Buch lesen: «Die Zwillingsschwestern von Machecoul», Seite 13
VIII.
Wie Marianne Picaut ihren Mann beweinte
Das in diesem Augenblicke ganz unerwartete Erscheinen Josephs machte auf Marianne Picaut einen so erschütternden Eindruck, daß sie halb todt vor Schrecken auf ihren Stuhl sank.
Joseph trat langsam und ohne ein Wort zu sagen auf seine Schwägerin zu, die ihn mit Entsetzen anstarrte, als ob ihr ein Gespenst erschienen wäre.
Er rückte schweigend einen Stuhl an das Camin, setzte sich und wühlte mit seinem Stocke in der glühenden Asche.
Er war sehr blaß.
»Um Gottes willen, Joseph,« fragte Marianne, »was fehlt Euch denn?«
»Wer sind denn die Patauds, welche diesen Abend bei Euch waren, Marianne?« fragte der Chouan, ohne die Frage zu beantworten.
»Niemand ist hier gewesen,« sagte sie. »Joseph, habt Ihr euren Bruder nicht gesehen?«
»Wer hatte ihn denn von hier weggeführt?« fragte der Chouan, der entschlossen schien, nur zu fragen und nicht zu antworten.
»Ich sage Euch ja, es ist Niemand hier gewesen. Er ist erst um vier Uhr fortgegangen, um dem Maire von La Logerie den Buchweizen zu bezahlen, den er vorige Woche für Euch gekauft hat.«
»Der Maire von La Logerie?« erwiderte Joseph Picaut, die Stirn runzelnd. »Ach! Ja, Courtin – auch ein Erzspitzbube! Ich habe doch Pascal längst gewarnt, und erst heute Früh sagte ich zu ihm: Versuche nicht die Langmuth Gottes, den Du verleugnest, sonst wird Dir ein Unglück geschehen!«
»Joseph! Joseph!« erwiderte Marianne, »wie könnt Ihr den Namen Gottes nennen, während Ihr Worte des Hasses im Munde führt! Pascal hat Euch und die Seinigen so lieb, daß er sich das Brot vom Munde abdarben würde, um es euren Kindern zu geben! Die Streitigkeiten, welche unser Land so unglücklich machen, sollten unsern häuslichen Frieden nicht stören. Behaltet doch eure Meinung und laßt ihm die seine. Sein Gewehr hängt ruhig am Camin, er mengt sich in keine Intrigue und läßt Jedermann in Ruhe, gleichviel zu welcher Partei er gehört; Ihr hingegen geht seit sechs Monaten täglich bis an die Zähne bewaffnet aus, und bei jeder Gelegenheit schimpft Ihr auf die Stadtleute, unter denen ich meine Verwandten habe, und sogar uns möget Ihr nicht in Ruhe lassen.«
»Es ist besser, bewaffnet auszugehen und den Patauds muthig die Spitze zu bieten, als zum Verräther zu werden an Landsleuten und Verwandten, als den Blauen als Führer zu dienen, wenn sie umherziehen, um die Schlösser der Gutgesinnten zu plündern!«
»Wer hat den Soldaten als Führer gedient?«
»Pascal.«
«Wann? Wo?«
»Diesen Abend, bei der Furt.«
»Großer Gott! bei der Furt wurde geschossen!« sagte Marianne erschrocken.
Sie sprang mit Entsetzen auf, denn ihr Blick war auf Josephs Hände gefallen.
»Ihr habt Blut an den Händen!« sagte sie, »von wem ist das Blut, Joseph?«
Der Chouan wollte seine Hände verbergen, aber es war zu spät, er mußte antworten, und er waffnete sich mit dem Haß seines Fanatismus.
»Dieses Blut,« antwortete Joseph, dessen blasses Gesicht plötzlich glühend roth wurde, »es ist das Blut eines Verräthers an Gott, König und Vaterland; es ist das Blut eines Menschen, der vergessen hat, daß die Blauen seinen Vater auf das Blutgerüst und seinen Bruder auf die Galeeren geschickt hatten – und der sich trotzdem nicht entblödet hat, den Blauen Dienste zu leisten!«
»Du hast meinen Mann umgebracht! Du hast deinen Bruder gemordet!« sagte Marianne heftig und drohend.
»Ich nicht,« sagte Joseph.
»Du lügst!«
»Ich schwöre, daß ich nicht Schuld an seinem Tode bin.«
»Wenn das ist, so schwöre mir auch, daß Du mir helfen willst, ihn zu rächen.«
»Ich, Joseph Picaut, soll Euch helfen, euren Mann zu rächen? Nein, nein,« antwortete der Chouan. »Ich habe zwar nicht Hand an ihn gelegt, aber ich kann denen, die ihn todtgeschossen haben, nicht zürnen; ich würde es eben so gemacht haben, wenn ich an ihrer Stelle gewesen wäre, obgleich er mein Bruder war.«
»Wiederhole noch einmal, was Du so eben sagtest,« erwiderte Marianne mit Entsetzen, »ich hoffe Dich nicht recht verstanden zu haben.«
Der Chouan wiederholte seine letzten Worte.
»Dann sey verflucht, so wie ich die Mörder verfluche!« zürnte Marianne und hob ihre Hand drohend über das Haupt ihres Schwagers. »Die Rache, welche ich auf Dich herabwünsche, sie wird in Erfüllung gehen. Und wenn Gott sie nicht vollzieht, so werde ich es thun! – Wo ist er?« setzte sie mit einer Ruhe und Seelenstärke hinzu, die den Chouan ganz betroffen machte, »was haben die Mörder mit seiner Leiche gemacht? Sprich, warum schweigst Du? Du wirst mir doch den Todten nicht vorenthalten?«
»Als ich auf das Knallen der Schüsse herbeieilte,« sagte Joseph, »da athmete er noch; ich nahm ihn in meine Arme, um ihn hierher zu tragen; aber unterwegs verschied er.«
»Und da hast Du ihn in einen Graben geworfen, nicht wahr. Kain? O, ich wollte es nicht glauben, als ich es in der Bibel las!«
»Nein,« erwiderte Joseph, »ich habe ihn im Garten niedergelegt.«
»Mein Gott! mein Gott!« jammerte die arme Frau, deren Körper krampfhaft zitterte. »Vielleicht irrst Du Dich, Joseph – vielleicht athmet er noch, vielleicht ist er mit schneller Hilfe und sorgfältiger Pflege noch zu retten! Komm mit mir, Joseph, komm – und wenn er noch lebt, so will ich Dir verzeihen, daß Du der Freund seiner Mörder bist.«
Sie nahm die Lampe und stürzte auf die Thür zu. Aber Joseph Picaut folgte ihr nicht; er lauschte auf ein Geräusch, in weichem er die Hufschläge und die gemessenen Fußtritte einer marschirenden Truppe erkannte. Er wartete, bis das Licht der Lampe, welche seine Schwägerin trug, nicht mehr bis an die Hausthür reichte; dann schlich er aus der Thür, ging rasch um die Gebäude und sprang über die Hecke und lief auf den Wald von Machecoul zu, dessen dunkle Umrisse in einer Entfernung von fünfhundert Schritten sichtbar waren.
Die arme Marianne lief, halb wahnsinnig, im Garten hin und her, ohne ihre Blicke auf den Lichtkreis der Lampe zu beschränken: es schien ihr, daß ihre Augen die Dunkelheit durchdringen konnten.
Plötzlich strauchelte sie an einer Stelle, wo sie schon zwei- oder dreimal vorübergegangen war – ihre vorgehaltenen Hände griffen einen menschlichen Körper, der mit dem Rücken an den Zaun gelehnt war.
Sie schrie laut auf, warf sich auf den Todten, schloß ihn in ihre Arme, hob ihn auf, trug ihn in die Hütte und legte ihn aufs Bett.
Josephs Frau eilte herbei. Als sie den Leichnam ihres Schwagers sah, vergaß sie allen bisherigen Hader, sie fiel auf die Knie und schluchzte laut.
Marianne nahm das Licht, welches ihre Schwägerin mitgebracht hatte – denn ihr Licht hatte sie im Garten zurückgelassen – und beleuchtete das Gesicht ihres Mannes.
Pascal Picaut hatte Mund und Augen offen, als ob er noch lebte. Marianne legte die Hand auf sein Herz – es hatte aufgehört zu schlagen.
Sie weinte nicht; ihre Augen sprühten Feuer.
»Das ist das Wort des Chouans!« sagte sie mit einer Stimme, welche die immerfort weinende und betende Schwägerin mit Schrecken erfüllte. »Das hat Joseph aus seinem Bruder gemacht. Ich schwöre bei dieser Leiche, daß ich nicht ruhen will, bis die Mörder diese That mit ihrem Blute bezahlt haben!«
»Ihr sollt nicht lange warten, arme Frau,« sagte eine Männerstimme.
Die beiden Frauen sahen sich um und bemerkten einen in einen Mantel gehüllten Offizier, der unbemerkt eingetreten war.
Vor der Thür blitzten Bajonnete aus der Dunkelheit hervor. Draußen wieherten die Pferde.
»Wer sind Sie?« fragte Marianne.
»Ein alter Soldat, wie euer Mann; ich habe manches Schlachtfeld gesehen und habe wohl das Recht, Euch den Trost zuzurufen: Die für das Vaterland Gefallenen soll man nicht beklagen, sondern rächen.«
»Ich beklage ihn nicht,« erwiderte die Witwe, sich stolz aufrichtend. »Wie kommen Sie in diese Hütte? Was wollen Sie von uns?«
»Euer Mann sollte uns auf einem wichtigen Marsch, den wir zum Besten dieses unglücklichen Landes unternehmen, als Führer dienen. Wir hoffen ferneres Blutvergießen für eine verlorene Sache zu verhüten. Könnt Ihr uns nicht einen Stellvertreter zuweisen?«
»Werden Sie Chouans auf Ihrem Marsche antreffen?« fragte Marianne.
»Sehr wahrscheinlich,« antwortete der Offizier.
»Nun, dann will ich an seine Stelle treten,« sagte die Witwe, indem sie die Flinte ihres Mannes vom Nagel nahm. »Wohin wollen Sie? Ich will Ihnen den Weg zeigen; Sie zahlen mir den Führerlohn in Patronen.«
»Wir wollen in das Schloß Souday.«
»Gut, ich will Sie führen; ich weiß den Weg.«
Sie darf noch einen Blick auf die Leiche ihres Mannes und verließ das Haus. Der General folgte.
Josephs Frau blieb bei der Leiche und betete.
IX.
Wo die Liebe bei der Politik Dienste nimmt
Der junge Baron Michel war, als wir ihn verließen, im Begriff, einen wichtigen Entschluß zu fassen.
Als er eben mit sich selbst im Klaren zu seyn glaubte, hörte er draußen Fußtritte .
Er warf sich schnell auf sein Bett und schloß die Augen, sperrte aber den Mund auf.
Die Fußtritte gingen, an seiner Thür vorüber und kamen, ohne anzuhalten, gleich darauf zurück.
Es waren nicht die Fußtritte seiner Mutter, und es war auch nicht auf ihn abgesehen.
Der junge Baron schlug die Augen wieder auf und fing wieder an nachzudenken.
Der Entschluß, den er jetzt fassen sollte, war für seine ganze Zukunft entscheidend. Er sollte mit seiner Mutter brechen, deren Wille für ihn Gesetz gewesen war; er sollte alle von ihr entworfenen und für ihn so verlockenden ehrgeizigen Pläne aufgeben; er sollte auf alle Ehren und Würden verzichten, welche das Julikönigthum dem jungen Millionäre in Aussicht stellte, und sich an einem tollkühnen Unternehmen betheiligen, welches Verbannung, Verlust des Vermögen, ja den Tod im Gefolge haben konnte, ohne irgend einen Erfolg zu versprechen.
Alles dies mußte er wagen – oder Mary vergessen.
Michel sann eine kleine Weile – nach, er war nicht unschlüssig.
Eigensinn ist die erste Folge der Schwäche, sie steigert ihn zuweilen sogar bis zum rücksichtslosen Wahnsinn.
Der junge Baron wurde überdies durch zu viele triftige Gründe zu einem raschen Entschlusse getrieben. Die Ehre machte ihm zur Pflicht, den Grafen von Bonneville zu warnen, und er fürchtete nur, daß es schon zu spät sey.
Nach kurzem Besinnen faßte er seinen Entschluß.
Ungeachtet aller Vorsichtsmaßregeln seiner Mutter hatte der junge Baron Michel schon viele Romane gelesen; er wußte, daß man nöthigenfalls aus Betttüchern eine Strickleiter machen konnte, und er dachte anfangs wirklich daran, die Fenster seines Zimmers waren gerade über der Dienstbotenstube, wo man ihn gewiß herabkommen sehen würde, obschon es anfing dunkel zu werden. Ueberdies fürchtete er hinunterzustürzen, denn seine Fenster waren ziemlich hoch über dem Erdboden, und die Leiter konnte reißen.
Vor seinen Fenstern stand eine große Pappel, deren Aeste nur vier bis fünf Fuß von der Mauer entfernt waren. Wie wenig der junge Mann auch im Klettern geübt war, so schien es ihm doch ganz leicht, an der Pappel hinunterzusteigen; aber er mußte die Zweige erreichen, und einen solchen Sprung mochte er doch nicht wagen.
Die Noth machte ihn erfinderisch. Er hatte beim Durchsuchen des Zimmers einen ganzen Angelapparat gefunden, mit welchem er vormals im See Grand-Lieu Karpfen und Gründlinge gefangen hatte, ein harmloses Vergnügen welches selbst die übertriebene Aengstlichkeit der Mutter gestattet hatte.
Er nahm eine Angelruthe und befestigte an der Schnur einen Haken. Die Angelruthe stellte er ans Fenster, nahm ein Bettuch, und beseitigte an demselben einen Leuchter. Er brauchte einen etwas schweren Gegenstand, und der Leuchter fiel ihm gerade in die Hände.
Er warf nun den Leuchter so, daß derselbe hinter einem dicken Aste der Pappel niederfiel. Dann faßte er das herabhängende Ende mit dem an der Ruthe befestigten Angelhaken und zog es an sich. Die beiden Enden band er nun am Fensterkreuz fest, so, daß zwischen dem Fenster und der Pappel eine Art Hängebrücke hergestellt war.
Der junge Baron setzte sich rittlings auf diese Brücke, wie ein Matrose auf eine Raae, und vorsichtig fortrutschend erreichte er bald den Ast, dann den Baum und endlich den Erdboden.
Ohne sich zu kümmern, ob er gesehen würde oder nicht, lief er über den Rasenplatz. Den Weg nach Souday wußte er jetzt so gut wie irgend Jemand.
Als er auf der Höhe Roche-Servière war, hörte er ein Gewehrfeuer, seiner Berechnung nach zwischen Montaigu und dem See Grand-Lieu.
Er ward tief erschüttert. Jeder Schuß fand einen peinlichen Widerhall in seinem Herzen. Diese Schüsse zeigten vielleicht die höchste Gefahr für die ihm theuren Wesen an, und dieser Gedanke war ihm entsetzlich. Mary konnte ihm vielleicht die Schuld an dem Unglück zuschreiben, das er von ihr, und ihrer Schwester von ihrem Vater und ihren Freunden hätte abwenden können.
Er ging noch schneller als bisher, er lief, und bald erreichte er die ersten Bäume des Waldes von Machecoul.
Statt aus der Fahrstraße fortzugehn, schlug er den etwas nähern, ihm schon wohl bekannten Fußpfad ein.
Unter den Bäumen war’s ganz finster, und er stieß von Zeit zu Zeit an einen Stein oder blieb an einem Dornstrauch hängen.
Endlich kam er in das sogenannte »Teufelsthal.«
Als er eben über den in der Tiefe fließenden Bach springen wollte, sprang ein Mann aus einem Busch hervor und faßte ihn so ungestüm, daß er ihn rücklings in den Bach warf.
»Kein Wort, oder Ihr seyd des Todes!« sagte der Unbekannte, und hielt ihm die Mündung eines Pistoles an die Schläfe.
Es verging wohl eine Minute, ohne daß einer von Beiden weiter ein Wort sprach. Der Wegelagerer hatte dem jungen Baron ein Knie auf die Brust gesetzt, und blieb selbst regungslos, als ob er Jemand erwartete.
Endlich als der Jemand nicht erschien, schrie er wie ein Uhu.
Ein ähnlicher Schrei antwortete ihm aus dem Innern des Waldes; dann hörte man rasche Fußtritte, und eine in der Dunkelheit nicht erkennbare Gestalt kam an den Bach.
»Bist Du es, Picaut?« fragte der Mann, der den jungen Baron festhielt.
»Nein,« war die Antwort, »ich bin’s Jean Oullier.«
»Jean Oullier!« erwiderte der Erste mit so freudiger Ueberraschung, daß er sich halb aufrichtete. »Wirklich! seyd Ihr’s? Ihr seyd also den rothen Hosen glücklich entwischt?«
»Ja, Ihr habt sie aufgehalten, Freunde. Doch wir haben keine Minute zu verlieren, wenn wir großes Unglück verhüten wollen.«
»Was ist zu thun? Jetzt, da Du frei und bei uns bist, geht Alles gut.«
»Wie viele Leute hast Du bei Dir?«
»Wir gingen unser Acht von Montaigu fort; die jungen Leute von Vieille-Vigne haben sich zu uns gesellt, wir werden jetzt Fünfzehn bis Achtzehn beisammen seyn.«
»Wie viele Flinten habt Ihr?«
»Jeder hat eine.«
»Gut. Wo hast Du sie aufgestellt?«
»Am Rande des Waldes.«
»Du mußt sie Alle zusammenberufen. Du kennst doch den Kreuzweg?«
»So gut wie meine Tasche.«
»Dort müßt Ihr die Soldaten erwarten. Wenn sie auf zwanzig Schritte nahe gekommen sind, commandirst Du Feuer. Ihr schießet so viele nieder wie möglich —«
»Gut, und dann?«
»Sobald Ihr geschossen habt, trennt Ihr Euch in zwei Banden. Die eine flieht auf dem Fußpfade nach La Cloutière zu, die andere auf dem Wege nach Bourguieux. Natürlich schießt Ihr auf der Flucht; Ihr müßt sie anlocken.«
»Natürlich um sie von ihrem Wege abzubringen.«
»Ganz recht, Guérin, das ist die Hauptsache.«
»Aber was wollt Ihr thun, Jean Oullier?«
»Ich laufe nach Souday – ich muß in zehn Minuten dort seyn.«
»Oho!« sagte der Bauer zweifelnd.«
»Was? traut man mir etwa nicht?« erwiderte Jean Oullier.
»Gott behüte! ich meine, daß wir keinem Andern trauen.«
»Ich sage Dir, daß ich in zehn Minuten zu Souday seyn muß. Und wenn Jean Oullier sagt, es muß seyn, so geschieht es auch. Du mußt die Soldaten eine halbe Stunde aufhalten, mehr verlange ich nicht von Dir.«
»Aber wenn unsere Leute die Soldaten nicht auf offener Straße erwarten wollen?«
»Du mußt es ihnen im Namen des lieben Gottes befehlen.«
»Dir würden sie wohl gehorchen, aber mir – Joseph Picaut ist dabei, und Du weißt wohl, daß er immer seinen Willen haben will.«
»Aber wer soll für mich nach Souday gehen?»
»Ich, wenn Ihr mich schicken wollt,« sagte eine Stimme, die aus der Erde zu kommen schien.
»Wer spricht da?« fragte der Waldhüter.
»Ein Gefangener, den ich so eben angehalten habe,» antwortete der Chouan.
»Wie heißt er?«
»Ich habe ihn nicht um seinen Namen gefragt.«
»Nennt euren Namen,« sagte Jean Oullier.
»Ich bin der Baron de La Logerie,« erwiderte der Gefangene, der sich aufrichtete, nachdem ihm die eiserne Faust des Vendéers einige Freiheit gelassen.
»So! Monsieur Michel hier!« sagte Jean Oullier mit Ingrimm.
»Ja, ich wollte nach Souday, um meinem Freunde Bonneville und Petit-Pierre anzuzeigen, daß ihr Aufenthalt bekannt sey.«
»Woher wissen Sie das?«
»Ich erfuhr es gestern Abends aus einem Gespräch meiner Mutter mit Courtin.«
»Warum haben Sie denn so lange gezögert, Ihren Freund zu warnen?« entgegnete Jean Oullier höhnisch.
»Weil mich die Baronin in mein Zimmer eingesperrt hatte; ich konnte erst diesen Abend mit Lebensgefahr aus dem Fenster steigen.«
Jean Oullier sann einige Augenblicke nach. Seine Erbitterung gegen Alles, was von La Logerie kam, war so groß, daß er von dem jungen Baron nicht den mindesten Dienst annehmen mochte; denn ungeachtet seiner offenen Sprache glaubte der argwöhnische Vendéer hinter dem Anerbieten einen Verrath zu wittern.
Er sah indeß ein, daß Guérin Recht hatte, daß er allein genug Gewalt über die Chouans hatte, sie zu einem offenen Angriff zu bewegen, daß er allein die nöthigen Vorkehrungen zu einem nachdrücklichen Widerstande treffen konnte.
Andererseits bedachte er, daß Michel dem Grafen von Bonneville besser als ein Bauer die drohende Gefahr erklären würde, und fügte sich murrend in das Unvermeidliche.
»Nun, so gehen Sie!« sagte er endlich mit einem derben Fluch, denn sein Groll sträubte sich noch gegen den Gedanken, dem jungen Gutsherrn von La Logerie Dank schuldig zu seyn. »Gehen Sie! Aber haben Sie auch gute Füße«
»O ja; Fräulein Bertha könnte es bezeugen, wenn sie hier wäre.«
»Fräulein Bertha!« sagte Jean Oullier, dessen Gesicht sich verfinsterte.
»Allerdings. Ich holte den Arzt für den Vater Tinguy, und war in fünfzig Minuten wieder zurück.«
Jean Oullier schüttelte zweifelnd den Kopf.
»Gebt nur auf eure Feinde Acht,« setzte Michel hinzu, »und verlaßt Euch auf mich. Ihr wolltet den Weg nach Souday in zehn Minuten machen, ich werde in fünf Minuten dort seyn.«
Der junge Baron schüttelte den Schlamm von seinen Kleidern und wollte fort.
»Sie kennen doch den Weg?« fragte ihn Jean Oullier.
»Ich kenne ihn so gut wie die Wege im Parke zu La Logerie. – Ich wünsche Euch viel Glück Jean Oullier!« rief er dem Vendéer zu und verschwand in der Dunkelheit.
Oullier starrte eine Weile in tiefen Gedanken vor sich hin. Es war ihm höchst unangenehm, daß der junge Baron die Umgebungen des Schlosses Souday so genau kannte.
»Nun, wir wollen’s schon hintertreiben, wenn wir Zeit haben,« murrte er für sich. Dann wendete er sich zu Guérin: »Jetzt rufe deine Leute!«
Der Chouan zog einen Holzschuh aus, hielt ihn an den Mund und blies hinein, so dass er das Geheul eines Wolfes nachahmte.
»Glaubst Du, dass sie es hören?« sagte Jean Oullier.
»Ganz gewiß, ich habe mich vor den Wind gestellt, um sie nöthigenfalls zusammenzurufen.«
»Dann brauchen wir hier nicht zu warten. Wir wollen uns auf den Kreuzweg begeben. Du kannst sie ja unterwegs noch anrufen; dadurch gewinnen wir Zeit.«
»Wie weit bist Du den Soldaten voraus?« fragte Guérin, indem er Jean Oullier durch das Dickicht folgte.
»Eine gute halbe Stunde; sie hatten bei dem Meierhofe La Pichardière angehalten.«
»La Pichardière?« fragte Guérin erstaunt.
»Ja wohl; sie werden Pascal Picaut geweckt und zum Führer genommen haben —«
»Der Pascal Picaut wird Niemand mehr führen; er wird nicht wieder erwachen,« sagte der Chouan ernst.
»So! er war’s also —«
»Ja, er war’s.«
»Und Du hast ihn erschlagen?«
»Er wehrte sich und rief um Hilfe. Die Soldaten auf Schußweite von uns – es mußte seyn —«
»Armer Pascal!« sagte Jean Oullier.
»Ja,« erwiderte Guérin, »er war ein braver Mann, wenn er auch ein Pataud war.«
»Und sein Bruder Joseph?«
»Sein Bruder – sah zu,« sagte der Chouan.
Jean Oullier schüttelte sich, wie ein Wolf, der eine Ladung Rehpfosten in die Rippen bekommt. Der starre unbeugsame Mann war auf alle Folgen eines furchtbaren Kampfes gefaßt, wie in einem Bürgerkriege der Kampf zu seyn pflegt; aber diese Schreckensscene erfüllte ihn doch mit Entsetzen.
Um dem Chouan seine Gemüthsbewegung zu verbergen, ging er rascher durch das Dickicht fort. Guérin, der übrigens von Zeit zu Zeit stillstand, um in seinen Holzschuh zu blasen, vermochte ihm kaum zu folgen.
Plötzlich hörte er seinen Vordermann leise pfeifen.
Sie waren an eine Stelle des Waldes gekommen; welche die »Baugéschlucht« genannt wird.
Sie waren nun nicht weit mehr von dem Kreuzwege.