Anleitung zum Konservativsein

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Friedrich, ein Konservativer?

Besonders beliebt, aber auch gefährlich war der Rückgriff auf den genialen Friedrich, dessen Untugenden und moralische Schwäche dem neuen Staat als Vorbild dienten. Friedrich wurde zum Neuruppiner Bilderbogen, gefügt aus der existenziellen Härte des Krieges, der Toleranz des Philosophenkönigs, den preußischen Tugenden des ersten Dieners seines Staates und der sozialen Gesinnung eines Volkskönigs. Einwände hiergegen wurden verdrängt. Vergessen schien, was Lessing, der dem König keine Beförderung zu verdanken hatte, an seinen Freund Nicolai schrieb: »Sonst sagen Sie mir von ihrer Berlinischen Freiheit zu denken und zu schreiben, ja nichts! Sie reduciert sich einzig und allein auf die Freiheit, gegen die Religion so viele Sottisen zu Markte zu bringen, als man will…«. Vergessen schien auch, was der König selbst zu den preußischen Tugenden zu Papier brachte. Auf das Gesuch einer Beamtenwitwe um eine Pension gab er uns die schriftlich erhaltene staatserhaltende Bemerkung: »Ich habe den Esel an die Krippe gebunden, warum hat er nicht gefressen?« Und auf das Gesuch eines in Not geratenen Dieners schrieb er: »Der Dummkopf! Ich hatte ihn an die Raufe gestellt, warum zog er sich kein Heu heraus?«

Theodor Schieder, sein berühmter, ihn preisender Biograph, hatte schon Recht, wenn er schrieb: »Seine Gefühlskälte und sein Zynismus waren oft erschreckend.« Friedrichs Eintritt in die preußisch-deutsche Geschichte im Jahre 1740 bestätigt dieses Urteil. Wie würde man im Privatleben eine Handlungsweise beurteilen, die darauf hinausläuft, dass man die Tochter des Mannes, der einem das Leben gerettet hat, kurz nach dessen Tod auf der Straße überfällt und ausraubt? Gewiss, Vergleiche hinken und Staatsraison ist mit Privatmoral nicht ohne weiteres vergleichbar. Wer an Preußens deutsche Sendung glaubte, für den war dieser Raub eine Notwendigkeit, die Notwendigkeit der aufsteigenden, aufstrebenden Macht. Und doch ist es selbst Bewunderern Friedrichs schwer gefallen, Raub und Annexion Schlesiens zu verteidigen. Thomas Mann hat darüber 1916 in seiner Verteidigungsschrift des deutschen Überfalls auf Belgien zu Recht bemerkt: »Chronisten und Kritiker, welche vor allem ritterlich empfanden, haben dieses Verhalten immer abscheulich genannt.« Der englische Historiker und Friedrich-Biograph Gooch hat den Raub Schlesiens zusammen mit der Teilung Polens zu den sensationellen Verbrechen der Geschichte der Neuzeit gerechnet. Denn es war eben nicht nur eine Frage privater Moralität gegenüber der Kaisertochter Maria Theresia, deren Vater Friedrich vor dem rasenden Zorn des eigenen Vaters bewahrt hatte. Das 18. Jahrhundert hatte sich um die Entwicklung des Völkerrechts bemüht, das eine rechtsgrundlose Annexion unmöglich machen sollte. Selbst die zutiefst ungerechten »Reunionen« Ludwigs XIV., denen auch Straßburg zum Opfer fiel, wurden mit Rechtstiteln begründet, weil nicht einmal der Sonnenkönig sich nackten Raub leisten zu können glaubte. Und gemeinsam hatten die europäischen Staaten Preußen an der Seite des Prinzen Eugen und Marlboroughs in einem langen Krieg den Rechtsbruch der Einverleibung Spaniens durch Frankreich mit den Waffen zurückgewiesen. Friedrich hatte mit seinem Verhalten die Uhr zurückgedreht und den mühsamen Prozess der Zivilisierung von Gewalt abgebrochen. Er war sich über den Charakter seines Tuns durchaus im Klaren. Den Versuch seiner Diplomaten, Rechtstitel zu finden, bedachte er mit der Randbemerkung »Bravo, das ist die Arbeit eines trefflichen Scharlatans«. Und dem französischen Gesandten sagte er: »Melden Sie Ihrem Herrn, dass ich sein Spiel spielen und, wenn ich gute Karten kriege, den Gewinn mit ihm teilen werde.« Es lässt sich nicht leugnen, dieser Gewaltakt bringt erneut etwas Amoralisches in die europäische Politik. Friedrich verachtete religiöse, juristische und humanitäre Hemmungen. Als Handlungsmaxime formulierte der Dreißigjährige: »Als Grundgesetz der Regierung des kleinsten wie des größten Staates kann man den Drang zur Vergrößerung betrachten«, und seinem Freund Jordan nennt er auch seine Motive: »Meine Jugend, die Glut der Leidenschaft, der Ruhmesdurst, ja selbst die Neugier, um Dir nichts zu verhehlen, kurz ein geheimer Instinkt hat mich den Freuden der Ruhe entrissen. Die Genugtuung, meinen Namen in den Zeitungen und später in der Geschichte zu wissen, hat mich verführt.« Und ein Jahr später in der Geschichte meiner Zeit: »Der Besitz schlagfertiger Truppen, eines wohlgefüllten Staatsschatzes und eines lebhaften Temperaments: das waren die Gründe, die mich zum Krieg bewogen.« Dass er dabei der Kaiserin, während seine Truppen bereits marschierten, durch seinen Gesandten mitteilen ließ, dass er nicht die Absicht habe, sie anzugreifen, rundet nur das Bild des Verfassers des Antimachiavell ab. Noch einmal: historische Vergleiche hinken! Und dennoch: Haben wir Schlesien anders verloren, als wir es gewonnen haben? Kann man über die Annexion Schlesiens, was die Rechtmäßigkeit anlangt, kaum streiten, so hat der Beginn des Siebenjährigen Krieges unterschiedliche Deutungen erfahren. Friedrichs Überfall auf Sachsen ist von den einen als notwendiger Präventivschlag, also als Ausbruch aus der Einkreisung gesehen worden, andere haben auch hierin allein das Ziel territorialer Vergrößerung erblickt. Friedrich selbst hatte 1752 in seinem »Politischen Testament«, auf dem Bismarck 130 Jahre später noch »Dauernd geheim halten« vermerkte, davon geträumt, dass Preußen Sachsen und Westpreußen erobern müsse. Allerdings hatte er diese Eroberungen an Bedingungen geknüpft, die 1756 nicht vorlagen. Doch auch der preußische Historiker Delbrück, ein Bewunderer Friedrichs, kommt in seiner Studie über den Siebenjährigen Krieg zu dem Ergebnis: »Friedrich hat … mit der tiefsten Verschlagenheit auf einen großen Krieg hingearbeitet, der seinem Staate Sachsen und Westpreußen bringen sollte.« Der Streit der Meinungen kann hier dahingestellt bleiben, denn auch im Fall des Präventivschlages war Friedrichs Politik unter diplomatischen wie politischen Gesichtspunkten verheerend. Er hatte das für unmöglich Gehaltene, ein Bündnis Habsburgs mit Frankreich, zustande gebracht und dafür mit England einen Partner gewonnen, der an einer Entscheidung in Nordamerika und nicht in Europa interessiert war. War die Annexion Schlesiens nach dem Fouché-Wort ein Verbrechen, so war der Überfall auf Sachsen mehr als das – nämlich eine Dummheit. Die Art und Weise der Behandlung Sachsens ist damals so einhellig verurteilt worden wie zuvor die Annexion Schlesiens. Thomas Mann in der schon erwähnten Rechtfertigungsschrift: »Von dem Lärm, der sich über diesen unterhörten Friedens- und Völkerrechtsbruch in Europa erhob, macht man sich keine Vorstellung.« Friedrich besetzte das Land, schoss – 180 Jahre vor den angloamerikanischen Bombengeschwadern – die Dresdner Altstadt in Brand, ließ das Staatsarchiv unter Androhung körperlicher Gewalt gegen die in Dresden zurückgebliebene Königin abtransportieren und zwang die in Pirna eingekesselte sächsische Armee unter preußische Fahnen. Wieder hatte er ein neues Element in die deutsche Politik eingeführt: »Das ständige Roulettespielen mit unzureichenden Mitteln, das Hasardieren; das Alles-auf-eine-Karte-Setzen; das Glückhaben-Müssen; der ständige Gedanke an Gift und Dolch, wenn’s schiefgeht; die permanente Überanstrengung.« (Rudolf Augstein) Mit Friedrichs Drittem Schlesischem Krieg stellte er sein Glück allein auf den Erfolg der Waffen. Nirgendwo anders, so urteilt der englische Historiker Gooch, hat sich damals der Glaube an die Waffen als das natürliche Mittel, Streitigkeiten auszutragen, durchgängigerer Achtung erfreut; wurde die Drohung mit dem Krieg als ein Instrument der Politik so systematisch angewandt; bestand so wenig Gefühl für internationale Zusammenarbeit. »Ich habe Europa mit der Seuche des Krieges angesteckt«, schrieb Friedrich 1742 an Voltaire. Dass er in diesem Krieg nicht unterging, verdankte er allein dem glücklichen Umstand des rechtzeitigen Todes der Zarin Elisabeth. Gewiss hat Jacob Burckhardt Recht, wenn er in seinen Weltgeschichtlichen Betrachtungen über Friedrich in diesem Kriege schreibt: »Schicksale von Völkern und Staaten, Richtungen von ganzen Zivilisationen können daran hängen, dass ein außerordentlicher Mensch gewisse Seelenspannungen und Anstrengungen ersten Ranges in gewissen Zeiten aushalten könne. Alle seitherige mitteleuropäische Geschichte ist davon bedingt, dass Friedrich der Große dies von 1759 bis 1763 in supremem Grade konnte.« Aber auch dieses Urteil steht und fällt mit dem für Friedrich gerade noch rechtzeitigen Tod der Zarin.

Ein Jahr später wäre Preußen als Staat vernichtet gewesen. Man kann Friedrich nicht die Fehler oder gar Verbrechen seiner Nachfolger zurechnen, und dennoch: Auf das »Wunder des Hauses Brandenburg« hofften auch Hitler und Goebbels im Bunker, als sie vom Tode Roosevelts erfuhren. Und schon Thomas Mann verglich den deutschen Überfall auf Belgien im Jahre 1914 mit Friedrichs Überfall auf Sachsen, ein durchaus zulässiger Vergleich, wenn man die Motive untersucht. In beiden Fällen hatten sich Preußen und Deutschland diplomatisch isoliert, waren von einem Ring von Feinden umgeben, aus dem sie auszubrechen versuchten, in beiden Fällen unter Bruch des Völkerrechts.

Wilhelm II. hoffte wie Friedrich, dass den Sieger niemand zur Verantwortung ziehen würde. Doch Hasardieren ist keine Politik, und was Friedrich mit Glück gelang, misslang 1918 und endete 1945 in einer Katastrophe. Bismarck hat schon gewusst, warum er die Deutschen immer wieder vor der Konstellation des Dritten Schlesischen Krieges gewarnt hat und das Suchen nach Verbündeten zum Herzstück seiner Außenpolitik machte. Denn auch nach dem glücklichen Ausgang des Siebenjährigen Krieges war Preußen gefährdet wie kein anderer europäischer Staat. Es bleibt die historische Frage, ob Friedrich mit dem Rückgriff auf die reine Macht nicht das Lebensgesetz Preußens formulierte. Resultierte die Radikalität des Handelns Friedrichs aus der Ausnahmesituation eines Staates, für die es keine Parallele gab, so war eben diese Radikalität die Ursache für die dauernde Gefahr des Untergangs, in die er sich selbst und seinen Staat stürzte. Trotz des preußischen Klassizismus, der Humboldt’schen Reformen, des märkischen Arkadien und Fontanes Stechlin bleibt der Satz des Historikers Erdmann gültig, dass es keine preußische Idee gab, mit der dieser Staat – anders als Frankreich, England oder auch Spanien – in die Welt hätte hinauswirken wollen. Was man Preußen schließlich verzieh, solange es dauerte, hat man Deutschland nie verziehen. Friedrichs Legitimation war das Recht der aufsteigenden Macht, das Recht des Stärkeren. Auf eine fast naive Weise hat Gerhard Ritter, der Historiker Preußen-Deutschlands, dies belegt. Hieß es in der ersten Auflage seines Friedrich-Buches 1936 noch »Er (Friedrich) hat damit den Grund für die Größe Preußens gelegt; und so ist seine Tat vor der Geschichte gerechtfertigt«, so stand da 1954: »Er hat damit den Grund für die Größe Preußens gelegt; und solange dessen Aufstieg dauerte, konnte seine Tat als gerechtfertigt vor der Geschichte erscheinen.«

 

Friedrich und die Folgen

In der Friedrich-Verehrung bündelte sich das falsche Denken, wie es – exemplarisch für den Geist von 1914 – in Werner Sombarts Händler und Helden zutage tritt: »Militarismus ist der zum kriegerischen Geiste hinaufgesteigerte heldische Geist. Er ist Potsdam und Weimar in höchster Vereinigung. Er ist ›Faust‹ und ›Zarathustra‹ und Beethoven-Partitur in den Schützengräben. Denn auch die Eroika und die Egmont-Ouvertüre sind doch wohl echtester Militarismus.«

In Ernst Kantorowiczs Buch über einen anderen Friedrich II. kann man nachlesen, welche Bewunderung das gebildete Deutschland einer Herrscherpersönlichkeit entgegenbrachte, die, frei von moralischen Bedenken, jene Härte der Seele besaß, die zu großen Taten befähigte. Friedrich Meinecke hat später in seinem Buch über Die deutsche Katastrophe davon gesprochen, dass das geistige Klima in Deutschland in diesen Jahren geprägt gewesen sei von einer Offenheit und Nacktheit, von einer prinzipiellen Schärfe und Bewusstheit, der Freude an rücksichtslosen Konsequenzen und der Neigung, etwas zunächst doch Praktisches zu etwas Weltanschaulichem zu erheben.

Was sich zu Beginn des Jahrhunderts in der Abwehr der Ideen von 1789 zum ersten Mal gezeigt hatte, wird jetzt zur herrschenden Ideologie. Die Vorstellung von einem »Inneren Reich« und, damit verbunden, die Neigung zu Träumerei und verschwommenen Gefühlslagen begünstigten die Abwendung vom Westen und den fatalen Glauben an eine deutsche kulturelle Mission, an die Brückenfunktion zwischen West und Ost.

Der deutsche Kulturpessimismus betritt die Bühne und wendet das Gesicht des neuen Deutschlands nach Osten. Es ist heute kaum nachvollziehbar, dass ein wirres, in schlechtem Deutsch geschriebenes Buch über Rembrandt als Erzieher von Kritikern als »das bedeutendste Buch unseres Jahrhunderts« gepriesen wurde. Es findet sich in Julius Langbehns Machwerk wenig über Rembrandt, dafür werden alle Themen des deutschen Konservativismus angeschlagen: Ablehnung der zeitgenössischen Kultur, Verhöhnung der Vernunft und Furcht vor den Wissenschaften. Langbehn setzt nicht auf Reformen, sondern auf die Zerstörung der bürgerlichen Gesellschaft. Modernität und Rationalismus sind verwerflich, nur ein neuer Primitivismus kann die elementaren menschlichen Leidenschaften freisetzen und eine neue germanische Gesellschaft schaffen, deren Grundlagen Kunst, Genialität und Macht sind. Wie Paul de Lagarde vor ihm und Oswald Spengler nach ihm formuliert Langbehn ein konservatives Krisenprogramm, das mit den konservativen Grundüberzeugungen vom Bewahren und Anpassen nichts mehr zu tun hat. Statt in konkreter Begrifflichkeit zu argumentieren, wird dem absolutistischen Erbe der französischen Aufklärung mit absolutistischer Gegenaufklärung begegnet.

Dem utopischen Entwurf einer Gemeinschaft von Freien und Gleichen wird das Bild einer rassisch getönten Volksgemeinschaft entgegengesetzt. Nicht die Sicherung der Freiheit des Einzelnen durch Institutionen, sondern das Aufgehen des Individuums in der Schicksalsgemeinschaft Nation ist das Programm der Gegenrevolution.

In diesem Geist liest das deutsche Bürgertum die Philosophie Friedrich Nietzsches. Seine Kritik an neudeutschem Kulturphilistertum, Machtrausch, nationaler Überhebung und Rassenwahn verschwindet hinter dem Lob des Übermenschen. Seine Bewunderung für mediterrane Klarheit, die französischen Moralisten und die Musik Bizets passten nur schlecht zum radikalen Kulturpessimismus und spielten deshalb in der populären Nietzsche-Rezeption keine Rolle.

Herrenmenschentum und rücksichtslose Verachtung alles Schwachen hingegen ließen sich problemlos von ihren ästhetischen und philosophischen Voraussetzungen in Griechentum und Renaissance lösen und zur Herrenmoral einer neuen deutschen Elite stilisieren. So endet in der Verherrlichung der Barbarei, was als Kampf gegen die akademische Orthodoxie einer lebensfeindlichen Wissenschaftskultur begann. Novalis hat diese in Nietzsche triumphierende Geisteshaltung am treffendsten kritisiert: »Das Ideal der Sittlichkeit hat keinen gefährlicheren Nebenbuhler als das Ideal der höchsten Stärke, des kräftigsten Lebens, was man auch das Ideal der ästhetischen Größe benannt hat. Es ist das Maximum des Barbaren und hat leider in diesen Zeiten der verwildernden Kultur gerade unter den größten Schwächlingen sehr viele Anhänger erhalten. Der Mensch wird durch dieses Ideal zum Tier-Geiste – eine Vermischung, deren brutaler Witz eben eine brutale Anziehungskraft für Schwächlinge hat.« Und so resümiert Gottfried Benn bewundernd die Machtergreifung: »Heimkehr der Asen, weiße Erde von Thüle bis Avalon, imperiale Symbole darauf: Fackeln und Äxte und die Züchtung der Überrassen, der solaren Eliten, für eine halb magische und halb dorische Welt. Unendliche Fernen, die sich füllen! Nicht Kunst, Ritual wird um die Fackeln, um die Feuer stehen.«

Vom zwiespältigen Bürgerbewusstsein der wilhelminischen Zeit war nach dem verlorenen Weltkrieg nur noch der Hass auf die westliche Zivilisation geblieben: »Der Westen ist Deutschlands Tod: die Rettung erfordert sich loszulösen von allem, was aus dem Westen kommt und was westlich ist. Alle westlichen Elemente, die Deutschland selbst in sich trägt, sind Spione, Soldaten, Advokaten und Missionäre der westlichen Mächte. Weil es um Sein oder Nichtsein geht, bleibt Deutschland, wenn es sich selbst erhalten will, das schwerste nicht erspart: die Bartholomäusnacht und Sizilianische Vesper gegen alles, was an Westlichem in ihm lebt. Mit grausamer Härte muss es in sich selbst ausrotten, was in ihm dem Westen verbündet ist, dem Westen Zuträgerdienste anbietet, dem Westen Vorschub leistet. Das Bürgerlich-liberale ist unter den heutigen Weltverhältnissen für Deutschland ›Feind im Land‹; es ist die Romanisierungs-, Zivilisations-, Urbanisierungs-, Verwestlichungs- und Entdeutschungsform des deutschen Menschen. Je mehr einer Bürger ist, desto weniger ist er Deutscher.«

Die hier zum Ausdruck kommende Geisteshaltung war die der »konservativen Revolution«, die schon begrifflich als »erhaltender Umsturz« eine logische Unmöglichkeit war. Obwohl dieser Begriff von Hugo von Hofmannsthal geprägt wurde, der als genuiner Konservativer kulturelle Traditionen und Ausdrucksformen bewahren wollte, spiegelt sich in diesem Begriff das falsche Denken vermeintlicher Konservativer, die nicht mehr darauf aus sind, Dinge zu bewahren, sondern in einem revolutionären Prozess erst »Dinge zu schaffen, die zu erhalten sich lohnt«.

Der Tod als Gemeinschaftserlebnis und die Ersetzung des »Ich« durch das »Es« bei Heidegger bezeichnen die extremsten Fluchtpunkte vom westeuropäischen Geist. »Der Verfall an den Betrieb, – an die großen Worte, die Rhetorik ohne Gehalt – die Emotion der Selbst- und Massenberauschung in Wechselwirkung, – an das man, – an das Technische«, wie Jaspers in seinen Notizen zu Martin Heidegger schreibt, bezeichnen auch das Ende der klassischen deutschen Philosophie, mit der der Konservativismus im 19. Jahrhundert über weite Strecken verbündet war. »Heidegger weiß nicht, was Freiheit ist« – dieses Jasperswort richtet auch den deutschen Konservativismus, der sich von seinen Ursprüngen entfernt und die europäischen Traditionen verraten hatte. Der Konservativismus hatte sich – ein »Wanderer ins Nichts«, wie Karl Radek in seinem Nachruf auf Albert Leo Schlageter formulierte – ins Lager seiner Gegner begeben und – gemessen an seinen Ursprüngen – den entferntesten Punkt seines geschichtlichen Weges erreicht. Auf die Frage: Christus oder Barabbas, hatte die »Konservative Revolution« sich für Barabbas entschieden und nicht – wie Donoso Cortés einst gehöhnt hatte – die Frage mit einem Vertagungsantrag oder der Einsetzung einer Untersuchungskommission beantwortet. Es war – um mit Karl Heinz Bohrer zu sprechen – unser letzter Versuch überhaupt – mit welch geistigen und moralischen Mitteln auch immer uns selbst als besondere Kategorie, die Metaphysik des Ichs gegen eine internationale Regel ins Feld zu führen. Die sich diesem Versuch einer Ablösung vom Abendlande – wenn auch spät, zu spät – entgegenstellten, wurden in Hitlers Konzentrationslagern ermordet. Im Widerstand fanden die nobelsten deutschen Konservativen wieder Zugang zum Allgemeinverbindlichen, allerdings nicht aus der deutsch-nationalen Ideenwelt, sondern durch persönliche Entscheidung und die Besinnung auf Grundsätze der Ethik, die außerhalb dieser Ideologie lagen. Mit ihnen ging der preußisch-deutsche Konservativismus zugrunde. Und er ist auch nicht wieder heraufzurufen, da seine Voraussetzungen mit ihm untergegangen sind.

Konservativismus nach 1945

Die Gründung der Christlich-Demokratischen Union nach 1945 konnte deshalb keine konservative Parteigründung sein. Sie war der Zusammenschluss bürgerlicher wie nichtbürgerlicher Kräfte unter einem ethischen Signet. Die Gründung der CDU war eine Absage an alle vorindustriellen Werthaltungen und Strukturen. Sie war der endgültige Durchbruch der demokratischen Industriegesellschaft in Deutschland und damit eher ein Neubeginn als eine Wiederaufnahme verschütteter Traditionen. Versprengte Konservative schließlich fanden über Arnold Gehlen den Weg zur technischen Rationalität einer weitgehend egalitären demokratischen Gesellschaft. Die CDU hatte Teil an der weltweiten Modernisierung auf marktwirtschaftlicher Basis. Sie war die Partei, die das Projekt der Moderne vollenden und die demokratische Industriegesellschaft in Deutschland befestigen sollte. Europa, der gemeinsame Markt, Hochtechnologie, rationale Verwaltungseinheiten, die Individualisierung und Mobilisierung gesellschaftlicher Milieus waren und sind Ziele ihrer Politik. »Konservativ sein heißt an der Spitze des Fortschritts marschieren« – diese Formel von Franz Josef Strauß ist zwar geistesgeschichtlich nicht haltbar, bezeichnet aber griffig jene das Projekt der Moderne vorantreibende Haltung, die die Verluste des Fortschritts ausklammert, die zu thematisieren Aufgabe des Konservativismus ist. Konservativ ist die CDU nur insofern, als sie die nach 1949 im Westen Deutschlands entstandene Ordnung bewahren will. Und diese Ordnung ist die einer demokratischen Industriegesellschaft, deren Klassenstruktur weit schwächer ausgebildet ist als die der klassischen Demokratien.

Die CDU schaute nur auf die Gewinner dieses Prozesses und wurde blind für die kulturellen Verluste, die das Geschehen begleiteten. Sie gab das Ästhetische verloren, obwohl gerade dies einmal die Domäne des Konservativen war. Die Aversion gegen das Zufällige, das Bunte und das Vielgestaltige sowie ihr Gegenstück, die Vorliebe für das Einheitliche, Ubiquitäre und Universelle, waren früher einmal ein Kennzeichen der Linken. Inzwischen sind sie zu einem Privileg der rechten Mitte avanciert, die sich Forsthoffs Dictum zu Eigen gemacht hat: »Der Geist der Technik, auf nichts anderes bezogen als auf deren Perfektion, schließt individuelle Freiheit grundsätzlich aus.« Während die Linke die Rolle der Romantiker, Maschinenstürmer und Nachzügler der Weltgeschichte übernahm, sahen sich die Konservativen in der CDU unversehens auf die Seite der Industriegesellschaft gedrängt, der sie so lange misstrauisch gegenübergestanden hatten.

Die Schlüsselworte der westdeutschen Gesellschaft waren Stabilität und Konsens. Schon am Beginn der zweiten deutschen Demokratie stand mit der sozialen Marktwirtschaft ein Ordnungsbegriff, der Ausgleich und Partnerschaft signalisierte. Alle Begriffe, die im öffentlichen Leben der Bundesrepublik eine Rolle gespielt haben, atmen diesen Geist der Konfliktvermeidung. Mitbestimmung, Friedenspflicht, innerer Friede, sozialer Friede, soziales Netz, Sozialpartnerschaft, Sicherheitspartnerschaft, konzertierte Aktion und Solidarpakt. Zu keiner Zeit hatte jene kalte Marktgesellschaft, die Margaret Thatcher und Ronald Reagan vorschwebte, in diesem Lande eine Chance. Die manchmal beklagten Verkrustungen – ob beim Ladenschluss, in der Tarifpolitik oder auf dem Arbeitsmarkt – sind die Folge eines leidenschaftlichen Sicherheitsbedürfnisses, das in dem Wahlkampfslogan der fünfziger Jahre »Keine Experimente« einen überzeitlichen und allgemeingültigen Ausdruck fand. Das Bild des Staates als einer Versicherungsgesellschaft auf Gegenseitigkeit hat sich weit von der Hegel’schen Staatsmystik entfernt. Dem Streben nach gesellschaftlichem Konsens entspricht die Ausrichtung der deutschen Politik und ihrer Institutionen auf die politische Mitte. Risikovermeidung um jeden Preis mag auch die Folge des Fehlens einer homogenen Führungselite sein, da dieser Mangel fast zwangsläufig durch das Streben nach Konsens und institutionellem Zwang zu politischer Gemeinsamkeit ausgeglichen werden muss.

 

Karl Heinz Bohrer hat in seinen bitteren Marginalien zum Provinzialismus das Versagen der bundesrepublikanischen »classe politique« im Golfkrieg gegeißelt und ihr ihre Flucht aus dem Politischen vorgeworfen. Dabei hat er den Verlust der alten politischen Führungsschichten für die »intellektuelle Begrenzung und die kulturelle Niveaulosigkeit« der neuen kleinbürgerlichen Politikergeneration verantwortlich gemacht, die er in Kohl und Lafontaine repräsentiert sah. Nicht erst der Betroffenheitskult in der Nachfolge der Achtundsechziger, sondern bereits das Aufgeben der existentiellen metaphysischen Dimension in den sechziger und siebziger Jahren habe Deutschland als eine geistige Möglichkeit ausgelöscht. Doch die Bindung an den Westen setze eine eigene akzeptierte Identität voraus, die das Erbe nicht schematisch in rational und irrational unterteile, da ebendiese Selbstverstümmelung der tiefere Grund für den Mangel an Existenzwillen und Handlungsbereitschaft in der alten Bundesrepublik sei.

Diese Kritik, die Botho Strauß in seinem »Anschwellenden Bocksgesang« wieder aufgenommen hat, zielt zugleich auf jene »political correctness«, die schon die Frühromantik in den deutschen Sonderweg einbiegen sieht und mit Ernst Jüngers Arbeiter auch seine Marmorklippen verwirft. Die alte Bundesrepublik, so ihre Kritiker, habe ein Milieu hervorgebracht, das »betont kommunikativ, aber evasiv, liebenswürdig, aber ängstlich, programmatisch-ideologisch, aber undeutlich und unkonkret« sei. »Dass ein Volk sein Sittengesetz gegen andere behaupten will und dafür bereit ist, Blutopfer zu bringen, das verstehen wir nicht mehr und halten es in unserer liberal-libertären Selbstbezogenheit für falsch und verwerflich.« Tatsächlich hatte die geographische Amputation von 1945, die nach der Wende für die Gebiete jenseits der Oder legitimiert wurde, eine geistige Amputation zur Folge. Das alte Reich musste den Spannungsbogen zwischen rheinischem Katholizismus und ostdeutschem Pietismus aushalten. Köln verband fast nichts mit Königsberg, die Pfalz nichts mit der Uckermark. Wolf Jobst Siedler hat einmal davon gesprochen, dass man Deutschland in das Weinland im Westen, das Bierland in der Mitte und das Schnapsland im Osten teilen könne, das dann umstandslos in die slawische Wodkawelt übergehe. Historischer ausgedrückt, kann man davon sprechen, dass die alte Bundesrepublik in ihrem Kern Limesland, also römisches Erbe war, dass die vormalige DDR bis zur Elbe das ottonische Deutschland umfasste, in dem die mittelalterlichen Kaiser gotische Dome mit römischen Ziegeln gebaut hatten, und dass östlich der Elbe Kolonialland lag, Ostelbien eben. War das Hohenzollernreich evangelisch geprägt, so war die alte Bundesrepublik konfessionell ausgeglichen. Doch da die Stätten deutscher Innerlichkeit – Wittenberg und Naumburg, Eisleben und die Wartburg – aus dem Blickfeld verschwunden waren, prägte das katholische Deutschland den Weststaat stärker als sein evangelisches Element. Es fiel der alten Bundesrepublik folglich auch nicht schwer, sich in die angelsächsische Weltzivilisation einzufügen; denn der Rhein hatte schon immer Teil an der westeuropäischen Entwicklung, an römischem Institutionendenken, an Renaissance, Aufklärung und den Idealen von 1789 gehabt. Rom, London, Paris, Dublin und Washington sind einander viel näher als jede dieser Städte Berlin, Warschau oder Budapest. Der alte Stechlin blickte nach Osten, nach Russland, nicht nach Westen, ganz anders der Düsseldorfer Jude Heine und der rheinische Katholik Adenauer. Trotz Kant und Humboldt war das Gesicht Preußens gen Osten gewandt, schließlich war Preußen im Siebenjährigen Krieg und in den Befreiungskriegen von Russland gerettet worden und auch Bismarcks Einigungswerk nur durch den Seitenwechsel Russlands nach dem Krimkrieg möglich gewesen. Unsere westlichen Nachbarn haben diese Veränderung Deutschlands sehr viel schärfer gesehen als wir selbst. Graf Krockow zitiert in seinem Buch Die Deutschen in ihrem Jahrhundert einen Holländer mit den Worten: »Ihr Deutschen klagt immer darüber, dass 1945 der Osten so weit vorgedrungen ist bis an die Elbe und die Werra. Für uns sieht es anders aus: Die Grenze Westeuropas ist um ein paar hundert Kilometer von Aachen bis Helmstedt nach Osten vorverlegt worden.«

Der Fortfall der Provinzen, aus denen die Führungsschichten des Hohenzollernreiches gekommen waren, hatte aber auch eine personale Folge, die zugleich Verlust und Gewinn bedeutete. Diejenigen, die die deutsche Großmachtpolitik getragen und den deutschen Weg zwischen West und Ost verkörpert hatten, waren ihrer materiellen Basis beraubt. Was der Nationalsozialismus begonnen hatte, vollendete seine Niederlage. Zum letzten Male waren die großen preußischen Namen am 20. Juli 1944 in Erscheinung getreten. Im Aufbäumen gegen Hitler verblutete sich der preußischdeutsche Konservativismus. Nach dem Kriege gab es jenes Deutschland nicht mehr, das sich von der politischen Kultur Westeuropas dadurch zu unterscheiden suchte, dass es die »volkhafte Lebensordnung« über den bürgerlichen Staat stellte. Eine Neuauflage der Politik der Brockdorf-Rantzau und Schulenburg war weder machtpolitisch noch räumlich noch geistig möglich. Fast spurlos verschwanden die letzten Vertreter einer nationalen Tradition aus dem literarischen und öffentlichen Leben. Reinhold Schneider, Hans-Joachim Schoeps, Gerhard Ritter und Ludwig Dehio wecken heute nur noch vage Erinnerungen an eine kulturelle Traditionslinie zwischen Weimar und Potsdam, die im Niemandsland endete. Dieser Konservativismus war vielgestaltig, elitär und antidemokratisch. Er war eine lockere Föderation aus unterschiedlichen Stimmungen und Strömungen. Der Geist von 1914, romantische Todessehnsucht und intensives Gemeinschaftserlebnis, kultureller Elitismus à la George und Benn und das preußische »Mehr sein als scheinen«. Der aristokratische Widerstand gegen Bürgerlichkeit und Industriekapitalismus, das Heidegger’sche »Es«, das er gegen den Ich-Kult der westlichen Zivilisationen stellte. Diesem Konservativismus entstammte der Kreisauer Kreis wie die bündische Jugend, Stauffenbergs Tat wie Goerdelers Denken. Othmar Spann gehört hierher und Hugo von Hofmannsthal, der literarische Kanon als geistiger Raum der Nation und Carl Schmitts Politische Romantik. Thomas Mann hat mit den Betrachtungen eines Unpolitischen diesem Geist ein Manifest geschrieben. Er war nie eindimensional – Christlich-Abendländisches gehörte dazu wie Deutsch-Nationales, Wagners Ring und Nietzsches philosophische Zertrümmerung, der Rembrandtdeutsche wie der Tat-Kreis Hans Zehrers, Ernst Forsthoffs Verteidigung des Leviathan und Arnold Gehlens kulturelles Kompensationstraining. Allen diesen Strömungen, Stimmungen und Haltungen war eines gemeinsam: die Ablehnung des bloß Ökonomischen. Doch weil der Pesthauch des Nationalsozialismus manche ihrer Persönlichkeiten und die meisten ihrer Gedanken getroffen hatte, taugten sie nicht mehr für die Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen und ideologischen Gleichgewichts in Deutschland, und selbst Persönlichkeiten wie Forsthoff, Ritter und Gehlen, deren größere Wirksamkeit in der alten Bundesrepublik lag, beförderten am Ende mit dem Rückzug auf die technische Rationalität die Ökonomisierung der Gesellschaft, statt ihre Widerstandskraft dagegen zu stärken. Seitdem kann man keinen Gedanken in diesem Lande besser erledigen, als ihn zwischen Martin Heidegger, dem »Todtnauberg-Menschen«, und Friedrich Georg Jüngers erstem Entschleunigungsversuch anzusiedeln. Friedrich Sieburg musste das ebenso erleben wie jüngst Botho Strauß. Solange der Kommunismus als Gegner mächtig war, fiel das nicht ins Gewicht, da der gemeinsame Kampf um die Erhaltung der freiheitlichen Ordnung und die Furcht vor ihrem Untergang die Welt im Gleichgewicht hielten. Nach dem Wegfall dieser Bedrohung kehrt die Geschichte in den Ländern Mittel- und Osteuropas zurück, eine Geschichte, zu der immer auch der Kampf zwischen vorwärts drängenden und retardierenden Kräften gehörte. Nur in Deutschland ist diese Tendenz gebrochen, stehen die retardierenden Kräfte auch ein halbes Jahrhundert nach dem Ende der NS-Zeit noch unter geistiger Quarantäne. Figuren wie Evelyn und Auberon Waugh oder Michel Houellebecq sind in Deutschland nur schwer vorstellbar.

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