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Buch lesen: «Der Pastor von Ashbourn», Seite 35

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Ach! das war mir etwas Leichtes, ebenso leicht, als damals, wo sie noch ein Kind war und ich sie zwischen meinen beiden Händen aufhob, damit sie weiterhin oder über den Kopf der Anderen sehen könnte.

Hierauf gingen wir neben einander, ihre Hand in der meinigen, ihre Augen auf die meinigen geheftet, während der Knabe den Esel am Zügel führte.

Ihre Hand war glühend und voller plötzlicher Schauder, ihre großen blauen Augen schienen bei jedem Blicke die Funken des inneren Feuers auszusprühen, von dem sie verzehrt wurde.

Ich fühlte dunkel, daß sich irgend etwas an dieser unsichtbaren Gluth verzehrte, und daß dieses Etwas das Leben eines Kindes sei.

Aber wie viele Jahre, wie viele Monate, wie viele Tage sollte diese Nahrung die Flamme unterhalten?

Ich senkte dm Kopf und fühlte meine Thränen hervortreten; ich machte eine Anstrengung, und sie fielen wieder nach Innen zurück.

Betsy war im Gegentheile voll Lächeln, glücklich, fast in Entzücken. Bei jedem Luftzuge, der vorüber kam, öffnete sie die Lippen und sog den Wind ein; nach jeder Blume, die sie erblickte, streckte sie die Arme aus; jedem Vogel, der auf der Eiche oder in der Dornenhecke sein Lied sang, sandte sie einen Gruß zu.

Ach! die Reise war auf diese Weise bald zurückgelegt, obgleich wir kein Wort wechselten. Wir kamen an den ersten Häusern von Milfort an.

Es war Zeit, uns zu trennen.

Die Kraft fehlte mir. . . Aber sie tröstete mich mit ihrer sanften Stimme, mit ihren kindlichen Liebkosungen, indem sie mit ihren Lippen meine Haare küßte, mit ihren Händen über mein Gesicht fuhr; wie der Wind, den sie einsog, wie die Blume, der sie ihre Arme öffnete, wie der Vogel, den sie grüßte, schien sie zugleich ein Luftzug, ein Wohlgeruch und ein Gesang!

Sie war in der That ganz etwas Vorüberziehendes, ganz etwas Fliehendes, davon Eilendes, wieder gen Himmel Aussteigendes. . .

Die Stunde schlug, zu welcher sie bei ihrem Handelsmann ankommen sollte; wir mußten und trennen. Ich nahm Abschied von ihr, wie als ob ich sie nicht wiedersehen sollte, und dennoch verhinderte mich im Nothfalle Nichts, sie am folgenden Tage wiederzusehen.

O! dieses Mal bemühte ich mich nicht, meine Thränen zu verbergen. . . Ich bedeckte sie mit Thränen und mit Küssen; dann schob ich sie von mir, wie um sie von mir zu entfernen.

Sie setzte ihren Weg fort, indem sie sich nach mir umwandte und mir nach der Art der Kinder Küsse zusandte.

Der Weg bildete eine Krümmung und um sie länger zu sehen. wich ich in dem Maße zurück, als sie weiterging; endlich kam ich an den Graben der Straße in dem Augenblicke, wo sie an der Ecke des ersten Hauses verschwand.

Nun schien Alles in meinem Innern zu sterben, Kraft, Vernunft, Verstand; ich fühlte, daß ich, seitdem mein Gatte gestorben. nur noch für dieses Kind lebte; daß, sobald dieses Kind gestorben, es mir sehr leicht sein würde zu sterben

Das war immer ein letzter und höchster Trost.

Vierter Band

I.
Was eine Frau leiden kann. (Manuscript der Selbstmörderin.) Fortsetzung

Dort blieb ich kraftlos und vernichtet während mehrerer Stunden sitzen, denn als ich wieder zu mir kam, sing es an Nacht zu werden. Einige Personen hatten sich mir genähert, mich angeblickt und mit mir gesprochen, aber ich hatte sie nur wie durch eine Wolke gesehen und gehört.

Ich stand ganz wankend auf, drückte meinen Kopf zwischen beide Hände und schlug wieder den Weg nach Waston ein. Nach einer Stunde kam ich dort bei herrlichem Mondschein an; der Pastor stand vor der Thür des Pfarrhauses, seine Frau aber saß auf einer Bank, und hielt auf jedem Knie eines ihrer Kinder.

Diese Kinder, voller Leben, Kraft und Gesundheit, fuhren selbst auf dem Schooße ihrer Mutter fort zu spielen, sich im Scherze zu schlagen und mit einander zu ringen.

Als ich diese Frau mit dem Gatten an ihrer Seite und den Kindern auf ihrem Schooße sah, empfand ich, von meinem Gatten durch den Tod, von meiner Tochter durch das Elend getrennt, ein solches Gefühl von Neid, daß ich selbst darüber erschrak. Ich blieb daher auch stehen, und, um dieses böse Gefühl zu bekämpfen, sagte ich zu ihr, obgleich ich sehr selten mit dem Pastor und seiner Frau sprach, die mich als eine ihnen zur Last liegende Frau ansahen und mich demzufolge mit Mühe zu ertragen schienen:

– Madame, Sie sind eine glückliche Mutter, und haben da zwei recht schöne Kinder! Wollen Sie erlauben, daß ich sie umarme?

Die Frau erbebte bei dieser Bitte, wie vor Schrecken, und der Gatte streckte die Hand aus, wie um mich zurückzustoßen; die beiden Kinder sprangen von dem Schooße ihrer Mutter und entflohen mit dem Ausrufe:

– Wir wollen die graue Dame nicht umarmen.

Ach! so nannte man mich in dem Pfarrhause und sogar in dem Dorfe. – Das schwarze Kleid, mein Trauerkleid, war verschossen und grau geworden, wie ich bereits gesagt habe; man hatte mir von der Farbe desselben einen Namen gegeben.

Dieses einstimmige Zurückstoßen vernichtete mich. Ich hatte meine einzige Liebe von mir entfernt,’ und fühlte mich dagegen von einem dreifachen Hasse umgeben. Mit gesenktem Kopfe kehrte ich in das Pfarrhaus und mit dem Tode im Herzen in mein Zimmer zurück. Ich war ohne Licht und in dem Augenblicke, wo ich eins anzünden wollte, ließ ich wieder davon ab, denn wozu nützte es, hell zu sehen? Ich mochte in der Finsterniß bleiben oder im Hellen sein, ich wußte wohl, daß ich allein war!

Die Einsamkeit fühlt man ja mehr noch mit dem Herzen, als man sie mit den Augen sieht.

Ich brachte eine schreckliche Nacht zu, vielleicht noch schrecklicher als die, welche dem Tode meines Gatten folgte. Als Trost für den Tod meines Gatten hatte ich mein Kind. Als Trost für die Abwesenheit meines Kindes hatte ich Nichts!

Der Tag brach an. Ich fand in dem Zimmer noch Brod und Wasser von dem vorigen Tage und brauchte daher an diesem Tage nicht auszugehen. Was hatte ich Anderes nöthig? Mußten meine Thränen nicht jedem anderen Getränke und jeder anderen Speise dieselbe Bitterkeit verleihen?

Erst am dritten Tage ging ich hinunter, um meine Lebensmittel zu ergänzen. Wenn ich so lebte, wie ich während dieser letzten drei Tage gelebt hatte, so konnte ich sechs Monate mit den beiden Goldstücken auskommen, die mir übrig blieben. Und warum am Ende anders leben?

Ich besaß ein Buch, das alle anderen Bedürfnisse ersetzt: die Bibel. Darin las ich. und wenn meine zu sehr ermüdeten Augen sich von selbst von dem Buche abwandten, so erhob ich sie gen Himmel, ließ meine Hand auf meinen Schooß sinken und dachte an mein Kind.

Am fünften Tage erhielt ich einen Brief von ihm. Arme liebe Freundin! sie hatte eine Gelegenheit abgewartet, indem sie nicht wollte, daß ihr Brief mir den Penny kostete, den die Post nimmt, um die Briefe von Milfort nach Waston zu befördern. Einfältiges Kind! sie wußte also nicht, daß ich, um diesen Brief zwei Tage, zwei Stunden, zwei Minuten früher zu erhalten, die beiden Goldstücke hingegeben hätte, die mit übrig blieben!

Sie sagte mir, daß sie anständig aber kalt von Herrn Wells empfangen worden wäre, – das war der Name ihres Handelsmannes; er hatte ihr in einer vorläufigen Unterhaltung alle Pflichten hergezählt, die sie zu erfüllen haben würde, und sie in eine Art von Glaskäfig geführt, in welchem sie vor einem Pulte mit den Handlungsbüchern und den Brieffächern um sich herum, von sieben Uhr Morgens bis fünf Uhr Abends bleiben müßte. Die Sonntage waren aber ausgenommen, denn an diesen schloß man bei Herrn Wells, einem strengen Reformirten, Alles bis auf die Fenster der Zimmer.

Elisabeth lud mich ein, sie nächsten Sonntag zu besuchen. Zwischen dem Gottesdienste würden wir Zeit haben, eine Stunde mit einander zuzubringen, daher erwartete ich diesen Sonntag mit der größten Ungeduld; aber am Abend vorher erhielt ich von Elisabeth einige Zeilen, die ich hastig erbrach, und es schien mir, als ob ich eine gewisse Verschlechterung der Handschrift bemerkte.

Ich irrte mich ohne Zweifel. Elisabeth sagte mir einfach, daß Herr Wells beschlossen habe, sie mit seinen beiden Töchtern mit auf das Land zu nehmen, und sie nicht gewagt habe, sich gegen diesen außerdem für sie sehr wohlwollenden Beschluß zu sträuben, daß es demzufolge unnöthig sei. in ihrer Abwesenheit nach Milfort zu kommen; und bat mich also, meinen Besuch auf vierzehn Tage zu verschieben. Dem Briefe war eine Guinee beigefügt. Sie hatte Herrn Wells gebeten, wenn es möglich wäre, die Stickereien verkaufen zu lassen, welche sie wegen ihrer von der anhaltenden Arbeit verursachten Krämpfe hatte unterbrechen müssen. Herr Wells hatte diese Stickereien taxiren lassen, seinen Töchtern ein Geschenk damit gemacht und Elisabeth den angenommenen Preis bezahlt. Man hatte die zwei oder drei Ohnmachten meiner armen Elisabeth eine Guinee geschätzt! Meine Bangigkeit und meine Thränen gingen mit in den Kauf.

Ich küßte die Guinee und legte sie seufzend bei Seite, indem ich zu mir sagte,

– Warten wir einen zweiten Sonntag ab.

Aber warum verschob sie denn meinen Besuch auf den zweiten Sonntag und nicht auf den ersten? Mein Gott! was sollte während dieser vierzehn Tage aus mir werden?

Ich wollte hinunter und in dem Garten spazieren gehen; aber ich sah, daß ich den beiden Kindern Zwang und den Eltern Besorgniß verursachte. Was verlangte ich indessen von ihnen? Nichts, oder sehr wenig: eine abendliche Träumerei unter der alten Akazie, wo Niemand träumen wollte oder zu träumen wagte, sobald die Nacht einmal angebrochen war.

Seitdem dieser Garten nicht mehr mir gehörte, schien es mir, als ob diese dunkle unter dem dichten Laube verborgene Bank ein so schöner Ort sei, um von den Abwesenden zu träumen! Ich mußte jedoch darauf Verzicht leisten, denn das Gesetz der Pfarre von Waston bestimmte wohl, daß ich das Recht auf ein Zimmer in dem Pfarrhause hätte, aber es sagte nicht, daß ich das Recht auf den Spaziergang im Garten besäße.

Aber die Zeit verfließt endlich; für den Glücklichen sowohl wie für den Unglücklichen, für die, welche fürchten, wie für die, welche hoffen. So sah ich denn allmählig diesen so sehr erwarteten Sonntag herankommen. Der vorhergehende Freitag und Sonnabend verflossen mir unter großer Bangigkeit, denn ich zitterte jeden Augenblick einen Brief zu erhalten, der meine Abreise abbestellte, doch glücklicherweise kam kein Brief an.

Ich erwachte mit dem Tage. Obgleich meine Tochter mir anempfohlen hatte, wegen der strengen Gewohnheiten in dem Hause des Herrn Wells nicht vor elf Uhr, das heißt nach der Rückkehr aus der Kirche, daselbst zu erscheinen, so war ich doch schon um sechs Uhr bereit mich auf de n Weg zu begeben. Als ich um sieben Uhr meine Ungeduld bereits nicht mehr zu beherrschen vermochte, brach ich auf und kam um acht Uhr an die ersten Häuser von Milfort, gerade an den Ort, wo ich Abschied von Elisabeth genommen hatte, also noch drei Stunden zu früh. Darum setzte ich mich an den Fluß desselben Gebüsches, wo ich saß, als ich einen Monat vorher das arme Kind nach Milfort geführt hatte, und dort wartete ich.

Aber nach Verlauf einer Stunde wurde mir das Warten unerträglich. Ich stand auf, ging in die Stadt, erkundigte mich nach dem Quartier, in welchem Herr Wells wohnte und schlug den Weg nach seinem an der Ecke der Straßen Saint Anna und der Königin Elisabeth gelegenen Hause ein.

Man konnte sich nicht darin irren; über der Thür standen mit großen Buchstaben folgende Worte geschrieben:
Thomas Wells und Compagnie

Thüren und Fenster waren verschlossen; man hätte das Haus für ein unermeßliches Grab halten können.

Um halb zehn Uhr ging der Gottesdienst an, ich stellte mich in eine durch das Nachbarhaus gebildete Ecke, schlug die Kapuze meines Mantels über die Augen, um mir das Gesicht zu verbergen, und wartete nochmals.

Ich wollte wenigstens meine Tochter vorüber kommen sehen, ihr folgen, mich in der Kirche einige Schritte weit von ihr setzen und sie keinen einzigen Augenblick aus dem Gesicht verlieren. – Die Kirche befand sich in der Straße Sanct Anna, kaum fünfzig Schritte weit von dem Hause des Herrn Wells.

Um halb zehn Uhr läuteten die ersten Schläge. Bei dem dritten Schlage öffnete sich das Haus des Herrn Wells, als ob es nur dieses Signal erwartet hätte. Die beiden Töchter erschienen zuerst, dann Elisabeth, dann eine Kammerjungfer, die ,damit beauftragt war, sie in die Kirche zu führen. Elisabeth ging ein wenig hinter den beiden Demoiselles, hinter ihr die Kammerjungfer. Elisabeth mußte dicht an mir vorüber gehen; wenn ich einen Schritt vorwärts that, so konnte ich ihre Kleider berühren, und ich that dies.

Durch den Schleier, der ihr Gesicht bedeckte, das mir noch bleicher als gewöhnlich schien, erblickte sie mich, aber sie erkannte mich nicht. Ohne Zweifel hielt sie mich für eine arme Frau, die leise um Almosen bat, denn sie zog ihren Geldbeutel hervor, nahm daraus die einzige kleine Silbermünze. die sich darin befand, und schenkte sie mir, indem sie sagte:

– Gute Frau, das ist Alles, was ich habe, beten Sie für meine Mutter!

Da sie. um mich anzureden und mir diese Münze zu geben, um einige Schritte zurückgeblieben war, die Demoiselles nachsahen, wo sie geblieben sei und die Kammerjungfer wartete, so nahm sie rasch ihren Platz wieder ein, wenn ich so sagen darf, und begab sich wieder auf den Weg.

Einen Augenblick lang blieb ich auf derselben Stelle und sah ihr nach; dann drückte ich das kleine Geldstück an meine Lippen.

– Armes theures Kind! flüsterte ich; ich habe Deine Guinee bereits bei Seite gelegt, aber dieses kleine Geldstück soll mich niemals verlassen! Wenn ich eines Tages vor Hunger sterbe, so soll man es in meiner, auf der entseelten Brust geschlossenen Hand finden. Aber ich werde niemals vor Hunger sterben, ich bedarf ja so wenig für mein Leben!

Ich wickelte das Geldstück in den Brie, den mir meine Tochter vor ungefähr vierzehn Tagen geschrieben hatte, und steckte Beides in meinen Busen.

Als nun die drei jungen Mädchen und die Kammerjungfer bereits die Stufen der Kirche hinaufgingen, eilte ich gleichfalls, in dieselbe einzutreten, um mich meinem Kinde so nahe als möglich zu setzen. Ich bemerkte einen günstig gelegenen Pfeiler und wenn ich mich an diesen lehnte, berührte ich sie fast.

In meinen Mantel gehüllt, verlor ich sie nicht aus dem Gesicht; sie folgte fromm dem Gottesdienste, nur erschütterte von Zeit zu Zeit ein leiser trockener Husten, der in meiner Brust ein Echo fand, ihren ganzen Körper; zwei oder drei Male sah ich sie nach diesem Husten ihr Taschentuch an ihren Mund legen. Einmal verbarg sie es nicht vorsichtig genug, so daß ich einen Blutflecken sah.

Ich wurde beinahe ohnmächtig.

– O! mein Gott! mein Gott! flüsterte ich, das arme Kind hat so sehr nöthig, daß man für sie betet, und sie verlangt, daß man für mich bete!

Ich empfand nun eine große Versuchung, der zu widerstehen ich Mühe hatte: nämlich mich auf der Stelle zu erkennen zu geben, und sie ohne Verzug mitzunehmen.

Es schien mir, als ob unter meinem Schutze das verschleierte Gespenst, das ich an dem Horizonte sah, nicht wagen würde, sich ihr zu nähern.

Aber das war ein mitten in dem Gottesdienst verursachtes Aergerniß. Welchen Grund konnte ich außerdem für diesen sonderbaren Entschluß angeben? Gab auf der anderen Seite mein mütterliches Herz nicht eitlem Schrecken nach?

Diese beiden neben ihr sitzenden jungen Mädchen schienen nicht besorgt; sie selbst war es eben sowenig. Ich wartete also und das war besser. Nach dem Gottesdienste konnte ich sie bei Herrn Wells sehen, und sie über den Zustand ihrer Gesundheit befragen. O! wie lang mir der Gottesdienst schien! Welche Ruchlosigkeit eine solche Zerstreuung wie die meinige gewesen wäre, wenn sie in den Augen des Herrn nicht eine so heilige Ursache gehabt hätte!

Endlich sprach der Priester die letzten Worte aus; man stand auf und verließ die Kirche; ich blieb als die Letzte darin. Nun allein im Angesicht Gottes, kniete ich nieder, und bat ihn, wenn meine Tochter irgend eine Gefahr liefe. mein nutzloses Leben zu nehmen und ihr das ihrige zu erhalten.

Dieses Gebet verrichtete ich vor einer Statue der Mutter des Erlösers. Selbst Mutter, schien es mir, daß sie den Schmerz einer Mutter begreifen würde. Ich stand wieder auf und küßte ihre Füße, indem ich die Säule, auf welcher sie stand, mit meinen Armen umschlang, und flehte dann mit den Augen um die Gnade, um welche meine Lippen so eben gebeten hatten.

Eine Thräne rollte über die Marmorwange der Statue.

Was wollte diese Thräne sagen? Weinte die Mutter, welche alle Schmerzen gekannt hatte, weil sie die meinigen nicht lindern konnte?

Ich zweifelte an meinen Augen, aber ich stieg auf einen Stuhl, trocknete mit meinem Taschentuche diese Thräne ab. und fühlte dasselbe unter meinen Fingern feucht werden.

Es war nicht das erste Mal, daß ich Wasser in Tropfen von einem feuchten Marmor herabrollen sah; vielleicht war das, was ich für eine Thräne der glückseligen Maria hielt, ebenfalls nichts Anderes, als der durch die Kühle des Steines verdichtete Dunst von allem diesem Athem. Aber das Zusammentreffen war so sonderbar, ich war so sehr davon überrascht, daß ich statt an einen Wassertropfen. an eine Thräne, und statt an eine natürliche Sache an ein Wunder glaubte.

Diese Thräne war die Antwort einer Mutter an eine Mutter.

II.
Was eine Frau leiden kann. (Manuscript der Selbstmörderin.) (Fortsetzung.)

Ich stand ganz wankend und weit kälter als die Statue auf, die über mich geweint hatte, und ging von den traurigsten und schmerzlichsten Ahnungen bewegt nach dem Hause des Herrn Wells.

Ich sagte mir, daß ich mein Kind bleich, ohnmächtig, auf einem Bette oder aus einem Kanape liegend und die ganze Familie um sie versammelt finden würde.

Diese Erscheinung stellte sich mir mit so vieler Wirklichkeit vor, daß es mir schien, als ob ich nur die Hand auszustrecken nöthig hätte, um die erstarrten Glieder meines Kindes zu berühren.

Die Besorgniß riß mich fort, die Furcht stieß mich zurück.

Auf die Frage. Wo ist meine Tochter? glaubte ich die Antwort zu hören: Ach! treten Sie ein, und sehen Sie!

Ich legte die Hand an den Klopfer der Thür und erhob ihn zwei Male, ohne daß ich zu klopfen wagte. Endlich ließ ich ihn zurückfallen, und sagte:

– Herr! Dein Wille geschehe.

Ich hörte ruhige und regelmäßige Schritte sich nähern.

Eine Kammerjungfer machte mit gleichgültigem Gesicht die Thür auf. aber das war nicht genug, um mich zu beruhigen; denn ich kannte die Gefühllosigkeit unserer Neu-Bekehrten. Daher zögerte ich auch, mich nach dem Befinden meines Kindes zu erkundigen. Mein Mund öffnete sich und schloß sich wieder, ohne einen Ton hervorzubringen. Nun fragte mich diese Frau: – Sind Sie nicht die Wittwe des Pastors von Waston, die Mutter der Mademoiselle Elisabeth?

– Ja, flüsterte ich . . . Mein Gott! sie ist also sehr krank?

– Sehr krank? äußerte die Kammerjungfer, indem sie mich erstaunt anblickte; warum denn sehr krank?

– Ich weiß nicht. . . ich frage. . . ich fürchte. . .

– Nicht doch, äußerte die Kammerjungfer, sie befindet sich im Gegentheil auf das Beste, und erwartet Sie. . . kommen Sie.

Und nach diesen Worten ging sie mir voraus.

Ich folgte ihr wankend und an die Wände stoßend, als ob ich betrunken gewesen wäre, indem ich kaum an diese angenehme Nachricht zu glauben vermochte. Ich ging an zwei Thüren vorüber und aus jeder derselben kam ein junges Mädchen heraus und sah mich vorüber gehen, aber ernst, kalt, ohne ein Wort zu sagen. Es lag mir wenig daran! ich war nicht für diese jungen Mädchen gekommen; ich suchte Elisabeth; wenn sie mich anredeten, so hätten sie mich nur aufgehalten: ich dankte Ihnen in meinem Innern für ihr Schweigen und folgte der Kammerjungfer weiter.

Elisabeth erwartete mich in einem kleinen Cabinet in dem Hindergrunde des Corridors; kaum hatte sie, aus Furcht, von den strengen Gebräuchen des Hauses abzuweichen, gewagt , mir bis in die Thür entgegen zu kommen.

Ich hätte den Gang der Kammerjungfer beschleunigen mögen, denn ich fühlte, daß meine Tochter dort war, daß sie mich erwartete, daß ich sie sehen würde; es war einen Monat her, daß ich sie nicht gesehen hatte, aber diese Frau, die wahrscheinlich keine Mutter war. that nicht einen Schritt schneller als vorher. Sie trat zuerst ein.

– Mademoiselle, sagte sie, hier ist die Person, welche Sie erwarten.

Ich war also keine Mutter für diese Frau: ich war die Person, die man erwartete.

Nachdem sie mich auf diese Art gemeldet, setzte sie sich in eine Ecke auf einen hohen Stuhl, wie sich in der Schule eine Lehrerin setzt; dann nahm sie eine Bibel aus ihrer Tasche und begann zu lesen.

Ich stand auf dem Punkte die Arme auszubreiten und auszurufen:

– Meine Tochter! mein Kind! meine Elisabeth! ich bin es. . . Deine Mutter ist es. . . Aber diese Frau mit ihrer Kälte, ihrer barschen Stimme und ihrem Buche machte mich bestürzt. O! Elisabeth war wohl dieselbe: schön, zärtlich liebend! nur sah man ihr an, daß die Strenge dieses Hauses Einfluß auf sie hatte. Ihr Herz bebte, schlug, liebte mich; aber das Aeußere fing an, steif zu werden. Mein Gott! mein Gott! wie lange sollte ihr Herz widerstehen?

Das liebe Kind streckte die Arme nach mir aus, und drückte mich an ihre Brust; sie küßte mich, aber schüchtern und gezwungen. In diesem Hause der Zahlen, der Rechnungen und der Preiscourante war Alles einer gleichen Vorschrift unterworfen, sogar die Liebe einer Tochter zu ihrer Mutter.

Und auch mich steckte diese Steifheit an; ich war mit ausgebreiteten Armen, begierigen Augen, bebenden Lippen gekommen: aber als ich unter meinen Lippen diese Stirn von Elfenbein fühlte, als ich vor meinen Augen diese Statue der Ehrerbietung sah, als ich diesen steifen Körper an mein Herz drückte, sanken meine Arme regungslos zurück, schlossen sich meine Augen, und mein Mund drückte auf die Stirn, welche mir Elisabeth reichte, mehr einen Seufzer, als einen Kuß.

Mein Gott! hatte ich das erwartet? hatte ich das gesucht?

O! so viele Befürchtungen, so viele Bangigkeit, so viele Sehnsucht nach einem Kuß auf diese Stirn, mein Gott! mein Gott!

Und man breitete im Namen der Religion, um Dich mehr zu verherrlichen, Herr, einen solchen eisigen Schleier zwischen dem Herzen der Tochter und dem ihrer Mutier aus!

Elisabeth bot mir einen Sessel an, und indem sie die Hand nach einem Stuhle ausstreckte, fragte sie:

– Erlauben Sie mir, mich in Ihrer Gegenwart zu setzen, meine Mutter?

So sprachen die Demoiselles Wells mit ihrer Mutter.

Ob ich Dir erlaube, Dich zu setzen, armes schwaches Wesen! ob ich der Blume, welche der geringste Lufthauch entblättert, dem Schilfe, das der geringste Wind neigt, erlaube, eine Stütze gegen die Luft und gegen den Wind zu suchen! Theures geliebtes Kind, war Deine Stütze nicht meine Brust? War dieser mütterliche Stuhl, auf den Du Dich setzen solltest, nicht mein Schooß?

– O! ja, ja setze Dich, mein Kind, denn Du bist so schwach, daß es mir scheint, als ob Du umfallen wolltest.

Bei diesem Ausrufe, welcher der Kammerjungfer ohne Zweifel die Vorschriften der Wohlanständigkeit zu überschreiten schien, erhob diese die Augen über ihr Buch. Elisabeth erbebte und erröthete leicht.

– Dutzen Sie mich nicht, meine Mutter, ich bitte Sie, sagte sie leise, das ist gegen die Gebräuche des Hauses.

Die Kammerjungfer machte ein Zeichen mit dem Kopfe, welches sagen wollte: Schön! ganz recht!

Nun erbebte auch ich, nur erbleichte ich, statt zu erröthen.

– O! mein Kind, fragte ich leise, ist es den Sitten des Hauses angemessen, daß ich Deine Hand nehme, während ich mit Dir spreche?

Elisabeth warf einen Blick auf die Kammerjungfer und stellte ihren Stuhl so, daß ihre Hand in den meinigen bleiben konnte, ohne gesehen zu werden.

Als ich diese Hand, die Hand meines Kindes hielt, widerstand ich nicht mehr,, ich drückte sie hastig an meine Lippen.

Diese Bewegung veranlaßte die Kammerjungfer, sich umzuwenden.

– Meine Mutter, sagte Elisabeth, Ihnen steht es nicht zu, meine Hände zu küssen; an mir ist es, die Ihrigen zu küssen und zu verehren.

Und sie küßte meine Hand ehrerbietig, was ihr von Seiten unseres Argus ein neues Zeichen der Billigung eintrug.

Ich fühlte durch diese auferlegte Kälte die Liebe meines Kindes hindurch, aber wie man die Flamme durch eine Alabasterlampe sieht: trüb, geschwächt und zitternd.

Ich hatte ihr so Vieles zu sagen, mein Gott, so viele Fragen an sie zu richten. Mein Herz war so voll, so überströmend! Warum waren meine Lippen so stumm und leer geworden?

O! mein Gott! wer hat denn die Sitte erfunden, die Liebe der Tochter einer Mutter zuzumessen, wie man einem armen Söldlinge das Brod vorschneidet und abwiegt? War diese Liebe nicht das Brod meines Herzens, – das Brod, das zu suchen es so weit her kam und nach welchem es so hungrig war? Warum gab man mir so wenig davon? Warum war man damit so karg gegen mich, nachdem man mich so lange hatte darauf warten lassen? Meine Tochter hatte es gesagt: Es war die Vorschrift in dem Hause des Herrn Wells.

Ja, aber es gab Etwas, woran die geizigen Spender von Liebe nicht dachten: nämlich, daß die Töchter der Madame Wells ihre Mutter täglich sahen; daß sie ihr täglich das Wenige schenkten, was meiner Tochter erlaubt war, mir nach Verlauf eines Monats zu schenken. Kam meinem armen Mutterherzen in einem Hause so genauer Rechnungen nicht ein Rückstand zu? Warum diesen Rückstand nicht am Verfalltage bezahlen?’

Ich befand mich bei Elisabeth und statt Gott zu danken, die Vorsehung zu preisen und mein Glück zu genießen, verlangte ich mehr und machte ich im Stillen Vorwürfe.

Konnte ich indessen nicht in den auf mich gehefteten schönen Augen meiner Tochter Alles lesen, was sie nicht zu sagen wagte? Konnte ich nicht in dem sanften Drucke ihrer Hand ihre Liebe wiederfinden, die sie nicht auszusprechen wagte?

Ja, aber war der Glanz dieser Augen, das Erbeben dieser Hand nicht Fieber, – glühendes Fieber unter diesem eisigen Aussehen?

War das eine Statue von Eis verzehrende Fieber nicht seltsam und entsetzlich? Dann von Zeit zu Zeit dieser trockene, nervöse Husten, den ich nicht allein aus der Straße und in der Kirche gehört hatte, sondern dessen Unglück verheißendes Echo auch auf dem Grunde meines Herzens wiederhallte; dieser Husten, der zurückkehrte, wie um zu sagen, daß das Kind alle Pflege ihrer Mutter nöthig hätte, dieser Husten war weit entsetzlicher in diesem Hause, in welchem eine Mutter nicht wagte, ihr Kind zu lieben, als überall anderswo.

O! wenn diese Kammerjungfer einen Augenblick hätte hinausgehen wollen, wenn ich während dieses Augenblickes fern von allen Augenzeugen, meine Tochter hätte in meine Arme schließen, von ihrem Stuhle auf meinen Schooß nehmen, an mein Herz drücken, auf die Stirn, auf die Wangen, auf die Lippen küssen, mit meinen Liebkosungen überhäufen können! Mein Gott! ich habe sie so lange bei mir gehabt, wo ich die Freiheit hatte, sie wie eine Tochter zu behandeln! mein Gott! wie kalt ich damals gegen sie war! O! mein Kind, Deine Mutter hat Dich sechszehn Jahre Deines Lebens als Fremde behandelt, und jetzt bestraft sie der Herr dafür.

Es schlug zwei Uhr. Die Kammerjungfer stand auf.

– Mein Gott! rief ich aus, was giebt es denn?

Ich war erschreckt, wie ein Verurtheilter bei jedem Geräusche, das im Gefängnisse erschallt, bei jedem Aufgehen einer Thür glaubt, daß man ihm den Tod zu melden kommt.

Elisabeth erbleichte und drückte mir die Hand weit stärker.

– Ich muß Sie verlassen, meine gute Mutter, sagte sie.

– Mich verlassen! und warum? fragte ich mit fast erschreckter Miene.

– Man ißt in dem Hause des Herrn Wells um zwei Uhr zehn Minuten zu Mittag.

– Mein Gott! hast Du denn Hunger? sagte ich in meiner Selbstsucht.

Eine Thräne benetzte die Augen Elisabeth’s.

– Man fragt mich eben so wenig, ob ich Hunger habe, als ob ich liebe, sagte sie leise; man ißt in dem Hause des Herrn Wells um zwei Uhr zehn Minuten zu Mittag, das ist Alles.

– Nehmen Sie sich in Acht, Mademoiselle, sagte die Kammerjungfer, Sie werden auf sich warten lassen.

– O! nein, nein, seien Sie unbesorgt, sagte Elisabeth erbebend, gehen Sie mich zu melden, ich komme.

Die Kammerjungfer zögerte einen Augenblick; da sich aber das Geräusch aufgemachter Thüren hören ließ, ging sie in den Corridor, indem sie sagte:

– Hier ist Mademoiselle Elisabeth, sie kommt.

Einen Augenblick, eine Secunde waren wir allein.

Kaum war die Kammerjungfer, welcher Elisabeth mit den Augen folgte, hinter der Thür verschwunden, als mein armes Kind ihre Arme um meinen Hals schlang, mich an ihre arme Brust drückte, und von dem Grunde des Herzens ausrief:

– O! meine Mutter! meine gute Mutter!

Hierauf flüsterte sie unwillkürlich, – denn diese länger in ihrem Herzen verschlossenen Worte erstickten sie:

– Wie unglücklich ich bin!. . .

– Aber, sagte ich zu ihr, schreibe mir täglich, erzähle mir Alles, mein Kind.

– Man schreibt in dem Hause des Herrn Wells nur einmal wöchentlich, und Madame Wells liest die Briefe.

– Aber, wenn es Madame Wells ist, rief ich aus . . .

– O! sagte Elisabeth, es wäre noch besser, wenn es ihr Gatte wäre. . . aber still! meine Mutter.

Und meine Tochter reichte mir beim Abschied ihre Stirn zum Küssen, wie sie es bei meiner Ankunft gethan hatte.

Ich hoffte, daß sie das Zimmer verlassen und daß man mich allein lassen würde. Mein Gott! es war in diesem Cabinete mit grauen Wänden, mit Vorhängen von weißer Mousseline, mit vier Strohstühlen. nichts zu nehmen. Aber ich konnte in ihm den Stuhl betrachten, auf den sie sich gesetzt hatte, die Stelle der Wand küssen, an welche sie ihren Kopf gelehnt hatte. . . Man gewährte mir diesen Trost nicht.

– Madame, sagte die Kammerjungfer. Sie werden Ursache sein, daß Ihre Mamsell Tochter auf sich warten läßt, und daß man sie schelten wird.

Wie richtig dieses frostige Geschöpf gefunden hatte, was sie mir sagen mußte!

– Dich schelten, meine Elisabeth! mein Kind schelten! einen Engel schelten! O! nein, man wird sie nicht schelten. . . wo muß ich hinaus? wo muß ich hinaus?

Ich hatte gänzlich das Gedächtniß verloren, ich sah nicht mehr.

Die Kammerjungfer, welche nichts von meiner Gemüthsbewegung begriff, hielt mich ohne Zweifel für wahnsinnig. Sie hatte Mitleid und ging mir voraus. Während sie uns einen Augenblick lang den Rücken wandte, hatte ich Zeit, die Hand meiner Tochter zu ergreifen und sie leidenschaftlich zu küssen. Aber die unbarmherzige Kerkermeisterin wandte sich um.