Anleitung zum Konservativsein

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Alexander Gauland

ANLEITUNG ZUM
KONSERVATIVSEIN

Zur Geschichte eines Wortes


INHALT

Konservativismus – ein Phantom?

Hitlers Erbe

Gegner des Nationalstaates

Edmund Burke

Deutsche Geschichte

Friedrich, ein Konservativer?

Friedrich und die Folgen

Konservativismus nach 1945

Liberale Hegemonie

Fehlende Symbole

Mangel an Geschichte

Seitenwechsel der Wirtschaft

Das Ende des Bürgertums

Verlust der Mythen

Die Bundesrepublik, ein schöner Traum

Wer hilft uns zu leben?

Die Familie

Die Heimat

Leitkultur

Tradition und Tugendpflege

Die Kunst

Entschleunigung

Konservative Außenpolitik

Rückkehr der Geschichte

Nach Russland

Nach Frankreich

Nach Europa

Nach Tschechien

Auf den Balkan

In den Nahen Osten

Mythendeuter werden noch gebraucht

Einheit in der Vielfalt

Nachwort

Konservativismus – ein Phantom?

Wer heutzutage das Epitheton »konservativ« benutzt, kann nicht sicher sein, dass er verstanden wird. Geistesgeschichtliche Begriffe schillern immer, und nach dem Verlust ideologischer Gewissheiten sind auch die Konkurrenzbegriffe liberal und sozialistisch im Nebel massendemokratischer Unschärfe verschwommen. Doch selten noch sind die Schwankungen so extrem wie im Falle des Konservativismus. Im täglichen Sprachgebrauch sind Konservative fast alles: wandlungsunfähige Kommunisten bis hin zu Milosevic und den orthodoxen Putschisten gegen Gorbatschow, Neoliberale, die auf Markt und Globalisierung setzen und Probleme mit der sozialen Demokratie haben, oder auch fundamentalistische Fortschrittsfeinde christlicher oder muselmanischer Religionszugehörigkeit, also Gegner von Markt und Menschenrechten. Es nimmt deshalb nicht wunder, wenn manche Betrachter an der Definierbarkeit zweifeln und den Konservativismus für tot erklären. Panajotis Kondylis nannte sein 1986 erschienenes Buch über den Konservativismus im Untertitel »Geschichtlicher Gehalt und Untergang«. Und er resümiert seinen Standpunkt mit den Worten: »Der Konservativismus als konkrete geschichtliche Erscheinung, die von einer fest umrissenen Ideologie begleitet wurde, ist längst tot und begraben.« Dieses Urteil leugnet, dass es sich bei konservativen Handlungen und Gedankengängen um eine anthropologische Konstante handelt, die in immer neuen ideologischen Gewändern auftritt, oder wie es Georg Quabbe in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts formuliert hat, dass es eine konservative Anlage gibt, die auf die Dauer mit bestimmten inhaltlichen Idealen nicht zu füllen sei. Doch gerade dies erscheint höchst zweifelhaft. »Dass wir uns inzwischen ›jenseits von links und rechts‹ befinden, wird man nach alledem nicht glauben können«, beendete der Historiker Paul Nolte seine Überlegungen im Merkur über den Konservativismus in Deutschland, in denen er eine »konservative Anthropologie« der CDU anmahnte. Und der französische Aphoristiker Garnier kommt in seinem Essay über die Lauheit zu dem Schluss: »Zu Beginn des 21. Jahrhunderts wird man am ehesten konservativ sein, nicht unbedingt in der Absicht, die Interessen der Besitzenden zu schützen, sondern um die Geschwindigkeit der technischen und gesellschaftlichen Veränderungen zu drosseln. Stärker noch als Ungerechtigkeit quält uns das Tempo der Veränderung.«

Hitlers Erbe

Totgesagte leben länger, könnte man zynisch anmerken, wenn die Frage nach Tod oder Leben einer konservativen Geisteshaltung nicht lebenswichtig für unsere Gesellschaft wäre. Denn das ist die Schwäche der neuen, wie es die der alten Bundesrepublik war, sozusagen ihr Gründungsfehler, dass ihr im Gegensatz zu den großen Demokratien Westeuropas und auch im Unterschied zu Amerika eine unangefochtene, tradierte, in der Geschichte wurzelnde konservative Position fehlt. Nach der Katastrophe Hitlers blieben alle konservativen Gedanken stigmatisiert und tabuverdächtig, eben NS-krank. Das Bündnis, das ein Teil der alten Eliten mit dem braunen Trommler einging, konnte auf ihre Gedankenwelt nicht ohne Auswirkung bleiben, und so hat Joachim Fest Recht, wenn er in seinem Buch Das Gesicht des Dritten Reiches feststellt: »Längst aller humanistischen und religiösen Wertnormen entkleidet, aber auch ohne jenes kritische Traditionsbewusstsein, das die eigentliche Rechtfertigung der echten konservativen Position ist, besaß sie keine Lebendigkeit und keine zukunftstragenden Ideen mehr, sondern nur noch das starre, an die Erinnerung einstiger Vorrechte geklammerte Verlangen, sich gegenüber der Zeit einzuschanzen und die Stunde abzuwarten. Der Konservativismus jener Richtung und Phase hat keine gedankliche oder tatsächliche Wirkung vorzuweisen, die nicht in die von ihm beschworene Katastrophe eingegangen und davon aufgezehrt worden wäre. Unbeweglich stand er immer an den gleichen Fronten, defensiv lief alles auf die Verneinung der Revolution von 1789 mit ihren politischen, gesellschaftlichen und sozialen Folgeerscheinungen hinaus, während offensiv nie mehr als das Konzept des nationalistischen Machtstaates sichtbar wurde, und was immer sich als konservative Ideologie ausgab, war ganz überwiegend die ewig gleiche, mit nur wenigen wechselnden Vorzeichen versehene Variation dieser beiden einfallslosen Leitmotive.« »Papen hat im Rundfunk geredet«, notierte Goebbels im August 1932 in sein Tagebuch. »Eine Rede, die von A bis Z aus unserem Gedankengut stammt.« Statt – wie es der deutsche Konservative Friedrich von Gentz einst gefordert hatte, dem Rad in die Speichen zu greifen und sich seinem rasenden Lauf entgegenzustemmen, hatten die Namenskonservativen aus Deutsch-Nationaler Volkspartei und Stahlhelm die falsche Modernisierung noch vorangetrieben und dabei der nihilistischen Revolution zum Durchbruch verholfen. Doch ganz unverhofft kam dieser Seitenwechsel nicht. Dem politischen Bankrott ging die geistige Krise voraus. Lange vor dem verlorenen Weltkrieg hatte sich ein Teil der bürgerlichen Intelligenz auf einen deutschen Sonderweg begeben und den Ideen von 1688, 1776 und 1789 den Kampf angesagt. Man war antibürgerlich, antiindividualistisch, antiwestlich und antizivilisatorisch. Die Überhöhung des Nationalstaates und die Betonung einer deutschen kulturellen Mission finden sich exemplarisch in den Betrachtungen eines Unpolitischen von Thomas Mann. In der Vorrede zu diesem Buch lesen wir, dass der Unterschied von Geist und Politik den von Kultur und Zivilisation, von Seele und Gesellschaft, von Freiheit und Stimmrecht, von Kunst und Literatur enthält. Und Deutschtum – so fährt Thomas Mann fort -, das ist Kultur, Seele, Freiheit, Kunst und nicht Zivilisation, Gesellschaft, Stimmrecht, Literatur.

Gegner des Nationalstaates

Dabei ist die Bindung des Konservativismus an die Nation und ihre kulturelle Mission eine unzulässige Verkürzung seiner Ideenwelt, die geistesgeschichtlich die längste Zeit ein Gegner des Nationalstaates in Deutschland war. Metternich, Gentz und die Brüder Gerlach vertraten den Status quo gegen die revolutionären Ansprüche der nationalen Bewegungen. Sie verteidigten den Universalismus einer europäischen Rechts- und Friedensordnung gegen die Sprengkraft des heraufziehenden Nationalismus. Und da diese Sprengkraft auch die deutsche Staatenwelt zu zerstören drohte, waren die Konservativen zugleich die Verteidiger des Regionalismus wie des Föderalismus. Heimatgefühl und Weltgefühl bedingten einander. Beides konnte nur in den lockeren Formen des alten Reiches und des Deutschen Bundes gedeihen. In diesem Sinne war auch Goethe ein Konservativer, als er die berühmte Warnung vor dem französischen Vorbild niederschrieb:

 

Weh jedem, der nach falschem Rat

und überfrechem Mut

Das, was der Corse Franke tat,

Nun als ein Deutscher tut.

Er spüre spät, er spüre früh

Es sei ein ewig Recht:

Ihm geh’ es, trotz Gewalt und Müh,

Ihm und den Seinen schlecht.

Wie Goethe, so verfocht auch Humboldt die Übernationalität des Deutschtums, das die naturhaften Schranken anderer Nationalcharaktere nicht kenne, sondern reiner und freier zum allgemein Menschlichen sich erhebe.

Die Einigung der Nation war eine Angelegenheit der Linken und der bürgerlichen Mitte, die sich in der Paulskirchenbewegung zusammenfanden. Die Konservativen fürchteten den Nationalstaat französisch-revolutionärer Prägung.

Konservative Stimmungen hatten sich in Deutschland gerade in Abwehr des universalen Nationalismus der Französischen Revolution herausgebildet. Sie beriefen sich auf einen Mann, der wie kein zweiter konservatives Denken in England und später in Amerika geprägt hat, und der noch immer die zentrale Erscheinung eines zeitgenössischen wie zeitgemäßen Konservativismus ist, ganz gleich, ob es um die zunehmende Ökonomisierung, den Multikulturalismus oder die Globalisierung von Markt und Menschenrechten geht – Edmund Burke.

Edmund Burke

Über Edmund Burke ist so viel Falsches gesagt und geschrieben worden, dass es schwierig ist, unter den vielfältigen ideologischen Ansprüchen im Politiker des 18. Jahrhunderts den zeitlosen Theoretiker zu erkennen, zumal er kein Philosoph war, der ein systematisches, in sich geschlossenes Werk hinterlassen hat. Seine theoretischen Arbeiten galten praktischen Zwecken und sind von den politischen Umständen, unter denen sie entstanden sind, nur mit Vorsicht zu trennen, ohne dass ihnen Gewalt angetan wird. Edmund Burke hat keine Theorie erfunden und keine »Schule« begründet. Dennoch enthält sein Denken Elemente, die für eine heutige politische Orientierung brauchbar sind. Burkes Denken wurzelt in einem spezifischen Menschen- und Gesellschaftsbild: in einer skeptischen Anthropologie, in der Gegnerschaft gegen den liberalen Individualismus wie einem autoritären Kollektivismus und in einer grundsätzlichen Skepsis gegenüber der Fortschrittsdynamik der Moderne, egal, ob sie sich in der sozialen Revolution oder im liberalen Imperialismus manifestiert. Burkes Partei – die Rockingham Whigs –, der er mit seinen »Gedanken über die Ursache der gegenwärtigen Unzufriedenheit« ein brillantes Parteimanifest schrieb, hatte sich drei große Themen auf ihre Fahnen geschrieben: die Versöhnung mit Amerika, die Parlamentsreform und die Reform der indischen Verwaltung. Gegenüber den amerikanischen Kolonisten ging es zu Beginn um Versöhnung durch die Abschaffung der unseligen Stempelsteuer, am Ende um ihre Unabhängigkeit von England. Sein Kampf gegen den Generalgouverneur der Ostindien-Kompanie, Warren Hastings, den er vor dem Parlament anklagte, war ein Kampf für die Unterdrückten in Indien wie für die Reinheit der aristokratischen Institutionen in England, die durch indisches Gold korrumpiert wurden. Schließlich verschafften ihm die Ereignisse von 1789 in Frankreich jenen welthistorischen Anschauungsunterricht, der es ihm erlaubte, seine Prinzipien in den Betrachtungen über die Französische Revolution zusammenzufassen. In ihr fand er einen neuen und mächtigeren Feind all dessen, was er bewahrt sehen wollte. Burke ist auch in diesem Kampf seinen Überzeugungen treu geblieben und hat nicht jene, das Reaktionäre streifende, konservative Verwandlung durchgemacht, die Freunde und Gegner – je nach ihrem politischen Standort – bejubelt oder verdammt haben. Er war auch in dieser Phase seines Lebens nicht der vorbehaltlose Apologet des Bestehenden, der dem Staat kosmologische Bedeutung beimisst und ihn auf diese Weise allem Wandel entzieht.

Burke gehorchte zuallererst einem romantischen Impuls. Er liebte das Altehrwürdige, das durch die Traditionen Geheiligte, das seit Generationen stetig Gewachsene: die großen aristokratischen Familien, die alten Landhäuser, die britische Verfassung mit ihren Ungereimtheiten, die alten Freiheiten der amerikanischen Kolonisten, die indischen Religionen und Bräuche. Alles Erhabene und Schöne flößte ihm Ehrfurcht und den Wunsch nach Bewahrung ein. Die Politik des Königs bedrohte die amerikanischen Freiheiten und die gewachsene Macht des Parlaments, die neureichen Nabobs bedrohten die englische Aristokratie und die ostindische Kompanie mit ihrem Generalgouverneur die alten Religionen Indiens. Sein Kampf galt »den Sophisten, den Ökonomisten und Rechenmeistern«, die die Schönheiten der Erde in Mark und Pfennig ummünzten. Was ihn in seinem ästhetischen Jugendwerk über die Ursprünge unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen bereits bestimmt hatte – eine typisch irische Liebe zu den »lost causes« –, hat ihn zeit seines Lebens auch politisch geleitet. An den Herzog von Richmond konnte er deshalb schreiben: »Sie, als Vertreter großer Familien und vererbter Vertrauensstellungen, sind in einer anderen Lage als Leute wie ich. Was immer wir auch sein mögen zufolge unseres raschen Wachstums und der Früchte, die wir hervorbringen und auf die wir stolz sind, so kriechen wir doch auf dem Boden, um zu Melonen zu werden, die zwar vorzüglich sind nach Größe und Geschmack, aber einjährige Gewächse, die nach unserer Zeit zugrunde gehen. Sie aber, wenn Sie tatsächlich dem entsprechen, was Sie sein sollen, gleichen den hohen Eichen, die dem Lande Schatten spenden, und Sie verleihen Ihren guten Taten Dauer von Generation zu Generation.«

Der zweite starke Impuls, der sein ganzes Werk durchzieht, ist eine Großzügigkeit des Herzens, ein Mitleiden mit den Unterdrückten, eine tiefe Moralität und daraus gespeist ein reformerischer Eifer, das Los der Menschen zu bessern. »Alle Menschen sind Gottes Geschöpfe, und es ist der Zweck des Staates, die Wohlfahrt der Menschen zu befördern.« Das galt für die Inder wie für die Engländer und Amerikaner. In Burkes Anklagerede gegen Warren Hastings findet sich der Satz: »Die Aufgabe dieses Tages ist nicht das Schicksal dieses Mannes, es geht nicht allein darum, ob der Angeklagte schuldig oder unschuldig ist, sondern darum, ob Millionen Menschen elend oder glücklich sein werden.« Diese Sorge um das Schicksal der vielen Einzelnen machte Burke misstrauisch gegenüber allen Abstraktionen, gegen die Anrufung der Menschheit wider die Schwächen des Menschen, gegen die abstrakte Freiheit, die sich nicht in Institutionen zur Sicherung der Freiheit des Einzelnen verwirklicht, gegen gesellschaftliche Entwürfe vom Reißbrett, die die Traditionen von Jahrhunderten außer Acht lassen, gegen eine Raison des Staates, die den Staatszweck losgelöst von den Menschen definiert, gegen die Vergötzung der Nation sowie gegen alle Spekulationen, die, von einem neuen Menschen träumend, die menschliche Gesellschaft neu erfinden und Verfassungen auf ein leeres Blatt Papier schreiben wollen. Über die Moralität einer Politik entscheidet nach Burke nicht die Güte ihrer Prinzipien, sondern entscheiden allein die Wirkungen, die sie für die einzelnen Menschen hat. Nur das Glück des Einzelnen ist als Maßstab zur Beurteilung der Qualität einer Politik tauglich. Daraus folgt für Burke ein schonender Umgang mit dem Gewordenen und Gewachsenen.

Nur im äußersten Notfall durften Regeln verändert, Verträge aufgekündigt, Privilegien beseitigt werden. Bereits in seiner Satire auf Bolingbroke hatte Burke den Versuch verspottet, eine bestehende Ordnung durch eine »natürliche Ordnung« zu ersetzen. Denn die Gesellschaft ist für ihn ein Teil der großen Übereinkunft, die alle Dinge miteinander verbindet, die Ordnung der Welt begründet und damit unabhängig von der Willensentscheidung der Einzelnen Bestand hat. Zwar gibt es auch für Burke Situationen, in denen die gewachsene politische Form, die den Frieden und den Fortbestand sittlicher Traditionen garantiert, durch Gewalt zerstört werden muss, aber dieses Revolutionsrecht ist ein Notrecht unter der Bedingung zwingender, unabweisbarer Notwendigkeit.

Burke hat nicht gegen die Aufklärung des 18. Jahrhunderts revoltiert, sein Widerspruch war nicht gegen die Rationalität, sondern gegen ihre Unvollkommenheit gerichtet. Er hat zweihundert Jahre vor Horkheimer und Adorno die »Dialektik der Aufklärung« gesehen. »Vernünftiges Handeln«, so hat es Dieter Henrich einmal formuliert, »kann nicht in Unkenntnis bisheriger Geschichte und in der dekretierten Abkehr von ihr ins Werk gesetzt werden. Es ist darauf angewiesen, sich der Traditionen zu vergewissern, in denen es steht, der Situation, die es vorfindet, auch der Handlungsmöglichkeiten, die stets beschränkt sind durch die Existenz von Motivzusammenhängen, welche nur durch Verständigung dauerhaft veränderbar sind, nicht durch Gewalt.« Burke ist kein Führer in die Irrationalität der politischen Romantik, er hat uns nur den vernünftigen Wert moralischer Verpflichtungen eingeschärft, ohne die eine Gesellschaft nicht bestehen und der Mensch als soziales Wesen nicht existieren kann. Nach Kenntnis dieser Gedankenwelt ist es nicht schwierig, Burkes Haltung gegenüber der Französischen Revolution zu verstehen. Hier war eine Kraft am Werke, die die Schönheit der alten Monarchie zertrümmerte, die Aristokraten und Priester drangsalierte und tötete und eine neue Gesellschaft auf den abstrakten Prinzipien Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit errichten wollte.

Der Romantiker Burke sah den Untergang der ehrwürdigsten Monarchie Europas: »Es ist jetzt 16 oder 17 Jahre, dass ich die Königin von Frankreich, damals noch als des Dauphins Gemahlin, zu Versailles sah; und nie hat wohl diesen Erdkreis, den die leichte Göttergestalt kaum zu berühren schien, eine holdere Erscheinung begrüßt. Ich hätte geglaubt, zehntausend Schwerter müssten aus ihren Scheiden fahren, um einen Blick zu bestrafen, der sie zu beschimpfen drohte. Aber die Zeiten der Rittersitte sind dahin. Das Jahrhundert der Sophisten, der Ökonomisten und der Rechenmeister ist an ihre Stelle getreten, und der Glanz von Europa ist ausgelöscht auf ewig.« Der Moralist Burke empfand mit den Verfolgten: »Ich hasse die Tyrannei, aber ich hasse sie am meisten, wo die meisten davon betroffen sind. Die Tyrannei der Menge ist nur eine vervielfältigte Tyrannei.«

Und der Gegner der Abstraktionen konnte sein Verdikt über die Verfassungsmacherei der Franzosen mit den Ereignissen von 1688 begründen, in denen die Freiheiten der Engländer und ihre in Jahrhunderten gewachsene Verfassung wiederhergestellt worden waren. Die Franzosen hatten alles zerschlagen und saßen nun ratlos auf den Trümmern einer fast tausendjährigen Vergangenheit; die Engländer hatten 1688 die Institutionen vorsichtig reformiert und die alten Rechte bewahrt. Das revolutionäre Notrecht hielt Burke im Falle Frankreichs nicht für gegeben, da er die Reformmöglichkeiten nicht für erschöpft ansah. Burke hat die Französische Revolution vor die Schranken des 18. Jahrhunderts gefordert und ihr Irrationalität bescheinigt, er hat nicht die Irrationalität zum Kampf gegen die Aufklärung aufgerufen. Burke war nicht der Begründer einer neuen konservativen Weltsicht. Burkes Botschaft ist die Botschaft des Maßes und der Mitte, der vorsichtigen Reform bei Bewahrung des Ganzen. »Alle Regierungen, ja alle menschlichen Freuden und Genüsse, jede Tugend und jede kluge Handlung ist auf einen Kompromiss, eine Balance gegründet. Wir wägen Schwierigkeiten und Unannehmlichkeiten ab, wir nehmen und geben, wir nehmen einige Rechte nicht in Anspruch, damit wir uns anderer erfreuen können, und wir wollen lieber glückliche Bürger sein als spitzfindige Disputanten.«

Deutsche Geschichte

Mit England trat ein gefestigter liberal-aristokratischer Nationalstaat der französischen Herausforderung entgegen, in Deutschland trafen die Burke’schen Gedanken auf die Agonie des alten Reiches mit seinen spätfeudalen Traditionen. Aus dieser »Ungleichzeitigkeit« der historischen Entwicklung in England und Deutschland folgte eine unterschiedliche Ausprägung konservativer Gedanken in beiden Ländern. Die deutsche Neigung zu politischer Romantik, zur theoretischen Rekonstruktion einer Gesellschaft aus dem christlichen Mittelalter, zum »Zu-Ende-Denken« der konservativen Impulse, waren der von Burke begründeten protestantisch-konservativen Tradition fremd und blieben es dem britischen Konservativismus bis in unsere Tage. In Deutschland, Frankreich und Spanien, wo die Französische Revolution durch Napoleon zur Herrschaft gelangte, gab es schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts Tendenzen eines katholisch-konservativen Absolutismus, der den irrationalen Gegenentwurf wagte und damit in den gleichen Fehler wie die Französische Revolution verfiel.

 

Der Kampf gegen Napoleon wurde zum Kampf gegen »westliche Überfremdung«. Mit der Erhebung der Völker gegen den Korsen begannen alte politische und geistige Verbindungen zwischen West- und Mitteleuropa abzureißen. Der Übergang zur Romantik und die Entwicklung von der Aufklärung zur idealistischen Metaphysik ließen das Staatsdenken Deutschlands auf eine isolationistische Bahn geraten. So verteidigte Hegel die Vernunft gegen den Verstand, Adam Müller die Idee gegen den Begriff. Im 20. Jahrhundert nennt Ludwig Klages den Geist den Widersacher der Seele und Martin Heidegger die Vernunft den Widersacher des Denkens. Ein anarchischer, von den Institutionen losgelöster Freiheitsbegriff, die Idee vom organischen Staat, die Gleichsetzung von Staat und Nation und eine dynamischrelativistische Theorie geschichtlicher Abläufe verbanden sich in Deutschland zu einem explosiven philosophischen Gemisch, über das Heine warnend schrieb: »Lächelt nicht über den Phantasten, der im Reich der Erscheinungen dieselbe Revolution erwartet, die im Gebiet des Geistes stattgefunden. Der Gedanke selbst geht der Tat voraus, wie der Blitz dem Donner. Der deutsche Donner ist freilich auch ein Deutscher und ist nicht sehr gelenkig und kommt etwas langsam dahergerollt; aber kommen wird er, und wenn ihr es einst krachen hört, wie es noch niemals in der Weltgeschichte gekracht hat, so wisst ihr: Der deutsche Donner hat endlich sein Ziel erreicht. Bei diesem Geräusche werden die Adler aus der Luft tot niederfallen und die Löwen in der fernsten Wüste Afrikas werden die Schwänze einkneifen und sich in ihren königlichen Höhlen verkriechen. Es wird ein Stück aufgeführt werden in Deutschland, wogegen die Französische Revolution wie eine harmlose Idylle erscheinen möchte.« Es war der Beginn des Weges, der nach Grillparzer von der Humanität über die Nationalität zur Bestialität führt.

Nach 1870 ging in Deutschland der Konservativismus mit dem Nationalismus jene unheilige Allianz ein, die ihn schließlich in die Harzburger Front führte. Wahre Konservative wie der Preuße Fontane standen dieser Verbindung von Anfang an skeptisch gegenüber. Als der Diener Engelke die Preußenfarben vor dem Stechliner Herrenhaus durch schwarz-weiß-rot ersetzen will, sperrt sich der alte Dubslav von Stechlin: »Lass. Ich bin nicht dafür. Das alte Schwarz und Weiß hält gerade noch; aber wenn du was Rotes drannähst, dann reißt es gewiss.« Mit der Reichsgründung verlor Preußen seine identitätsstiftende Kraft, die von der preußischen Aufklärung über die Stein-Hardenberg’schen Reformen bis zum preußischen Klassizismus gereicht hatte. »Preußens Eliten hatten sich im Siege gewissermaßen selbst verloren. Preußen, der harte Rationalstaat des 18. Jahrhunderts, erwies sich als unvereinbar mit dem Nationalstaat des 19. Jahrhunderts. Preußen hat den Nationalstaat noch begründen, aber nicht mehr prägen können.« (Michael Stürmer) König Wilhelm I. hatte dies instinktiv erfasst, als er am Vorabend der Kaiserproklamation seinem Kanzler unter Tränen bekannte: »Morgen ist der unglücklichste Tag meines Lebens. Da tragen wir das preußische Königtum zu Grabe.«

Dem neuen Deutschland gelang es nicht, die Bismarck’sche Reichsgründung durch eine gesellschaftliche Integrationsleistung zu ergänzen. Jede Großmacht braucht eine Rechtfertigung, um Anerkennung und nicht bloße Furcht zu wecken. Bismarcks Werk hatte wohl das Recht historischen Geschehens, aber keine Rechtfertigung im Zeichen einer Idee für sich. Das neue Reich appellierte nicht, wie Frankreich und England, an die Phantasie der Völker, an ihre Zukunftserwartung, ihren Menschheitsglauben. Es diente keinem werbenden Gedanken. Es stand für nichts, was über die bloße Staatlichkeit hinauswies. Deutscher-Sein enthielt kein Bekenntnis wie Engländer- oder Franzose-Sein; es besagte keinen Dienst an übernationalen Idealen, wie sie durch das christliche Königtum Frankreichs, dessen Zivilisationsidee die große Revolution später in verwandelter Form übernahm, und den Puritanismus repräsentiert wurden. Es war so falsch nicht, wenn Ernest Renan nach dem Deutsch-Französischen Krieg an David Friedrich Strauß schrieb: »Manche Völker hätten ehedem Siege errungen und Imperien gegründet: Spanier, Franzosen, Briten. Jedes Mal habe der politischen Herrschaft eine Ausstrahlung des Geistes entsprochen; der Welt, den Besiegten selbst hätten die Sieger etwas geboten durch ihre ordnende Kraft, ihren Glauben, ihre Kunst, ihren Stil. Dies sei nun das Erschreckende an dem deutschen Sieg: Neu-Deutschland zeige nur Macht, blanke, wirksame, schneidende Macht, ohne jede frohe Botschaft. Sein Triumph sei ein materieller und nichts weiter, und solche Triumphe brächten keinen Segen.« (Zitiert nach Golo Mann, Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts.) Die bürgerliche Gesellschaft des neuen Deutschen Reiches blieb deshalb eine »Gesellschaft ohne Selbstbewusstsein«. Der nationale Stolz, die Selbstgewissheit waren gebrechlicher als in England oder Frankreich. Verglichen mit dem Selbstbild eines Engländers, hatte ein Deutscher nur ein unbestimmtes Bild von seinem Land und von seinen nationalen Merkmalen. Es gab keinen »way of life«, der auf natürlich-gelassene Art bestimmte, was deutsch war. Die Identifikation fand über keine gemeinsame Weltanschauung, sondern über industrielle und soziale Errungenschaften statt. Das deutsche Selbstbild war im Alltagsleben mit keinem Verhaltenskanon verknüpft, es wurde an Fest- und Feiertagen wie in Krisenzeiten programmatisch entworfen und war damit auf ideologische Krücken angewiesen. Ein aggressiver Nationalismus war deshalb als gesellschaftliches Bindemittel wichtiger als in den alten Nationalstaaten Westeuropas.

Und da es eine geschlossene Nationalgeschichte, wie sie trotz aller Brüche in England und Frankreich in der »Whig Interpretation of History« wie in der Zivilisationsmission von Königtum und Revolution vorhanden ist, in Deutschland nach der verspäteten Einigung nicht geben konnte, musste die preußische Vergangenheit als identitätsstiftender ideologischer Steinbruch herhalten.