üben, üben, bis der Rausschmeißer tat, was ihm von Berufs wegen auferlegt war, und Vince an die frische Luft beförderte. Dies wäre nicht weiter berichtenswert, wenn es sich nicht um eine verpasste Gelegenheit gehandelt hätte; eine Gelegenheit einer Begegnung, die vielleicht nicht allzu oft eine Wiederholung finden würde. Wäre er ein paar Jahre älter gewesen, könnte man sagen, Vince hätte einen schweren Tag. Am Morgen wurde er von seiner Schlagzeug-Übungsgruppe suspendiert. Sein Lehrer beendete den Unterricht mit der lapidaren Mitteilung, es habe keinen Zweck, und eine Fortsetzung der Ausbildung wäre verschwendete Zeit. Seit dem Mittag betrank sich Vince. Zunächst in den Kneipen um den Ostbahnhof herum, dann, als er in seiner Jackentasche noch einen Fünfziger fand, wechselte er auf etwas vornehmere Lokale über. Das Taxi, mit dem Vince zur Bar gelangte, musste einen Umweg fahren, weil sich ein Unfall ereignete. Eine Frau war überfahren worden und lag regungslos am Straßenrand, begafft von vielen zufällig Daherkommenden. Dieser Umweg, rechnete Vince in seinem vom Alkohol benebelten Hirn nach, kostete ihn mindestens einen weiteren Drink.

***

Einen Tag später reiste Kruse ab. Er wusste, mit dieser Reise würde er seine Gewohnheit durchbrechen, sich lieber alles vorzustellen und stattdessen den Ort nicht zu verlassen. Doch er wusste auch, dass er noch Wochen und Monate brauchen würde, sich des Geschehenen immer wieder zu erinnern; und dass er dennoch vor Verzweiflung über einen groben, sinnlosen und in seiner Grobheit und Sinnlosigkeit völlig unverständlichen Schlag ins Gehirnkontor darüber eingehen würde. Er kündigte sein Engagement in der Bar und begab sich in der stillen Hoffnung auf die Reise, vergessen zu können.

***

Vince kaute gierig, verschlang das Brot mit riesigen, hastigen Bissen, als hätte er Angst, sie könnte etwas davon zurückfordern. Er nickte beiläufig auf die Frage des Mädchens, ob sie dableiben könne. Als Gegenleistung für etwas zu essen war ihre Anwesenheit gerade noch zu ertragen. Er würde schnell aufessen und wortlos gehen. Notfalls würde er rennen, dass sie ihm nicht hinterherlief.

Von wo kommst du eigentlich her?

Bin nicht von hier.

Hab ich mir gedacht.

Was hast du dir gedacht?

Ich meine, woran sieht man denn, ob einer von hier ist oder nicht?

Weiß nicht, sieht man eben, dass du nicht von hier bist. Siehst eben so aus. Außerdem redest du auch nicht so wie die von hier.

Hab doch noch keine fünf Sätze gesagt.

Eben.

Hältst du mich für blöd oder was?

Weiß nicht.

Sieh dich vor.

Etwas überraschend, nach einer Wolke aggressiven Schweigens: Bist du auch abgehauen? Vince hätte sich das letzte Wort gerne verkniffen, aber es war zu spät.

Ach, abgehauen bist du? Woher: Aus einem Heim oder von zu Hause?

Hör auf, mich auszuquetschen!

Ist ja gut, reg dich nicht so auf, war ja nur eine Frage. Das Brot war trotzdem gut, oder? Ich habs nämlich geklaut. Geklaute Brote schmecken irgendwie anders.

Vince starrte sie mit einem ziemlich dusseligen Gesichtsausdruck an. Du hast … was …?

Ja, ich habs geklaut. Aus dem Café gegenüber vom Spielwarenladen. Genau in dem Moment, als du den Stein reingeschmissen hast, vorhin. Der Verkäufer ist auf die Straße gegangen zu gucken, was los ist, genau wie alle andern auch. Und da hab ichs eben eingesteckt. Hier, ich hab noch mehr.

Sie kramte in ihrem Rucksack herum. Zum Vorschein kamen ein Käsebrot, eins mit Schinken und eins mit Thunfisch.

Und das Beste kommt noch! Sie hob zwei Büchsen Bier in die Luft.

Vince’ Gesichtsausdruck veränderte sich nur um eine Nuance.

Was, und das alles hast du in dem einen Moment geklaut, als ich den Stein ins Fenster geworfen hab?

Die Lachfalten des Mädchens zogen sich zusammen wie ein Raspeleisen. Die Augen wurden zu winzigkleinen Schlitzen und der Mund zu einem riesenhaften Loch, aus dem die Zunge blinzelte wie die Zipfelmütze eines Heinzelmannes, der aus seinem Versteck lugte. Vince entschied sich für das Bier, öffnete die Büchse mit einem geübten Griff und reichte sie der seltsamen Spenderin.

Hätt ich nicht gedacht. Gar nicht so blöd. Entschuldige wegen eben.

Schon gut, wehrte das Mädchen generös ab, man kann sich ja auch einmal irren. Statt das angebotene Bier zu nehmen, griff sie nach der anderen Büchse und versuchte sie ebenso gekonnt zu öffnen wie Vince. Nach dem dritten Versuch klappte es.

Prost!

Sie knallte ihre Büchse etwas überkandidelt gegen die von Vince. Sie tranken beide einen Schluck. Ein Betrachter, der die beiden in der Abenddämmerung nicht als halbe Kinder erkannt hätte, würde glauben ein zärtliches Trinkerpärchen vor sich zu haben. Lustig, vielleicht schon ein bisschen beschwipst.

Boaahh …! Das Mädchen spuckte einen großen Schwall ihres Bieres wieder aus. Das schmeckt ja Scheiße.

Wieso Scheiße?, fragte Vince irritiert. Das ist ein astreines Bier.

Weiß ich nicht. Hab noch nie eins getrunken. Wollts mal halt probieren.

Sie starrten sich einen Moment lang an, Vince noch eine Spur dümmlicher als vorher. Dann lachten sie los, beide zugleich, schütteten sich aus vor Albernheit, schlugen sich auf die Schenkel, krümmten sich, bis ihnen der Magen wehtat. Das Mädchen warf sich mit einem Ruck gegen die Lehne, dass Vince fast von der Bank geflogen wäre. Dazwischen waren vereinzelte Wortfetzen zu hören wie: Du klaust Bier … spuckst es einfach aus …, und: Du schmeißt Steine … Spielzeugläden … Spiel… zeug… läden … haust einfach ab …

Du hast echt einen Knall, konstatierte Vince.

Na, aber du erst, sekundierte das Mädchen. Nur mühsam konnten sie sich wieder beruhigen.

Wie heißt du eigentlich?

Julia. Und du?

Vince.

War eben so ne kitschige Idee von meinem Vater mit dem Namen. Der ist eben so.

Wie – so?

Na eben verkitscht. So ein Name. Wie aus einem alten blöden Film.

Wieso denn, ist doch nicht schlecht? Das ist Shakespeare, und der macht keine Filme, glaub ich.

Ach was!

Vince ist auch nicht gerade doll. Klingt irgendwie doof. Zumindest klein.

Find ich nicht.

Ich schon. Und wie kommst du hierher?

Ist eine lange Geschichte. Und du?

Ist eine noch längere Geschichte. Prost!

Er hob seine Büchse zu einem neuen Versuch.

Nee, lieber nicht, sagte sie.

Du musst einfach die Nase zuhalten und nicht so schnell schlucken. Sonst kommts dir wieder hoch.

Wenn du meinst. Sie hielt sich die Nase zu und setzte die Bierbüchse an. So? Sie blickte ihn fragend an, er nickte. Prost!, näselte sie. Beide nahmen einen Schluck. Sie tat, wie er ihr geraten hatte und schluckte langsam. Es schmeckte wohl genauso schauderhaft wie vorher, aber sie ließ sich nichts anmerken. Langsam wurde es dunkel, und wie auf eine geheime Verabredung hin schwiegen sie. Vince dachte nach, wo er die Nacht über bleiben würde. Es wurde Zeit, sich darum zu kümmern.

***

Seit Tagen schon durchpflügte Kruse mit großen, eiligen, der Hitze unangemessenen Schritten die Straßen, den Körper messend gegen die unendliche Schwere des alten Gesteins. Verschwitzt und bleiernen Kopfes, am Rande jeder Erschöpfung einen Kaffee nehmend, doch nur, um alsdann mit neuer Wut und Rastlosigkeit die nächsten Straßenzüge zu erklimmen. Was ihn nach Lissabon getrieben hatte, er konnte es nicht mehr benennen. Es verschwamm zu einer Melange aus Gründen, Absichten, Wünschen, Ängsten und Gewissheiten. Kaum konnte er auseinanderhalten, was geschehen war in den Tagen vor seiner Abreise; was hätte geschehen müssen; was er befürchtete, hätte geschehen können.

Zunächst hatte Kruse den Alten nicht bemerkt. Er musste an der Basílika da Estrela eingestiegen sein, nun saß er ihm schon seit etlichen Stationen gegenüber. Verstohlen blickte der Mann ab und zu herüber, einmal lachte er sogar. Er war auf seltsame Weise altertümlich gekleidet, trug einen zwar tadellosen aber merkbar antiquierten Anzug und eine dunkle, etwas verrutschte Krawatte über dem nicht mehr ganz weißen Hemd. Warum der Alte herüberblickte und blinzelte, wusste man nicht. Vielleicht glaubte er, in Kruse einen Touristen zu sehen, dem er gegen ein entsprechendes Honorar die Stadt zeigen kann. Vielleicht sollte er einfach sitzen bleiben und ihn ignorieren. Irgendwann würde er verstehen, dass kein Geschäft zu machen sei. Im Übrigen war der leichte Windhauch, der durch das geöffnete Seitenfenster in das Innere der Bahn strömte, durchaus belebend. Kruse hatte kein Ziel, es konnte ihm also gleichgültig sein, wann und wo er ausstieg. In der Nähe des Rossio, des großen Hauptplatzes in der Stadtmitte, stieg der Alte aus, nicht ohne sich beim Hinausgehen noch einmal umzuwenden. Froh, den Aufdringlichen endlich los zu sein, und in der Erwartung eines guten Abendessens entdeckte Kruse auf dem Platz, neben dem der alte Mann gesessen hatte, einen Spazierstock aus dunklem Holz, der jenem zu gehören schien. Kruse erinnerte sich, dass der Mann mit dem silbernen Knauf des Stockes spielte, während die Straßenbahn von der Basilika stadtabwärts schlingerte.

Eine große Menschenmenge wartete an der Haltestelle der Catedral Sé Patriarcal, wahrscheinlich Kirchgänger, die aus der gerade zu Ende gegangenen Abendmesse strömten. Auf dem Weg zur Tür griff Kruse nach dem Stock, er wusste nicht, wozu er ihn hätte gebrauchen können, er war für seine Körpergröße zu klein, und auch glaubte er sich nicht in einem Alter, der das Tragen eines Spazierstocks erforderte oder irgendwie legitimierte. Doch ehe er begann, darüber nachzudenken, was er eigentlich mit dem Stock sollte, befand er sich schon außerhalb der Bahn, mit eben jenem Stock in der Hand. Also machte Kruse sich auf den Weg, ein gutes Lokal für den Abend zu finden. Er bog in eine kleine steil aufwärtsstrebende Straße ein, von der aus es nur wenige Meter Weg zu einem winzigen Restaurantkeller waren. Er versuchte sich auf den Stock zu stützen, aber er war in der Tat viel zu klein, und so klemmte er ihn – etwas dandyhaft – unter den Arm.

Wozu brauchen Sie einen Stock?, trompetete es ihm fröhlich entgegen. Kruse blieb stehen und schaute die Straße aufwärts, in die Richtung, aus der die Stimme kam. Lächelnd kam ihm der ältere Mann, der ihm noch vor einer Viertelstunde in der Straßenbahn gegenübersaß, entgegen. Er musste sich am Rossio ein Taxi genommen haben, um eher hier zu sein. Kruse war die Aufdringlichkeit des Alten zuwider, und er suchte nach einer Möglichkeit, ihn schnell wieder loszuwerden.

Ich bitte Sie, geben Sie mir meinen Stock wieder, ich bin nicht mehr allzu gut zu Fuß, wissen Sie, und bei diesen steilen Straßen, diesem undurchdringlichen Gewirr von Bergen, Schluchten, Gassen und Häusern, bin ich geradezu angewiesen auf meine Gehhilfe. Ich finde im Übrigen, dass er nicht sonderlich gut zu Ihnen passt, er verschafft Ihnen so eine etwas, verzeihen Sie bitte, dandyhafte Attitüde. Es ist so ähnlich, wie wenn junge Menschen Ihres Alters sich plötzlich angewöhnen, Pfeife oder Zigarre zu rauchen, wenn Sie verstehen, was ich meine.

Ich denke, es geht Sie überhaupt nichts an, wie ich aussehe, was ich rauche, und wie ich auf bestimmte Menschen wirke, die ihre Nasen in das Leben anderer stecken, nur weil sie sich irgendeinen dubiosen Gewinn davon versprechen. Und was den Stock betrifft, Sie haben ihn in der Straßenbahn liegengelassen, ich hätte ein Gleiches tun können und dann müssten Sie jetzt zusehen, wie Sie ohne ihn zurechtkommen. Bitte sehr, da ist er, Sie können ihn wiederhaben. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden. Gereizt wandte Kruse sich zum Gehen.

Wenn Sie ein gutes Lokal suchen, ich kenne eines hier ganz in der Nähe.

Kruse holte tief Luft.

Nein, nein, sagen Sie nichts, unterbrach ihn der Alte, bevor er antworten konnte. Entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht kränken. Selbstverständlich bleibt es Ihnen überlassen, ob Sie an guten Zigarren Geschmack finden, und selbstredend spielt es keine Rolle, wie alt Sie sind, wenn Sie sie rauchen. Entschuldigen Sie bitte vielmals. Ich habe hier übrigens noch zwei hervorragende Romeo y Julieta bei mir, ein alter Studienkollege aus Schottland hat sie mir mitgebracht. Ich habe sie heute Nachmittag eingesteckt, ohne einen Grund dafür zu haben. Mein Arzt sagt, ich in meinem Alter sollte das Rauchen endlich bleiben lassen, wenn ich noch ein paar Jahre leben wolle. Sie werden das vielleicht noch nicht so kennen, junger Mann, wie es ist, wenn aus einem halbwegs fahrtüchtigen Automobil ein alter Klapperkasten wird, den man weder in Reparatur geben noch umtauschen oder verschrotten kann. Darf ich Sie zu einer Zigarre einladen, wenn Sie die Güte haben wollen, den Wein und den Cognac zu begleichen?

€11,99
Altersbeschränkung:
0+
Veröffentlichungsdatum auf Litres:
25 Mai 2021
Umfang:
220 S. 1 Illustration
ISBN:
9783954629336
Rechteinhaber:
Автор
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