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Salvator

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Alles dies war so wenig wahrscheinlich, daß der Präsident die Geschworenen anschaute, – und diese schüttelten den Kopf mit einer höchst bezeichnenden Miene.

Was Dominique betrifft, so blieb sein Anblick während des Laufes der Debatten der eines Menschen, welcher von einem bis zum Delirium gehenden Fieber befallen ist. Er stand auf, er setzte sich wieder, zog seinen Vater am Schooße seines Ueberrocks, öffnete den Mund, als ob er sprechen wollte, stieß dann plötzlich einen Seufzer aus, zog sein Sacktuch aus der Tasche, wischte seine schweißbedeckte Stirne ab, ließ seinen Kopf in seine Hände fallen und blieb Stunden lang wie vernichtet.

Etwas Aehnliches ging übrigens aus Seiten von Herrn Gérard vor: denn, – für die Anwesenden unerklärliche Befangenheit, – es war nicht Herr Sarranti, sondern vielmehr Dominique, dem Herr Gérard mit den Augen folgte.

Stand Dominique aus, so stand er, wie durch eine Feder emporgehoben, auch aus: öffnete Dominique den Mund, um zu sprechen, so floß der Schweiß von der Stirne des Anklägers, der einer Ohnmacht nahe zu sein schien.

Diese zwei Bläßen rangen mit einander, welche zuerst die Leichenfarbe erreichen würde.

Mitten unter diesen mysteriösen Scenen, deren Geheimniß nur die zwei Schauspieler besaßen, warf ein unerwarteter Zwischenfall sein heiseres, mißstimmiges Geschrei in das Concert von Lobeserhebungen, das sich um Herrn Gérard erhob.

Ein achtzigjähriger Greis, bleich, abgezehrt, mager wie der aufgeweckte Lazarus, antwortete aus den Ruf, der an ihn erging, und trat mit langsamem, aber gleichmäßigem, wie der der Statue des Gouverneurs, festem und sonorem Schritte vor.

Es war jener alte Gärtner von Viry, Vater und Großvater einer ganzen Welt von Kindern, der die Gärten des Schlosses seit dreißig bis vierzig Jahren kultivierte, als sich das Ereigniß zutrug: es war jener treue Diener, dessen Entlassung, wie man sich erinnert, Orsola verlangt hatte, um sich ihrer Herrschaft über Herrn Gérard zu versichern.

»Ich weiß nicht, wer den Mord begangen hat,« sagte er: »doch ich weiß, daß die ermordete Frau eine böse Frau war: sie hatte sich des Geistes von diesem Manne bemächtigt, der nicht ihr Gatte war, und dessen Frau sie werden wollte, (und er deutete aus Herrn, Gérard). Sie hatte ihn behext, und sie übte eine grenzenlose Gewalt über ihn. Meine Ueberzeugung ist, daß sie die Kinder haßte, und daß sie mit diesem Manne Alles machen konnte, was sie wollte.«

»Habt Ihr eine Thatsache zu erzählen?« fragte der Präsident.

»Nein,« antwortete der Greis; »nur habe ich so eben vom Charakter von Herrn Gérard reden hören, und ich halte es für die Pflicht von mir, der ich seit achtzig Jahren so viele Menschen gesehen, zu sagen, was ich von diesem denke. Die Magd wollte Herrin werden; vielleicht thaten ihr die Kinder hierbei Zwang an. Ich war ihr wohl ein Hinderniß!«

Während der Greis sprach, schien Dominique zu triumphieren, indeß im Gegentheile Herr Gérard bleich war wie ein Todter. Seine zitternden Kinnbacken machten seine Zähne an einander klappern.

Diese Erklärung brachte eine tiefe Erregung im Publikum hervor.

Der Präsident war genöthigt, zur Stille aufzufordern, und als er den Greis entließ, sagte er zu ihm:

»Geht, mein Freund; die Herren Geschworenen werden Eurer Angabe Rechnung tragen.«

Der Advocat von Herrn Gérard wand nun ein, man habe den Gärtner, dessen Dienste wegen seines hohen Alters beinahe unnütz geworden seien, entlassen wollen, und in diesem Augenblicke habe Orsola, welche dieser Mensch anzugreifen so undankbar sei, seine Begnadigung erbeten.

Der Greis, der mit einer Hand auf seinen Stab, mit der andern auf einen seiner Söhne gestützt, nach seiner Bank zurückkehrte, blieb plötzlich stehen, als ob ihn, durch das hohe Gras des Parkes gehend, eine Schlange in die Ferse gebissen hätte.

Dann kehrte er um und sprach mit fester Stimme:

»Was dieser Herr so eben gesagt hat, ist, abgesehen vom Undanke, dessen er mich beschuldigt, die reine Wahrheit. Orsola hatte Anfangs meine Entlassung verlangt, und Herr Gérard hatte ihr dieselbe bewilligt: sodann verlangte sie meine Begnadigung, und Herr Gérard bewilligte sie ihr auch. Die Magd wollte ihre Gewalt über den Herrn versuchen, vielleicht um sich dessen zu versichern, was sie bei einem wichtigeren Umstande thun könnte. Fragen Sie Herrn Gérard, ob das wahr ist.«

»Ist das, was. dieser Mensch sagt, wahr, mein Herr?« fragte der Präsident Herrn Gérard.

Gérard wollte antworten, es sei falsch: doch emporschauend begegnete er den Augen des Gärtners, welche die seinigen suchten.

Geblendet durch sie wie durch Blitze seines Gewissens, hatte er nicht den Muth zu leugnen, und er stammelte:

»Es ist wahr!«

Dieser Zwischenfall ausgenommen waren, wie gesagt, alle Zeugnisse zu Gunsten von Herrn Gérard.

Was die Zeugnisse zu Gunsten von Herrn Sarranti betrifft, – der Angeklagte hatte nicht um ein einziges angesucht: er wähnte sich bonapartistischer Verschwörung beschuldigt, und da er die ganze Verantwortlichkeit aus sich zu nehmen gedachte, so hatte er keine Entlastungszeugen nöthig zu haben geglaubt.

So hatte sich die Anklage wie aus einem Zapfen gedreht, und Herr Sarranti befand sich einem Diebstahle, einer doppelten Entführung und einem Morde gegenüber. Die Anschuldigung dünkte ihm alsdann so wahnsinnig, daß er sich auf die Instruction selbst verließ, sie werde seine Unschuld zur Kenntniß bringen.

Nur zu spät bemerkte er, in welche Falle er gerathen war, und bei diesem Factum des Diebstahls, der Entführung und des Mordes widerstrebte es ihm, ein Zeugniß anzurufen. Seiner Ansicht nach mußte sein Ableugnen genügen.

Doch allmählich drang durch diese Bresche, die er offen gelassen, der Verdacht, dann die Wahrscheinlichkeit, dann, wenn nicht in den Geist des Publikums, wenigstens in den der Geschworenen eine Beinahe-Gewißheit ein.

Herr Sarranti war wie ein Mensch, der von einem zu raschen Laufe gegen einen Abgrund fortgerissen wird: er sah den Abgrund, er ermaß ihn; doch es war zu spät! keine Stütze schien sich zu bieten, an der er sich hätte zurückhalten können. Er mußte unfehlbar hinabstürzen. Der Abgrund war tief, erschrecklich, häßlich: er sollte dabei nicht nur das Leben, sondern auch die Ehre verlieren.

Und dennoch sagte ihm Dominique unablässig leise:

»Haben Sie Muth, mein Vater! ich weiß, daß Sie unschuldig sind!«

Man war zu dem Punkte der Debatten gelangt, wo, da die Sache hinreichend durch das Anhören der Zeugen erhellt war, die gesetzliche Discussion den Advocaten zukommt.

Der Advocat der Civilpartei nahm das Wort.

Ich weiß nicht, ob die Gesetzgebung, als sie bestimmte, die Parteien sollten, statt selbst zu plaidiren, durch das Organ eines Dritten plaidiren, sah, begriff, errieth, – abgesehen von den Vortheilen, die sie bei der Anklage oder der Vertheidigung durch Procuration fand, – ich weiß nicht, ob sie sah, begriff, errieth, zu welchen Stufen der Treulosigkeit, der Unverschämtheit und der Spitzfindigkeit sie den Menschen hinabzusteigen zwinge.

Es gibt auch im Justizpalaste Advocaten der schlimmen Sachen. Diese Menschen wissen vollkommen, daß die Sache, die sie verteidigen, eine schlechte ist: schaut sie aber an, hört sie, studiert sie: würdet Ihr nach ihrer Stimme, nach ihren Geberden, nach ihrem Accente nicht sagen, sie seien überzeugt?

Was ist nun der Zweck dieser falschen Ueberzeugung, die sie heucheln? Ich setze die Frage des Geldes, der Belohnung, des Salaire ganz beiseit: was ist der Zweck dieser falschen Ueberzeugung, die sie heucheln und die Anderen wollen theilen machen?

Nicht der, einen Schuldigen zu retten und einen Unschuldigen zur Verurtheilung zu bringen?’

Sollte das Gesetz, statt diese seltsame Abirrung des Geistes zu beschützen, dieselbe nicht vielmehr bestrafen?

Man wird mir vielleicht sagen, es sei mit dem Advocaten wie mit dem Arzte. Der Arzt wird gerufen, um einen Mörder zu behandeln, der, in der Ausübung seiner Functionen, einen Messerstich oder eine Pistolenkugel bekommen hat: um ins Leben einen Verurtheilten zurückzurufen, der nach seiner Verurteilung, in Folge eines wohl erwiesenen Verbrechens, sich zu entleiben versucht hat; der Arzt kommt und findet den Verwundeten fast im Zustande einer Leiche; er braucht die Wunde nur machen zu lassen: sie wird ganz sachte und von selbst den Menschen zum Tode führen. Der Arzt glaubt eine völlig entgegengesetzte Mission empfangen zu haben; der Arzt ist der Kämpfer für das Leben, der Gegner des Todes.

Ueberall, wo er das Leben trifft, unterstützt er es, überall, wo er den Tod trifft, bekämpft er ihn.

Er kommt in dem Augenblicke an, wo das Leben des Mörders oder wenigstens des Verurtheilten verscheidet, wo der Tod die Hand ausstreckt, um sich des Verurtheilten oder des Mörders zu bemächtigen; wer auch der Sterbende sein mag, der Arzt ist sein Secundant, er wirft den Handschuh der Wissenschaft dem Tode hin und spricht: »Nun ist es an uns Beiden!«

Von diesem Augenblicke an beginnt der Kampf zwischen dem Arzte und dem Tode. Schritt für Schritt weicht der Tod vor dem Arzte zurück. Der Tod tritt am Ende aus dem Kreise hinaus, der Arzt bleibt Herr des Schlachtfeldes; der Verurtheilte, der sich entleiben wollte, der Mörder, der eine Wunde bekommen hat, sind gerettet; ja, doch gerettet, um den Händen der menschlichen Gerechtigkeit übergeben zu werden, die an ihnen ihr Zerstörungswerk übt, wie der Arzt sein Rettungswerk geübt hat.

So ist es mit dem Advocaten, wird man sagen: man gibt ihm einen Schuldigen, das heißt einen schwer verwundeten Menschen; er macht daraus einen Unschuldigen, das heißt einen Menschen, der sich wohl befindet.

Derjenige, welcher mir diese Antwort gibt, vergißt nur Eines: daß der Arzt Niemand das Leben nimmt, welches er dem Kranken wiedergibt, während der Advocat manchmal dem Unschuldigen das Leben nimmt, das er dem Schuldigen gibt.

 

Es war so bei dem erschrecklichen Ereignisse, wo Herr Gérard und Herr Sarranti einander gegenüberstanden.

Vielleicht glaubte der Advocat von Herrn Gérard an die Unschuld von diesem: sicherlich glaubte er aber nicht an die Schuldhaftigkeit von Herrn Sarranti.

Das hielt diesen Mann nicht ab, die Anderen glauben zu machen, was er selbst nicht glaubte.

Er drängte in einem emphatischen Eingange alle rednerische Gemeinplätze, alle die abgedroschenen Phrasen zusammen, die sich in den Journalen jener Zeit gegen die Bonapartisten herumschleppten: er zog eine Parallele zwischen Karl X. und dem Usurpator: er tischte den Geschworenen alle die Beigerichte aus, die ihren Appetit in Betreff des Hauptstückes reizen sollten. Das Hauptstück war Herr Sarranti, das heißt einer von jenen Ruchlosen, vor denen die Schöpfung einen Abscheu hat: eines von jenen Ungeheuern, welche die Gesellschaft zurückstößt, einer von jenen Verbrechern, fähig zu den schwärzesten Attentaten, deren Tod als ein Beispiel von ihren Zeitgenossen verlangt wird, welche entrüstet sind, daß sie dieselbe Lust mit ihnen athmen sollen.

Er schloß also, ohne das erschreckliche Wort auszusprechen, aus die Todesstrafe.

Doch, wir müssen es sagen, er nahm zugleich seinen Platz unter einem eisigen Stillschweigen wieder ein.

Dieses Stillschweigen des Auditoriums, eine augenscheinliche Mißbilligung der Masse, mußte im Herzen des Advocaten des redlichen Herrn Gérard ein schmerzliches Gefühl der Wuth und der Scham zurücklassen. Keine Stirne lächelte ihm zu, kein Mund beglückwünschte ihn, keine Hand streckte sich gegen seine Hand aus, und als das Plaidoyer beendigt war, bildete sich ein leerer Raum um ihn.

Er wischte seine in Schweiß gebadete Stirne ab und erwartete mit Bangigkeit das Plaidoyer seines Gegners.

Derjenige, welcher für Herrn Sarranti plaidirte, war ein der republikanischen Partei angehörender junger Advocat; er hatte kaum vor einem Jahre auf der Laufbahn des Advocatenstandes debutirt, und sein Debut war ein äußerst glänzendes gewesen.

Er war der Sohn von einem unserer berühmtesten Gelehrten und hieß Emanuel Richard.

Herr Sarranti hatte mit seinem Vater in Verbindung gestanden; der junge Mann hatte sich im Namen seines Vaters angeboten; Herr Sarranti hatte angenommen.

Der junge Mann stand auf, legte seine Toque auf die Bank, warf seine langen schwarzen Haare zurück und begann bleich vor innerer Erregung.

Ein tiefes Stillschweigen herrschte im Auditorium von dem Augenblicke, wo es bemerkte, er werde sogleich anfangen zu reden.

»Meine Herren,« sprach er, den Geschworenen ins Gesicht schauend, »erstaunen Sie nicht, daß mein erstes Wort ein Schrei der Entrüstung und des Schmerzes ist. Seit dem Augenblicke, wo ich die monstruose Anklage habe hervortreten sehen, welche hoffentlich auf eine Fehlgeburt auslaufen wird, und aus die zu antworten mir Herr Sarranti in jedem Falle verbietet, bewältige ich mich nur mit großer Mühe, und mein verwundetes Herz blutet und seufzt tief in meinem Innern.

»Ich wohne in der Thal einer erschrecklichen Sache bei.

»Ein ehrenwerther und geehrter Mann, ein alter Soldat, dessen Blut aus allen unsern großen Schlachtfeldern für denjenigen geflossen ist, der zugleich sein Landsmann, sein Herr und sein Freund war: ein Mann, dessen Herz nie ein böser Gedanke beschmutzt, dessen Hand nie eine schmähliche Handlung befleckt hat: dieser Mann, der mit hoher Stirne hierher gekommen ist, um aus eine der Anklagen zu antworten, die zuweilen ein Ruhm für diejenigen sind, welche sie treffen: dieser Mann sagt Ihnen: »»Ich habe um meinen Kopf in dem großen Spiele der Verschwörungen gespielt, das die Throne niederwirft, die Dynastien verändert, die Reiche umstürzt: ich habe verloren: nehmen Sie ihn!«« Dieser Mann hört sich zurufen: »»Schweigen Sie! Sie sind kein Verschwörer: Sie sind ein Dieb, Sie sind ein Entführer, Sie sind ein Mörder!««

»Ah! meine Herren, Sie werden zugeben, man muß sehr stark sein, um vor dieser dreifachen Anklage den Kopf hoch tragend zu bleiben. In der That, wir sind stark: denn aus diese dreifache Anklage antworten wir ganz einfach: »»Wären wir das, was Sie sagen, so hätte uns der Mann mit den Adleraugen und den Flammenblicken, der so gut in den Herzen zu lesen wußte, nicht die Hand gedrückt, er hätte uns nicht seine Freunde genannt, er hätte uns nicht gesagt: Geh!! . . . ««

»Entschuldigen Sie, Maitre Emanuel Richard,« fragte der Präsident, »von welchem Manne sprechen Sie denn so?«

»Ich spreche von Seiner Majestät Napoleon I., gesalbt 1804 in Paris zum Kaiser der Franzosen; gekrönt 1805 in Mailand zum König von Italien, und gestorben als Gefangener auf St. Helena, am 5.Mai 1821,« antwortete der junge Mann mit lauter, verständlicher Stimme.

Es läßt sich nicht sagen, welch ein seltsamer Schauer die Versammlung durchlief.

Damals nannte man Napoleon den Usurpator, den Tyrannen, den Wehrwolf von Corsica, und seit dreizehn Jahren, das heißt seit dem Tage seines Sturzes, hatte sicherlich Niemand vor seinem besten, vertrautesten Freunde ausgesprochen, was Emanuel Richard im Angesichte des Gerichtshofes, der Geschworenen und des Auditoriums ausgesprochen.

Die Gendarmen, welche zur Rechten und zur Linken von Herrn Sarranti saßen, standen auf und befragten mit den Augen und mit den Geberden den Präsidenten, was zu thun sei, und ob sie nicht noch im Laufe der Sitzung den vermessenen Advocaten in Verhaft nehmen sollten.

Gerade das Uebermaß seiner Kühnheit rettete ihn; das Tribunal blieb niedergeschmettert.

Herr Sarranti ergriff die Hand des jungen Mannes und sprach zu ihm:

»Genug! genug! im Namen Ihres Vaters, gefährden Sie sich nicht!«

»Im Namen Ihres Vaters und des meinigen, fahren Sie fort!« rief Dominique.

»Meine Herren,« fuhr Emanuel fort, »Sie haben Processe gesehen, bei welchen die Angeklagten die Zeugen Lügen straften, die augenscheinlichsten Beweise leugneten, dem Staatsanwalte ihr Leben streitig machten, Sie haben Alles dies zuweilen, oft, fast immer gesehen . . . Nun wohl, meine Herren, wir, wir behalten Ihnen ein viel interessanteres Schauspiel vor.

»Wir sagen Ihnen:

»»Ja, wir sind schuldig, und hier sind die Beweise: ja, wir haben gegen die innere Sicherheit des Staats konspiriert, und hier sind die Beweise: ja, wir wollten die Form der Regierung ändern, und hier sind die Beweise: ja, wir haben ein Complott gegen den König und seine Familie angezettelt, und hier sind die Beweise: ja, wir sind Majestätsverbrecher, und hier sind die Beweise: ja, ja, wir haben die Strafe der Vatermörder verdient, und hier ist der Beweis: ja, wir verlangen barfuß und den schwarzen Schleier auf dem Kopfe nach dem Schaffot zu gehen, wie es unser Recht ist, wie es unser Wunsch ist, wie es unser Wille ist . . . «

Ein Schreckensschrei drang aus Aller Munde hervor.

»Schweigen Sie! schweigen Sie!« rief man von allen Seiten dem jungen Fanatiker zu, »Sie stürzen ihn ins Verderben.«

»Reden Sie, reden Sie!« rief Sarranti, »so will ich vertheidigt sein.«

Beifallklatschen erscholl aus allen Punkten des Auditoriums.

»Gendarmen, räumen Sie den Saal!« rief der Präsident.

Dann wandte er sich gegen den Advocaten und sagte zu ihm:

»Maitre Emanuel Richard, ich entziehe Ihnen das Wort.«

»Wenig liegt mir zu dieser Stunde hieran,« antwortete der Advocat, »ich habe das Mandat, mit dem ich betraut worden bin, erfüllt, ich habe Alles gesagt, was ich zu sagen hatte.«

Sodann sich gegen Herrn Sarranti umdrehend:

»Sind Sie zufrieden, mein Herr, und sind es wirklich Ihre Worte, die ich wiederholt habe?«

Statt jeder Antwort warf sich Herr Sarranti in die Arme seines Vertheidigers.

Die Gendarmen hielten sich bereit, den Befehl des Präsidenten zu vollziehen: doch es durchlief sogleich ein solches Gebrüll die Menge, daß der Präsident einsah, er unternehme ein nicht nur schwieriges, sondern sogar gefährliches Werk. Ein Aufruhr konnte zum Ausbruche kommen, und während des Aufruhrs konnte Herr Sarranti entführt werden.

Einer von den Richtern neigte sich gegen den Präsidenten und sprach ihm leise ein paar Worte ins Ohr.

»Gendarmen,« sagte dieser, »nehmen Sie Ihre Plätze wieder ein. Der Gerichtshof appelliert an die Würde des Auditoriums.«

»Stille!« rief eine Stimme mitten aus der Menge.

Und die Menge, als wäre sie gewohnt, dieser Stimme zu gehorchen, schwieg.

Von da an war die Frage scharf herausgestellt’: einerseits die Verschwörung, die sich, in ihren kaiserlichen Glauben, in die Religion ihres Eides verschanzt, nicht einen Schild, sondern eine Palme aus ihrem Verbrechen machte: andererseits die öffentliche Behörde10 entschlossen, in Herrn Sarranti nicht den Verbrecher des Hochverrates, den Schuldigen der Majestätsbeleidigung, sondern den Dieb von hunderttausend Thalern, den Entführer der Kinder, den Mörder von Orsola zu verfolgen.

Sieh wegen dieser Anklagen vertheidigen hieß sie zugeben: sie Schritt für Schritt, eine um die andere, zurückweisen hieß ihre Existenz zugeben.

Aus Befehl von Herrn Sarranti hatte sich also Emanuel Richard nicht einen Augenblick der dreifachen Anklage, die der Staatsanwalt verfolgte, entgegengestellt: er ließ das Publikum Richter dieser seltsamen Lage eines Angeklagten sein, der ein Verbrechen gestand, welches man ihn nicht wollte gestehen machen, und das nicht eine Erleichterung, sondern eine Erschwerung der Strafe für das, dessen er angeklagt war, nach sich zog.

Das Urtheil war auch im Publikum gesprochen. Bei jedem anderen Umstande wäre nach dem Plaidoyer des Advocaten vom Angeklagten die Sitzung unterbrochen worden, um den Richtern und den Geschworenen einen Augenblick Ruhe zu gewähren; doch nach dem, was im Auditorium vorgegangen, war jeder Halt auf dem Abhange, den man hinabstieg, gefährlich, und die öffentliche Behörde dachte, es sei besser ein Ende zu machen, und müßte man auch unter einem Sturme endigen.

Der Herr Staatsanwalt erhob sich also; unter der tiefen Stille, die sich über das Meer zwischen zwei Sturmwinden verbreitet, nahm er das Wort.

Von den ersten Worten an begriff das ganze Publikum, daß man von den poetischen, blitzenden Höhen eines politischen Sinai wieder in die Niederungen einer Criminalchicane hinabgefallen war.

Als ob der erschreckliche Ausfall des Advocaten von Herrn Sarranti nicht stattgefunden hätte; als ob dieser halb niedergeschmetterte Titan nicht auf seinem Throne den Jupiter der Tuilerien wanken gemacht hätte; als ob der Blick nicht noch geblendet wäre von den Blitzen, die der kaiserliche Adler, durch den höchsten Aether hinziehend, über der Menge flammen gemacht hatte, drückte sich der Herr Staatsanwalt also aus:

»Meine Herren, seit einigen Monaten haben mehrere Verbrechen die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen, während sie zugleich die thätige Sorgfalt und die Ueberwachung der Behörden rege machten. Aus der Anhäufung einer stets zunehmender Bevölkerung, vielleicht auch aus der Unterbrechung einer Arbeit oder aus der Theurung der Lebensmittel entstehend, waren diese Verbrechen sicherlich nicht zahlreicher, als die, über welche wir gewöhnlich zu seufzen haben, und die der kretische Tribut sind, den die Gesellschaft jedes Jahr dem Müßiggang und den Lastern bezahlt, welche, wie der Minotaurus des Alterthums, eine gewisse Anzahl von Opfern haben wollen.«

Offenbar hegte der Staatsanwalt eine Werthschätzung für diese Periode, denn er machte eine Pause und schaute im Kreise aus dieser Menge umher, welche in ihren Abgründen vielleicht um so mehr aufgeregt, als sie an ihrer Oberfläche stumm war.

Das Publikum blieb unempfindlich.

»Meine Herren,« fuhr der Staatsanwalt fort, »es hatte sich indessen die Frechheit mehrerer Schuldigen eine neue Laufbahn eröffnet, auf welcher sie zu treffen und zu verfolgen man weniger gewohnt war, und sie beunruhigte mehr durch die Neuheit und die Vermessenheit ihrer Attentate: doch ich sage es mit Freude, meine Herren, das Uebel, über das wir zu seufzen haben, ist nicht so groß, als man glauben will: man hat sich nur darin gefallen, zu übertreiben. Tausend lügenhafte Gerüchte sind absichtlich verbreitet worden: die Böswilligkeit schuf sie selbst: kaum von ihr geschaffen, empfing man sie mit Gierde, und jeden Tag brachte die Erzählung von den angeblichen Verbrechen der Nacht den Schrecken in die einfältigen Gemüther, die Bestürzung in die leichtgläubigen Geister . . . «

 

Das Auditorium schaute sich an, da es nicht wußte, worauf der Staatsanwalt abzielte . . . Nur die Stammgäste der Assisenhöfe, diejenigen, welche hier holen, was ihnen im Winter fehlt, nämlich eine warme Atmosphäre und ein Schauspiel, welches wegen der Gewohnheit für sie neu und erregend zu sein aufhört, das aber gerade der Gewohnheit wegen für dieselben nothwendig ist; diese Stammgäste allein, gewohnt an die Phraseologien der Herren Berard und Marchangy, bekümmerten sich wenig darum, welchen Weg der Staatsanwalt einschlug, da sie wußten, daß man, wie man im Volksstyle sagt: »Jeder Weg führt nach Rom,« unter gewissen Regierungen und in gewissen Epochen im Style des Justizpalastes sagen kann: »Jeder Weg führt zur Todesstrafe!«

Hatte man nicht diesen Weg Didien in Grenoble; Pleignies, Cotteron und Carbonea in Paris, Bérton in Saumur, Raoulx, Bories, Goubin und Pommier in la Rochelle geführt?«

Der Staatsanwalt fuhr mit einer majestätischen Miene und einer erhabenen Protection fort:

»Beruhigen Sie sich, meine Herren, die gerichtliche Polizei hat die hundert Augen des Argus; sie wachte, sie holte die modernen Cacus aus ihren verborgensten Zufluchtsorten, aus ihren tiefsten Höhlen; denn nichts ist für sie undurchdringlich, und die Behörden antworteten auf das lügnerische Geschrei, das im Umlaufe war, dadurch, daß sie ihre Pflicht strenger als je übten.

»Ja, – wir sind weit davon entfernt, es zu leugnen, große Verbrechen sind begangen worden, und, das unbeugsame Organ des Gesetzes, haben wir gegen diese verschiedenen Verbrechen die verschiedenen Strafen gefordert, die sie verdient hatten; denn Niemand, meine Herren, seien sie hiervon überzeugt, entgeht dem rächenden Schwerte des Gesetzes. Es beruhige sich also fortan die Gesellschaft: die verwegensten Ruhestörer sind schon in den Händen der Justiz, und diejenigen, welche sie noch nicht festhält, werden bald vor ihr die Strafe ihrer Attentate finden.

»So versuchen es diejenigen, welche, in der Gegend des Saint-Martin-Canals verborgen, seine öden User zum Schauplatze ihrer nächtlichen Angriffe gemacht hatten, zu dieser Stunde in die Kerker geworfen, vergebens die Beweise zu entkräften, die die Untersuchung gegen sie gesammelt hat.

»Der Sieux Ferrantes, ein Spanier: der Sieux Aristolos, ein Grieche: der Sieux Walter, ein Baier: der Sieux Coquerillat, ein Auvergnat, sind vorgestern in der Dunkelheit der Nacht verhaftet worden. Es offenbarte indessen keine Spur ihre Gegenwart: doch kein Obdach konnte sie vor den wachsamen Augen der Justiz schützen, und die Macht der Wahrheit hat diesen erschrockenen Gewissen schon Geständnisse entrissen . . . «

Die Zuhörer schauten sich fortwährend an und fragten sich leise, was der Sieux Ferrantes, der Sieux Aristolos, der Sieux Walter und der Sieux Coquerillat mit Herrn Sarranti gemein haben.

Die Stammgäste aber schüttelten fortwährend den Kopf mit einer Miene des Vertrauens, welche bedeutete: »Ihr werdet sehen! Ihr werdet sehen!«

Der Staatsanwalt fuhr fort:

»Drei von noch strafbareren Händen ausgegangene Verbrechen haben den Abscheu und die öffentliche Entrüstung erregt. Ein Leichnam wurde bei der Briche gefunden: es war der eines unglücklichen Soldaten, der seinen Abschied erhalten hatte. Zur selben Zeit fiel ein armer Arbeiter unter mörderischen Streichen auf den Feldern von la Villette. Ein Fuhrmann von Poissy endlich wurde ein paar Tage nachher auf der Landstraße von Paris nach Saint-Germain getödtet.

»In kurzer Zeit, meine Herren, hat der Arm der Gerechtigkeit die Urheber dieser letzten Attentate an den äußersten Grenzen Frankreichs erreicht.

»Doch man hat sich nicht auf diese Geschichten beschränkt; man hat hundert andere Verbrechen erzählt; man hat von einem Unglücklichen gesprochen, der in der Rue Charles X. den Streichen der Mörder erlag; ein Kutscher wurde, der Sage nach, in seinem Blute gebadet hinter dem Luxembourg gefunden; ein schändliches Attentat war an einer unglücklichen Frau in der Rue du Cadran verübt worden; ein königlicher Postwagen soll vor zwei Tagen mit bewaffneter Hand von dem nur zu berühmten Gibassier geplündert worden sein, dessen Name, mehr als einmal in diesem Saale ausgesprochen, sicherlich bis zu Ihnen gelangt ist.

»Nun wohl, meine Herren, während man die Bürger so zu beunruhigen sich bestrebte, constatirte die gerichtliche Polizei, daß der in der Rue Charles X. aufgefundene Unglückliche an einer Blutergießung in der Lunge gestorben war; daß der Kutscher, sich gegen seine Pferde erhitzend, an einem Schlagflusse gestorben war; und daß die unglückliche Frau, für die man ein so rührendes Interesse in Anspruch nahm, einfach das Opfer von einher jener stürmischen Scenen war, welche die Schwelgerei hervorruft: und was den nur zu berühmten Gibassier betrifft, meine Herren, so will ich, indem ich Ihnen einen unzweideutigen Beweis gebe, daß er das Verbrechen, dessen man ihn beschuldigt, nicht begangen hatte, Ihnen das Maß des Vertrauens geben, das Sie zu solchen verleumderischen Erfindungen haben können.

»Als ich sagen hörte, Gibassier habe den Postwagen zwischen Angoulême und Poitiers angehalten, ließ ich Herrn Jackal kommen.

»Herr Jackal versicherte mir, Gibassier sei in Toulon, wo er seine Strafzeit unter der Nummer 171 ausstehe, und wo seine Reue ein solches Beispiel gebe, daß man in diesem Augenblicke im Begriffe sei, bei Seiner Majestät König Karl X. um Erlassung der sieben bis acht Jahre Bagno, die er noch durchzumachen habe, nachzusuchen.

»Nach diesem unglaublichen Beispiele, das mich der Mühe, andere zu wählen, überhebt, beurtheilen Sie das Uebrige, meine Herren, und sehen Sie, mit welchen plumpen Lügen man die Neugierde, besser gesagt, die öffentliche Böswilligkeit unterhält.

»Seufzen wir, meine Herren, daß wir diese Gerüchte im Umlaufe sehen, und daß die Uebel, über die man sich beklagt, gewisser Maßen aus diejenigen zurückfallen, welche sie verbreitet haben!

»Der öffentliche Friede ist gestört worden, sagt man: man schließt sich in seinem Hause ein und zittert: die Fremden sind aus einer von Verbrechen heimgesuchten Stadt geflohen: der Handel ist ruiniert, zu Grunde gerichtet, vernichtet!

»Meine Herren, was würden Sie sagen, wenn der böswillige Geist der Menschen, die ihre bonapartetische oder republikanische Gesinnung unter dem Titel von Liberalen verbergen, allein diese Mißgeschicke durch Verleumdungen hervorgerufen hätte?

»Sie wären entrüstet, nicht wahr?

»Doch ein anderes Uebel ist durch die unseligen Manoeuvres eben dieser Menschen erzeugt worden, welche die Gesellschaft bedrohen, während sich sich das Ansehen geben, als nähmen sie dieselbe unter ihren Schutz, jeden Tag unbestrafte Frevelthaten verkündigen und wiederholen, unachtsame Behörden lassen das Verbrechen ruhig die Straflosigkeit genießen.

»So konnte sich ein Sarranti, über dessen Loos Sie zu dieser Stunde zu entscheiden haben, seit sieben Jahren schmeicheln, er werde für immer vor den Verfolgungen der Gerichte geschützt sein.

»Meine Herren, die Gerechtigkeit hinkt, sie kommt mit langsamen Schritten, sagt Horaz. Das mag sein! doch sie kommt unfehlbar.

»So begeht ein Mensch! – ich meine den Verbrecher, den Sie vor den Augen haben, – ein Mensch begeht ein dreifaches Verbrechen, Diebstahl, Entführung, Mord. Nachdem das Attentat begangen ist, verläßt er die Stadt, in der er wohnt, er verläßt das Land, wo er geboren worden, er durchschifft die Meere, er flieht ans Ende der Welt, und verlangt von einem andern Continent, von einem jener im Herzen Indiens verlorenen Reiche, ihn wie einen königlichen Gast aufzunehmen; doch jener andere Continent stößt ihn zurück, jenes Reich stößt ihn zurück, und Indien sagt zu ihm: »»Was willst Du unter meinen unschuldigen Kindern, Du Schuldiger? Entferne Dich von hier! fort! Zurück, Dämon! Retro, Satanas! . . . ««

Bis dahin zurückgehalten, kam plötzlich, zum großen Aergernisse der Herren Geschworenen, einiges Gelächter zum Ausbruch.

Der Staatsanwalt aber, mochte er die Heiterkeit der Menge nicht begreifen, mochte er im Gegentheile, sie begreifend, diese Heiterkeit zurückdrängen oder ihr eine Wendung zu seinen Gunsten geben wollen, – der Staatsanwalt rief:

10Der Staatsanwalt.