Buch lesen: «Die Zwillingsschwestern von Machecoul», Seite 12
Die Infanteristen sprangen sogleich von den Pferden.
»Seht Ihr nichts?« fragte der General, dessen scharfes Auge vergebens die Finsterniß zu durchdringen suchte.
Die Soldaten verneinten einstimmig.
»Aber hier auf dieser Stelle hat uns der Führer geantwortet,« sagte der General, wie mit sich selbst redend. »Durchsuchet die Gebüsche, aber ohne Euch von einander zu entfernen – vielleicht findet Ihr seine Leiche.«
Die Soldaten gehorchten; aber nach einer Viertelstunde kamen sie zurück, ohne etwas entdeckt zu haben.
Ein Grenadier trat vor und zeigte eine baumwollene Mütze, die er an einem Dornbusche gefunden hatte.
»Es muß die Mütze unseres Führers seyn,« sagte der General.
»Wie so?« fragte der Capitän.
»Weil die Leute, die ihn angegriffen, Hüte getragen haben,« antwortete der General ohne Zögern.
Der Capitän mochte nicht mehr fragen, obgleich er die Erklärung des General‘s unerklärlich fand.
»Es ist entsetzlich,« fuhr der General fort; »die Leute, die unsern Führer ermordet haben, folgen uns offenbar seitdem wir Montaigu verlassen haben, und zwar in der Absicht, uns den Gefangenen zu entreißen. Der Fang scheint wichtiger zu seyn, als ich anfangs geglaubt. Unsere Verfolger waren auf dem Jahrmarkte und müssen Hüte tragen, wie die Landleute, wenn sie in die Stadt gehen; unser Führer hingegen wird, nachdem ihn der Haferlieferant aus dem Bett geholt, zu der ersten besten Kopfbedeckung gegriffen haben.«
»Und Sie glauben, Herr General, erwiderte der Capitän, »daß sich die Chouans so nahe an unsere Colonne gewagt haben?«
»Sie haben uns seit unserm Ausmarsch aus Montaigu beständig im Auge behalten. Mordieu! man beklagt sich immer über die Unmenschlichkeit, mit welcher dieser Krieg geführt werde, und bei jeder Gelegenheit bemerkt man, daß man nie unmenschlich genug ist. O! wie habe ich mich überlisten lassen.«
»Die Sache wird mir immer räthselhafter,« sagte der Capitän lachend.
»Sie haben doch die Bettlerin gesehen, die uns unweit Montaigu anspracht?«
»Ja, Herr General.«
»Die alte Hexe hat uns diese Bande auf den Leib gehetzt. Ich wollte sie unter Escorte in die Stadt zurückschicken; ich hatte Unrecht, meinen ersten Entschluß nicht auszuführen, ich würde dem armen Teufel das Leben gerettet haben.«
»Glauben Sie denn, daß man uns angreifen wird?«
»Der Angriff würde schon stattgefunden haben, wenn die Bande stark genug wäre; aber es sind höchstens fünf bis sechs Mann.«
»Soll ich die auf dem andern Ufer zurückgebliebenen Leute herüberkommen lassen, Herr General?«
»Warten Sie. Unsere Pferde haben festen Fuß verloren, unsere Infanteristen würden ertrinken: es muß in der Nähe eine seichte Furt seyn.«
»Glauben Sie, Herr General?«
»Ich bin meiner Sache gewiß!«
»Sie kennen also den Fluß.«
»Nicht im mindesten. Man sieht wohl, Herr Capitän, daß Sie den großen Krieg nicht mitgemacht haben. Es ist doch klar, daß die Leute uns hier nicht aufgelauert hatten, als wir an das andere Ufer kamen. Denn wären sie auf dieser Seite gewesen, so hätten sie den sorglos seines Weges kommenden Führer gehört und unsere Ankunft nicht abgewartet, um sich seiner Person zu bemächtigen oder ihn zu erschlagen. Die Bande hat sich also an unseren Seiten fortgeschlichen.«
»Es ist wirklich sehr wahrscheinlich, Herr General.«
»Sie müssen einige Augenblicke früher als wir an den Fluß gekommen seyn. Zwischen unserer Ankunft und dem Angriff auf unsern Führer war aber eine zu kurze Pause, als daß sie einen langen Umweg hätten machen können.«
»Warum sollten sie aber nicht an dieser Stelle den Fluß durchwatet haben?«
»Weil die meisten Bauern nicht schwimmen können, zumal im Innern des Landes. Es muß also ganz in der Nähe eine seichte Stelle seyn. Schicken Sie vier Mann einige hundert Schritte stromaufwärts, und eben so viele stromabwärts – und geschwind! Wir sind durchnäßt und können hier verschimmeln.«
In zehn Minuten kam der Offizier zurück.
»Sie hatten vollkommen Recht, Herr General,« sagte er, »dreihundert Schritte von hier ist eine kleine Insel, die durch zwei Bäume mit beiden Ufern verbunden ist.«
»Bravo!« sagte der General erfreut. »Die zurückgebliebenen Grenadiere können herüberkommen, ohne eine Patrone naß zu machen. – Lieutenant,« rief er dem Offizier auf dem andern Ufer zu, »marschiren Sie an der Boulogne hinauf, bis Sie einen quer über den Fluß gelegten Baum finden, und geben Sie Acht auf den Gefangenen!«
VI.
Apporte, Pataud!
Die beiden kleinen Truppen marschirten einige hundert Schritte auf beiden Ufern stromaufwärts.
An der vom Capitän bezeichneten Stelle befahl der General:
»Halt! – Ein Lieutenant und vierzig Mann vorwärts!«
Die vierzig Mann mit dem Offizier wateten durch den Fluß; das Wasser reichte ihnen bis an die Achseln, aber sie konnten ihre Musketen und Patrontaschen hoch empor halten und vor Nässe bewahren.
Die vierzig Grenadiere kamen glücklich ans Ufer und stellten sich in Reihe und Glied.
Der General gab nun Befehl, den Gefangenen herüberzubringen.
Thomas Tinguy ritt ins Wasser, auf jeder Seite ein Husar.
»Fürwahr, Thomas,« flüsterte ihm Jean Oullier zu, an deiner Stelle würde ich fürchten, der Geist deines Vaters könne Dir erscheinen, weil Du seinen besten Freund zum Tode führst, während Du doch nur einen Riemen losschnallen darfst —«
Der Husar strich mit der Hand auf seine mit Schweiß bedeckte Stirn und bekreuzte sich.
Die drei Reiter waren in der Mitte des Flusses, aber die Strömung hatte sie etwas von einander getrennt.
Ein lautes Plätschern im Wasser bewies, daß Jean Oullier den armen Bretagner nicht vergebens an seinen Vater erinnert hatte.
Der General täuschte sich keinen Augenblick über die Ursache des Geräusches, das er gehört hatte.
»Der Gefangene entwischt!» rief er mit einer Donnerstimme. »Zündet die Fackeln an, und feuert auf ihn, wenn er zum Vorschein kommt! – Und Du,« sagte er zu Thomas Tinguy, der dicht vor ihm ans Ufer kam, ohne den mindesten Fluchtversuch gemacht zu haben, »Du sollst es nicht weiter treiben.«
Er zog ein Pistol aus den Halftern und schoß.
»So sollen alle Verräther sterben!« rief er.
Thomas Tinguy, in die Brust getroffen, sank todt vom Pferde.
Die Soldaten eilten auf beiden Ufern stromabwärts fort. Ein Dutzend brennender Fackeln warf einen röthlichen Schein auf den Wasserspiegel.
Jean Oullier, von Thomas Tinguy seiner Bande entledigt, war vom Pferde gesprungen und im Wasser verschwunden. Er hatte auf den Erfolg seiner Beredsamkeit so fest gezählt, daß er die Dunkelheit benutzt hatte, um den Strick, der seine Hände gefesselt hielt, mit den Zähnen zu zernagen.
Jean Oullier hatte gute Zähne; als er an den Fluß kam, hielt der Strick nur noch an einem Faden. Bei dem Sprunge ins Wasser war es ihm ein Leichtes, sich dieser Fessel vollends zu entledigen.
Um Athem zu schöpfen, mußte Jean Oullier auftauchen; aber sogleich fielen mehre Schüsse auf beiden Ufern und die Kugeln schlugen um den Schwimmer ins Wasser. Aber wunderbarer Weise traf ihn keine.
Es war indeß nicht rathsam, sich noch einmal einer solchen Gefahr auszusetzen. Er tauchte wieder unter und fing an, gegen den Strom zu schwimmen. Er hielt lange den Athem an und beim Auftauchen vermied er so viel als möglich den Lichtkreis, welcher sich von den Fackeln auf beiden Ufern verbreitete.
Es gelang ihm wirklich seine Feinde zu täuschen. Die Soldaten gingen stromabwärts und hielten ihre Gewehre schußfertig, wie Jäger auf der Pirsch.
Nur sechs Grenadiere ohne Fackeln gingen stromaufwärts.
Jean Oullier erreichte nach verzweifelter Anstrengung eine Weide, deren weithervorragende Zweige den Wasserspiegel berührten. Der Schwimmer ergriff einen Weidenzweig, faßte ihn mit den Zähnen und hielt sich so mit zurückgebogenem Kopfe, so daß nur Mund und Nase über dem Wasser waren.
Kaum hatte er Athem geschöpft, so hörte er ein klägliches Geheul von der Stelle her, wo die Colonne Halt gemacht hatte und wo er selbst in den Fluß geritten war.
Er erkannte die Stimme.
»Pataud!« sagte er für sich, »Pataud hier? Ich hatte ihn nach Souday geschickt, es muß ihm ein Unglück begegnet seyn. O mein Gott! jetzt ist es doppelt nothwendig, daß mich meine Verfolger nicht finden!«
Die Soldaten, die den Hund im Hofe des Wirthshauses gesehen hatten, erkannten ihn sogleich.
»Da ist sein Hund!« riefen sie.
»Bravo!« sagte ein Sergent. »Der Hund soll uns zum Auffinden seines Herrn behilflich seyn.«
Der Sergent wollte den Hund fangen; aber das arme Thier entwischte ihm, hielt die Nase eine kleine Weile hoch empor und stürzte sich in den Fluß.
»Hierher, Cameraden, hierher! rief der Sergent den Soldaten zu und streckte den Arm in der von dem Hunde genommenen Richtung aus. »Wir werden den Hund auf der Fähre finden. Tout beau! Pataud!«
Sobald Jean Oullier das Winseln seines Hundes erkannte, kam er mit dem Kopf aus dem Wasser hervor. Pataud schwamm in schräger Richtung auf ihn zu.
Der Flüchtling sah wohl ein, daß er verloren war, wenn er nicht einen entscheidenden Entschluß faßte. Für Jean Oullier aber war die Aufopferung seines treuen Hundes wirklich ein entscheidender Entschluß. Hätte es sich nur um sein Leben gehandelt, so würde er mit seinem Hunde gemeinsame Sache gemacht, oder doch Bedenken getragen haben, Pataud zu opfern, um sich zu retten.
Er zog vorsichtig seine Jacke aus und schleuderte sie mitten in den Fluß.
Pataud war kaum noch sechs Schritte von ihm.
»Such! Apporte!« flüsterte ihm Oullier zu und deutete auf das schwimmende Kleidungsstück.
Der Hund, dessen Kräfte wahrscheinlich abnahmen, wollte nicht gehorchen.
»Apporte, Pataud!« wiederholte Jean Oullier gebieterischer.
Pataud schwamm nun der Jacke nach, die schon zwanzig Schritte fortgetrieben war.
Als Jean Oullier sah, daß ihm seine List gelang, tauchte er wieder unter, als die Soldaten eben an den großen Weidenbaum kamen. Einer von ihnen kletterte behende auf den Baum, hob die Fackel und beleuchtete das ganze Flußbett.
Man sah nun, wie die Jacke von der Strömung fortgetrieben wurde, und wie Pataud kläglich winselnd nachschwamm.
Die Soldaten gingen wieder stromabwärts und entfernten sich daher von Jean Oullier.
»Da ist er!« rief einer von ihnen, der die Jacke bemerkte, »dort schwimmt er – hierher, Cameraden!«
Er feuerte auf die Jacke.
Grenadiere und Husaren eilten auf beiden Ufern herbei, und entfernten sich somit immer weiter von der Stelle, zu welcher sich Jean Oullier geflüchtet hatte. Das schwimmende Kleidungsstück, welchem der ermattete Hund immerfort nacheilte, wurde von vielen Kugeln durchbohrt.
Einige Minuten wurde so lebhaft gefeuert, daß die aus den Gewehrläufen zuckenden Blitze das ganze Flußbett erleuchteten. Die Fackeln waren überflüssig geworden.
Der General bemerkte indes bald, daß sich seine Soldaten geirrt hatten.
»Das Feuer soll eingestellt werden,« sagte er zu dem Capitän, der an seiner Seite ging, »die dummen Jungen haben ihre Beute losgelassen und schießen in’s Blaue.«
In diesem Augenblick blitzte ein Schuß auf einer nahen Felsenspitze; eine Kugel pfiff über den Köpfen der Offiziere und schlug zwei Schritte vor ihnen in einen Baumstamm.
»Aha! die Spießgesellen unseres Ausreißers begnügen sich nicht, für ihn zu beten!« sagte der General mit der größten Ruhe.
Es fielen wirklich noch einige Schüsse, und die Kugeln prallten an dem felsigen Ufer ab.
Ein Soldat stieß einen Schrei aus.
»Hornisten, zum Antreten geblasen!« commandirte der General. »Die Fackeln ausgelöscht!»
Dann sagte er leise zum Capitän, »Lassen Sie die vierzig Mann von drüben herüberkommen; wir werden vielleicht alle unsere Leute brauchen.«
In wenigen Augenblicken waren die Soldaten um ihren Anführer versammelt.
Fünf bis sechs Schüsse krachten noch von einigen Felsenspitzen. Ein Grenadier fiel, das Pferd eines Husaren bäumte sich, von einer Kugel in die Brust getroffen, und stürzte zusammen.
»Vorwärts!« commandirte der General. »Mille tonnerres! Wir wollen doch sehen, ob die Nachtvögel uns erwarten!«
Er begann nun an der Spitze seiner Soldaten die Böschung der Schlucht so rasch zu erklimmen, daß die kleine Truppe trotz der Dunkelheit, welche das Steigen erschwerte, trotz der mitten unter die Soldaten schlagenden Kugeln, welche noch zwei Mann verwundeten, die Höhe in wenigen Augenblicken erreichte.
Die Feinde hörten nun sogleich auf zu feuern, und wenn einige sich noch rührende Ginstersträuche nicht Zeugnis gegeben hätten von dem raschen Rückzuge der Chouans, so hätte man glauben können, diese wären in die Erde versunken.
»Ein trauriger Krieg!« sagte der General, den Kopf schüttelnd. »Unser Unternehmen kann jetzt nicht mehr gelingen. Aber versuchen wollen wir’s wenigstens. Souday liegt ja auf dem Wege nach Machecoul, und dort erst können wir unsere Leute ausruhen lassen.«
»Aber wir brauchen einen Führer,« sagte der Capitän.
»Einen Führer? Sehen Sie jenes Licht dort?«
»Nein, Herr General.«
»Aber ich sehe es. Jenes Licht, welches etwa fünfhundert Schritte entfernt seyn mag, deutet auf eine Hütte und diese auf einen Bauer mit Weib und Kind. Der Bewohner dieser Hütte muß uns den Weg durch den Wald zeigen.
Und mit einem Tone, der dem Bewohner der Hütte nichts Gutes verhieß, befahl der General den Weitermarsch, nachdem er seine Plänklerlinien so weit ausgedehnt hatte, wie es ihm die persönliche Sicherheit seiner Leute gestattete.
Der General hatte mit seiner kleinen Schaar die Höhe noch nicht verlassen, als ein Mann aus dem Wasser hervorkam, eine kleine Weile hinter einem Weidenbaume lauschte und dann in den Büschen fortschlich.
Er hatte offenbar die Absicht, denselben Weg einzuschlagen, den die Soldaten genommen hatten.
Als er ein Büschel Heidekraut faßte, um den Felsen zu erklimmen, hörte er ein leises Aechzen. Jean Oullier – denn er war es – ging auf die Stelle zu, wo er die Klagetöne gehört hatte. Je näher er kam, desto kläglicher wurde das Winseln.
Er bückte sich, streckte die Hand aus und fühlte eine weiche warme Zunge, die ihm die Hand beleckte.
»Pataud, mein armer Pataud!« flüsterte der Vendéer. Es war wirklich der Hund, der mit der letzten Anstrengung seiner Kräfte die Jacke seines Herrn an’s Ufer schleppte und sich darauf gelegt hatte, um zu sterben.
Jean Oullier zog seine Jacke unter dem Hunde hervor und rief Pataud.
Pataud winselte gar kläglich, aber ging nicht von der Stelle.
Jean Oullier nahm den Hund auf den Arm, um ihn fortzutragen, aber der Hund machte keine Bewegung mehr. Die Hand, mit welcher der Vendéer das arme Thier hielt, wurde mit einer lauen, klebrigen Flüssigkeit benetzt. Der Vendèer hielt die Hand an die Lippen und erkannte den faden Geschmack des Blutes.
Er versuchte vergebens dem Hunde die Zähne auseinander zu brechen. Pataud war todt; sein Herr, den er gerettet, war eben noch zeitig genug gekommen, um seine letzten Liebkosungen zu empfangen.
Der Vendéer vermuthete, daß der Hund schon vor dem Sprunge ins Wasser verwundet gewesen sey; denn Pataud war schon zuvor matt und kraftlos gewesen.
»Morgen wirds Tag,« sagte Jean Oullier, »und wehe dem, der meinen armen Hund getödtet hat!«
Er legte seinen todten Liebling sorgfältig in einen Busch und eilte den Hügel hinan.
VII.
Wem die Hütte gehörte
Die Hütte, auf welche der General den Capitän aufmerksam gemacht hatte, war von zwei Haushaltungen bewohnt. Die beiden Familienväter waren die Brüder Joseph und Pascal Picaut.
Der Vater dieser beiden Brüder hatte 1792 an dem ersten Aufstande in der Landschaft Retz theilgenommen. Er hatte sich zu dem blutdürstigen Souchu gesellt, wie der Pilotenfisch dem Hai, der Schakal dem Löwen folgt, und war bei den furchtbaren Metzeleien am linken Ufer der Loire thätig gewesen. Mit Charette schmollte er, weil dieser neue Anführer nur auf dem Schlachtfelde Blut vergießen wollte; er verließ seine Division und trat in die von dem schonungslosen Jolly, dem alten Chirurgen aus Machecoul befehligte Abtheilung des Insurgentenheeres.
Aber Jolly, der das Bedürfnis der Eintracht erkannte, und das militärische Talent des Befehlshabers der unteren Vendée ahnte, stellte sich unter den Befehl Charette‘s, und Picaut sagte sich wieder von seinen Cameraden los, um unter Stofflet zu kämpfen.
Am 25. Februar 1796 wurde Stofflet mit zwei Adjutanten und zwei Soldaten, die er bei sich hatte, auf dem Meierhofe Poitevinière gefangen genommen.
Der Vendéerhäuptling und die beiden Offiziere wurden erschossen, die beiden Bauern in ihre Dörfer zurückgeschickt.
Picaut, der eine dieser beiden Bauern, hatte sein Haus seit zwei Jahren nicht gesehen.
Er fand zwei große kräftige Jünglinge, die ihn jubelnd empfingen.
Es waren seine beiden Söhne.
Der ältere war siebzehn, der jüngere sechzehn Jahre alt.
Picaut betrachtete mit Wohlgefallen ihren athletischen Körperbau. Er hatte zwei Knaben zurückgelassen und fand zwei tüchtige Krieger wieder.
Aber sie waren, wie er selbst, ganz ohne Waffen. Die Republik hatte ihm seine Büchse und seinen Säbel genommen.
Picaut aber erwartete nicht nur, daß ihm die Republik seine Waffen zurückgeben, sondern auch so großmüthig seyn werde, seine beiden Söhne zu bewaffnen, um sie für das ihm zugefügte Unrecht zu entschädigen Er hatte freilich nicht die Absicht, sich deshalb an die Republik zu wenden.
Am andern Abend gebot er seinen beiden Söhnen, ihre Stöcke zu nehmen, und begab sich mit ihnen auf den Weg nach Torfou, wo eine halbe Infanteriebrigade lag.
Als Picaut, der die gebahnten Wege mied, in der Dunkelheit eine Gruppe von Lichtern erblickte und darin das Ziel seiner Wanderung erkannte, befahl er seinen beiden Söhnen ihm zu folgen, aber alle seine Bewegungen nachzuahmen und still zu stehen, sobald sie das bekannte laute Zwitschern eine plötzlich aufgejagten Amsel hören würden.
Aber statt, wie bisher, querfeldein zu gehen, fing er an, im Schatten der Hecken fort zu kriechen, und von Zeit zu Zeit mit der größten Aufmerksamkeit zu lauschen.
Endlich hört er langsame, gemessene Fußtritte.
Es war ein einziger Mann.
Picaut warf sich platt nieder und kroch in der Richtung fort, wo er das Geräusch gehört hatte.
Seine Söhne folgten seinem Beispiele.
Am Ende des Feldes schaute Picaut durch eine Oeffnung in der Hecke, steckte den Kopf durch dieselbe und schlüpfte wie eine Schlange durch die dornigen Zweige.
Auf der andern Seite der Hecke ahmte er das Pfeifen einer aufgescheuchten Amsel nach.
Auf dieses verabredete Zeichen lagen sie still und richteten sich vorsichtig auf, um über die Hecke zu schauen und ihren Vater zu beobachten.
Picaut befand sich auf einer Wiese, deren langes Gras im Winde wogte.
Am Ende der Wiese, in einer Entfernung von etwa fünfzig Schritten bemerkte man die Fahrstraße, auf welcher eine Schildwache auf und ab ging. Hundert Schritte weiter entfernt war ein Haus, vor welchem eine zweite Schildwache stand Die beiden jungen Leute übersahen die ganze Scene mit einem Blicke, dann richteten sie ihre Blicke wieder auf ihren Vater, der in dem hohen Grase fortkroch.
Als Picaut der Straße bis auf einige Schritte nahe gekommen war, hielt er hinter einem kleinen Busche an.
Der Soldat ging auf und ab, und so oft als er der Stadt den Rücken zukehrte, streifte er mit seinen Kleidern oder Waffen an dem Gebüsche. Und jedes mal zitterten die beiden jungen Leute für ihren Vater.
Plötzlich hörten sie einen leisen Schrei, und ihre an die Dunkelheit gewohnten Augen bemerkten eine schwärzliche Masse, welche sich auf einer Stelle zappelnd bewegte.
Diese Masse bestand auf Picaut und der Schildwache. Der Vendéer hatte dem Soldaten ein Messer in die Brust gestoßen und erwürgte ihn.
Gleich daran kam Picaut zu seinen Söhnen zurück, und wie die vom Raube zurückkehrende Wölfin die Beute unter ihre Jungen vertheilt, gab Picaut seinen Söhnen die Muskete, den Säbel und die Patrontasche des Soldaten.
Mit dieser ersten Ausrüstung konnte man sich die zweite, die dritte noch leichter verschaffen.
Aber es war für Picaut nicht genügend, Waffen zu haben, er suchte auch Gelegenheit, sich derselben zu bedienen. Er sah sich in einem ziemlich weiten Kreise um, und in den Herren von Autichamp, Scepeaux, Puisaye und Bourmont, die noch unter den Waffen waren, fand er nur laue Royalisten, die nicht nach seinem Willen Krieg führten, und von denen keiner seinem Ideal eines Heerführers nahe kam.
Picaut wollte daher lieber Andere unter seinem Befehle haben, als unter schlechten Befehlshabern stehen.
Er warb einige Mißvergnügte und wurde der Führer einer zwar nicht zahlreichen, aber gegen die Republik höchst erbitterten Bande.
Seine Taktik war sehr einfach. Er hatte sein Quartier gemeiniglich im Walde. Am Tage ließ er seine Leute ausruhen; aber nach Einbruch der Nacht verließ er den Wald und lauerte mit seiner kleinen Schaar hinter Hecken und Gebüschen. Wenn ein Lebensmitteltransport oder ein Postwagen erschien, so griff er ihn an und führte ihn weg. Wenn die Transporte selten oder die Postwagen zu gut escortirt waren, so entschädigte sich Picaut an den Vorposten, die er niederschoß, oder an den Meierhöfen der Patrioten, die er in Brand steckte.
Nach den ersten kühnen Streifzügen hatten ihm seine Genossen den Beinamen Sansquartier gegeben, und Picaut, der diesen Titel gewissenhaft verdienen wollte, ermangelte seitdem nie, alle ihm in die Hände fallenden Republicaner, Männer oder Weiber, Civilisten oder Soldaten, Greise oder Kinder, hängen oder erschießen zu lassen.
Er setzte seine Operationen bis 1800 fort. Aber da zu jener Zeit die europäischen Mächte dem ersten Consul einige Ruhe gönnten, oder dieser den europäischen Mächten einige Ruhe gönnten, so faßte Bonaparte, der wahrscheinlich von den Thaten Picaut’s gehört hatte, den Entschluß, dem berüchtigten Bandenführer seine Muße zu widmen: er entsendete gegen Sansquartier kein Armeecorps, sondern zwei vom Polizeiministerium angeworbene Chouans und zwei Brigaden Gendarmerie.
Picaut Sansquartier, der keinen Argwohn hatte, nahm die beiden falsches Brüder in seine Bande auf.
Einige Tage nachher ging er in eine Falle. Er wurde nebst dem größten Theile seiner Bande gefangen genommen.
Picaut bezahlte den blutigen Ruhm, den er sich erworben, mit seinem Kopfe. Da er im Grunde mehr Wegelagerer als Soldat war, so wurde er nicht zum Erschießen, sondern zur Guillotine verurtheilt.
Er bestieg übrigens das Blutgerüst mit vielem Muthe: er verlangte von Anderen so wenig Pardon, wie er selbst gegeben hatte.
Joseph, sein älterer Sohn, wurde sammt den übrigen Gefangenen ins Bagno geschickt. Pascal der jüngere, war entwischt und trieb mit dem Ueberrest der Bande sein abenteuerliches wildes Leben noch eine kurze Zeit. Bald aber wurde er desselben überdrüssig; er näherte sich allmälig wieder den Städten, und eines schönen Tages erschien er in Beaupréau, übergab dem ersten Soldaten, der ihm begegnete, seine Waffen und ließ sich zu dem Stadtcommandanten führen.
Dieser interessirte sich für den armen Teufel, der ihm ganz aufrichtig seine Geschichte erzählte und bot ihm den Eintritt in sein Dragonerregiment an. Im Weigerungsfalle war er genöthigt, ihn an die Gerichtsbehörde auszuliefern. Pascal Picaut, der das Schicksal seines Vaters und Bruders erfahren hatte, konnte nicht lange unschlüssig bleiben. Er wurde Dragoner.
Vierzehn Jahre später nahmen die beiden Söhne Sansquartier’s von ihrem kleinen väterlichen Erbgut Besitz. Die Rückkehr der Bourbons hatte dem älteren Bruder die Pforten des Bagno geöffnet, dem jüngeren den Abschied verschafft. Joseph zumal kehrte aus dem Bagno exaltirter heim, als sein Vater jemals gewesen war; er brannte vor Begierde, sowohl den Tod seines Vaters als die von ihm selbst erduldeten Qualen an den Patrioten zu rächen. Pascal hingegen hatte in seinen neuen Verhältnissen ganz andere Ideen bekommen, er hatte Jahre lang mit Menschen gelebt, für welche der Haß gegen die Bourbons eine Pflicht, der Sturz Napoleons ein Schmerz, der Einzug der Verbündeten eine Schmach war, und das Kreuz, welches er auf der Brust trug, konnte ihn in seinen patriotischen Gefühlen nur bestärken.
Aber ungeachtet des schroffen Gegensatzes in ihren Meinungen, ungeachtet der häufigen Streitigkeiten hatten sich die beiden Brüder nicht getrennt; sie bewohnten gemeinschaftlich das von ihrem Vater hinterlassene Haus und jeder von ihnen bebaute zur Hälfte die umliegenden Garten und Felder.
Beide waren verheirathet, Joseph mit der Tochter eines armen Bauers; Pascal, der durch sein Ehrenzeichen und seine Pension bei den Nachbarn in einem gewissen Ansehen stand, war der Schwiegersohn eines Bürgers zu Saint-Philibert, der, wie er selbst, ein Patriot war.
Das Zusammenleben der beiden Weiber, welche sehr eifrig für ihre Männer Partei nahmen, vermehrte die Elemente der Zwietracht. Bis 1830 blieben die beiden Brüder indeß beisammen.
Die Julirevolution, welche Pascal mit Freude begrüßte, weckte wieder den Fanatismus Josephs. Dazu kam, daß der Schwiegervater seines Bruders Maire von St. Philibert wurde; der Vendéer und sein Weib überhäuften die »Patauds« – so nannte man spottweise die Patrioten – mit den gröbsten Schmähungen, so daß endlich Pascal’s Frau erklärte, sie wolle unter solchen Wahnsinnigen nicht langer leben, da sie sich nicht mehr sicher fühle.
Der alte Soldat war kinderlos und er hatte die Kinder seines Bruders sehr lieb gewonnen. Ein blonder rothtwangiger Knabe zumal war ihm unentbehrlich geworden. Seine einzige Erholung war, den Kleinen stundenlang auf den Knien zu wiegen. Es wurde Pascal bange ums Herz bei dem Gedanken an die Trennung von seinem Adoptivsohne. Er hatte nie aufgehört, seinen älteren Bruder zu lieben, wie sehr er sich auch über ihn zu beklagen hatte; er sah, wie Joseph durch seine zahlreiche Familie verarmte, und da er fürchtete, Joseph werde, sich selbst überlassen, ganz zu Grunde gehen, so weigerte er sich entschieden, den Wunsch seiner Frau zu erfüllen. Man hörte indes auf, gemeinschaftlich zu essen, und da das Haus aus drei Stuben bestand, so überließ Pascal seinem Bruder zwei und begnügte sich mit der dritten, nachdem er die Verbindungsthür hatte zumauern lassen.
Am Abend nach der Verhaftung Oullier‘s war Pascal’s Frau sehr unruhig. Ihr Mann hatte um vier Uhr Nachmittags, nämlich zu der Zeit, wo die Colonne des Generals aus Montaigu abmarschirte, das Haus verlassen. Pascal wollte, wie er sagte, nach La Logerie gehen und mit Courtin eine Rechnung ausgleichen. Es war beinahe acht Uhr, und er war noch nicht zu Hause.
Pascal‘s Frau wartete daher in angstvoller Spannung. Von Zeit zu Zeit verließ sie ihr Spinnrad, um an der Thür zu lauschen.
Ihre Angst wurde noch größer, als sie etwa dreihundert Schritte vom Hause, am Ufer der Boulogne, schießen hörte.
Als keine Schüsse mehr fielen, hörte sie nur noch das Brausen des Windes in den Bäumen und das ferne Heulen eines Hundes.
Der kleine Pierre, der Liebling Pascal’s, kam ebenfalls an die Thür und fragte nach seinem Onkel; aber kaum hatte er sein blondes Köpfchen zur Thür heraus gesteckt, so rief ihn die keifende Stimme seiner Mutter zurück.
Seit einigen Tagen war Joseph anmaßender, unbändiger geworden, und in der Frühe, ehe er nach Montaigu auf den Jahrmarkt ging, hatte er mit seinem Bruder einen Wortwechsel gehabt, der ohne die Gelassenheit des alten Soldaten gewiß in einen heftigen Streit ausgeartet wäre. Pascal‘s Frau getraute sich daher nicht, der Schwägerin ihre Besorgnisse mitzutheilen.
Plötzlich hörte sie Stimmen, die in dem Obstgarten vor dem Hause flüsterten. Sie sprang so heftig auf, daß sie ihr Spinnrad umwarf.
In demselben Augenblicke that sich die Thür auf und Joseph Picaut erschien.