Buch lesen: «Ius Publicum Europaeum»
Handbuch
Ius Publicum Europaeum
Band IV
Verwaltungsrecht in Europa: Wissenschaft
Herausgegeben von
Armin von Bogdandy
Sabino Cassese
Peter M. Huber
Unter Mitwirkung von
Diana Zacharias
Mit Beiträgen von
Armin von Bogdandy • Patrice Chrétien • Gunilla Edelstam
András Jakab • Olivier Jouanjan • Barbara Leitl-Staudinger • Walter Pauly
Thomas Poole • Aldo Sandulli • Juan Alfonso Santamaría Pastor
Pierangelo Schiera • Christoph Schönberger • Gunnar Folke Schuppert
Pierre Tschannen • Andrzej Wasilewski • Diana Zacharias
Impressum
Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek
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ISBN 978-3-8114-8904-2
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Vorwort
Nachdem sich die ersten beiden Bände des Handbuchs Ius Publicum Europaeum den Grundlagen und Grundzügen des Verfassungsrechts im europäischen Rechtsraum widmen, erschließen die folgenden Bände III bis V die Grundlagen und Grundzüge des Verwaltungsrechts. Dem Gegenstand geschuldet kombinieren sie, mehr noch als die beiden ersten Bände, rechtsvergleichende und rechtsordnungsspezifische Elemente. Während Band III die Grundlagen des Verwaltungsrechts ausgehend von den Begriffen Staat und Verwaltung behandelt, befasst sich der hiermit vorgelegte Band IV mit der Disziplin der Verwaltungsrechtswissenschaft.
Der europäische Rechtsraum umfasst die 27 Rechtsordnungen der Mitglieder der Europäischen Union sowie weitere, ihr vertraglich unterschiedlich intensiv verbundene. Man könnte daher meinen, dass ein Handbuch, das sich um die Rechtswissenschaft in diesem Rechtsraum und perspektivisch um eine gemeinsame Rechtswissenschaft bemüht, auch Beiträge zur Verwaltungsrechtswissenschaft in allen betreffenden Staaten enthalten müsste. Der vorliegende Band präsentiert demgegenüber nur eine Auswahl. Dies hat ressourcenbedingte, aber vor allem sachliche Gründe: Eine Beschreibung aller nationalen Wissenschaften scheint für das Anliegen dieses Bandes, der keine europäische Harmonisierung vorbereitet, sondern den wissenschaftlichen Diskurs beleben soll, nicht erforderlich. Das zeigt insbesondere die gemeineuropäische Geschichte der Verwaltungsrechtswissenschaft, die eben nicht von allen Verwaltungsrechtswissenschaften in gleichem Maße geprägt worden ist. Über lange Zeit waren es allein Großbritannien und Frankreich, später dann auch Deutschland, welche die gemeineuropäische Entwicklung angestoßen und vorangetrieben haben. Auch heute sind die Gewichte unterschiedlich verteilt. Man kann dies bedauern, aber kaum bestreiten. Immerhin ist der Aufmerksamkeitsbogen weiter gespannt als früher. Da das Verwaltungsrecht im europäischen Rechtsraum gerade auch durch „Mischungen“ und Rezeptionen geprägt ist, könnte es jedoch kaum überzeugen, sich in diesem Projekt allein auf den deutschen, britischen und französischen Typ zu konzentrieren. Daher enthält der vorliegende Band zehn Landesberichte.
Das Verständnis von wissenschaftlichen Texten einer anderen Rechtsordnung ist nicht leicht, und oft sind verwaltungsrechtswissenschaftliche Werke noch „fremder“ als verfassungsrechtliche Schriften. Denn die Terminologie des Verfassungsrechts (z.B. Demokratie, Gewaltenteilung oder Rechtsstaat) ist tendenziell rechtsordnungsübergreifend (Diana Zacharias, IPE II, § 40 Rn. 9ff.), und die Gedanken sind oft in universelle theoretische Diskurse eingebettet. Hingegen haben sich die nationalen Entwicklungspfade im Verwaltungsrecht stärker in eigensinnigen Figuren niedergeschlagen. Ein sprechendes Detail: Die redaktionelle Bearbeitung der IPE-Bände III, IV und V, die sich mit dem Verwaltungsrecht befassen, hat sich als weit aufwendiger erwiesen als diejenige der dem Verfassungsrecht gewidmeten Bände I und II.
Dieses Projekt nimmt die Unterschiedlichkeit der verschiedenen Verwaltungsrechtswissenschaften ernst. Es geht aber nicht darum, monolithisch gedachte Nationalwissenschaften einander gegenüberzustellen. Dies würde das Wesen von Wissenschaft in freien Gesellschaften verkennen. Im Gegenteil: Der vorliegende Band soll, anders als andere verwaltungsrechtsvergleichende Werke, gerade auch über Grundkontroversen berichten, denn sie bilden einen wichtigen Schlüssel zu vertieftem Verständnis: Bruchstellen sind Fundstellen. Entsprechend bietet Band IV Ausführungen etwa über das Ringen konservativer und progressiver Wissenschaftler im Vereinigten Königreich schon um die Existenz des Faches, zur französischen Debatte service public versus puissance publique als konkurrierende dogmatische Grundbegriffe, über den italienischen Kampf zwischen einer allein dogmatischen und einer multiperspektivischen Verwaltungsrechtswissenschaft. Gerade die einflussreichen Wissenschaftstraditionen sind vielstimmig. Überdies würde eine krude Gegenüberstellung von „Nationalwissenschaften“ den gemeineuropäischen Kontext verkennen, in dem sich die nationalen Entwicklungspfade bewegen. Diese gemeineuropäische Durchlässigkeit soll gerade dieses Handbuch in der Perspektive eines gemeinsamen Rechtsraums herausarbeiten. § 57 legt vor diesem Hintergrund Perspektiven der disziplinären Fortentwicklung dar.
Das Projekt ist der Fritz Thyssen Stiftung zutiefst verpflichtet. Sie hat, wie schon bei den Bänden I bis III, die aufwendige und kostenträchtige Zusammenarbeit nachdrücklich gefördert. Ohne ihre ebenso unbürokratische wie substanzielle Hilfe hätte dieser Band nicht in dieser Form verwirklicht werden können. Unser Dank geht weiter an den C.F. Müller Verlag für die Fortsetzung der Reihe. Dankend zu erwähnen sind des Weiteren Marc Jacob, Matthias Kottmann, Dr. Karin Oellers-Frahm und Dominik Zimmermann für die Anfertigung von Übersetzungen, Mark Ciesielczyck, Ute Emrich, Margit Dagli, Cornelia Glinz, Dr. Felix Hanschmann, Angelika Schmidt, Isa Weyhknecht-Diehl und Christian Wohlfahrt für Literaturrecherche, redaktionelle Bearbeitung bzw. abschließendes Korrekturlesen sowie Hannes Fischer, Dominik Fronert, Lea Katharina Roth-Isigkeit, Frauke Sauerwein und Matthias Schmidt, die das Projekt als fleißige studentische Hilfskräfte unterstützt haben.
Ganz besonders haben die Herausgeber Dr. Diana Zacharias zu danken, in deren Händen die Gesamtredaktion lag. Die Bearbeitung der Beiträge dieses Bandes hat gezeigt, wie weit die untersuchten Verwaltungsrechtstraditionen auseinanderliegen, gerade auch in der Mikrostruktur der juristischen Darstellung. Es ist vor allem ihrer tiefgreifenden begrifflichen Bearbeitung zu verdanken, dass die Texte nunmehr gut an rechtswissenschaftliche Diskurse aus dem deutschen Sprachraum anknüpfen. Hier liegt nicht nur eine große redaktionelle, sondern zudem und vor allem eine herausragende wissenschaftliche Leistung für das entstehende ius publicum europaeum.
Heidelberg, Rom und München, im Februar 2011
Armin von Bogdandy/Sabino Cassese/Peter M. Huber
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Verfasser
Einführung
§ 57Verwaltungsrecht im europäischen Rechtsraum – Perspektiven einer Disziplin
Erster Teil Landesspezifische Ausprägungen
§ 58Wissenschaft vom Verwaltungsrecht: Deutschland
§ 59Wissenschaft vom Verwaltungsrecht: Frankreich
§ 60Wissenschaft vom Verwaltungsrecht: Großbritannien (England und Wales)
§ 62Wissenschaft vom Verwaltungsrecht: Österreich
§ 63Wissenschaft vom Verwaltungsrecht: Polen
§ 64Wissenschaft vom Verwaltungsrecht: Schweden
§ 65Wissenschaft vom Verwaltungsrecht: Schweiz
§ 66Wissenschaft vom Verwaltungsrecht: Spanien
§ 67Wissenschaft vom Verwaltungsrecht: Ungarn
Zweiter Teil Rechtsvergleichender Zugriff
§ 68Die gemeineuropäische Geschichte des Verwaltungsrechts und seiner Wissenschaft
§ 69Die Belle époque des Verwaltungsrechts: Zur Entstehung der modernen Verwaltungsrechtswissenschaft in Europa (1880–1920)
§ 70Die Verwaltungsrechtswissenschaft im Kontext der Wissenschaftsdisziplinen
§ 71Verwaltungsrechtsvergleichung: Eigenheiten, Methoden und Geschichte
§ 72Der Begriff des Verwaltungsrechts in Europa
Personenregister
Sachregister
Verfasser
Armin von Bogdandy, Dr. iur., M.A., Professor, Direktor am Max-Planck- Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg; |
Patrice Chrétien, Dr. iur., Professor, Centre de droit public du laboratoire d’Etudes juridiques et politiques, Université de Cergy-Pontoise; |
Gunilla Edelstam, Dr. iur., Professorin für öffentliches Recht, Södertörns högskola Huddinge; |
András Jakab, Dr. iur., LL.M., Universitätsdozent, Institut für öffentliches Recht, Pázmány Péter Katholische Universität Budapest; |
Olivier Jouanjan, Dr. iur., Professor, Institut de Recherches Carré de Malberg, Université de Strasbourg; Honorarprofessor, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i.Br.; |
Barbara Leitl-Staudinger, Dr. iur., Professor, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Universität Linz; |
Walter Pauly, Dr. iur., Professor, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Rechts- und Verfassungsgeschichte, Rechtsphilosophie, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Friedrich-Schiller-Universität Jena; |
Thomas Poole, Dr. iur., Reader, Law Department, London School of Economics & Political Science; |
Aldo Sandulli, Dr. iur., Professor für Verwaltungsrecht, Facoltà di giurisprudenza, Università degli Studi Suor Orsola Benincasa di Napoli; |
Juan Alfonso Santamaría Pastor, Dr. iur., Professor für Verwaltungsrecht, Universidad Complutense Madrid; |
Pierangelo Schiera, Dr. iur., Professor emeritus für Geschichte des politischen Denkens, Dipartimento di Scienze Umane e Sociali Università degli Studi di Trento; |
Christoph Schönberger, Dr. iur., Professor, Fachbereich Rechtswissenschaft, Universität Konstanz; |
Gunnar Folke Schuppert, Dr. iur., Professor, Wissenschaftszentrum Berlin, Forschungsprofessur für „New Modes of Governance“; |
Pierre Tschannen, Dr. iur., Professor, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Universität Bern; |
Andrzej Wasilewski, Dr. iur. habil., Professor emeritus, Katedra Prawa Ochrony Środowiska, Wydział Prawa i Administracji, Uniwersytet Jagielloński in Krakau; Richter am Obersten Gerichtshof Polens im Ruhestand; |
Diana Zacharias, Dr. iur., LL.M., wiss. Referentin, Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg. |
Einführung
Einführung › § 57 Verwaltungsrecht im europäischen Rechtsraum – Perspektiven einer Disziplin
Armin von Bogdandy
§ 57 Verwaltungsrecht im europäischen Rechtsraum – Perspektiven einer Disziplin
I.Notwendigkeit und Eckpunkte einer disziplinären Neuaufstellung1 – 14
1.Grundbegriffliche Mutationen1 – 5
2.Leitende Thesen6 – 9
3.Verwaltungsrechtsvergleichung10 – 14
II.Drei Momente disziplinärer Identität15 – 64
1.Verwaltungsrecht als Sonderrecht von Hoheitsträgern15 – 40
a)Rückblick15 – 23
b)Unionsverwaltungsrecht als Sonderrecht24 – 40
aa)Sonderrechtscharakter des Integrationsrechts insgesamt?24 – 29
bb)Zum Sonderrechtscharakter des Unionsverwaltungsrechts30 – 35
cc)Herausforderungen dieses Sonderrechtsverständnisses36 – 40
2.Verwaltungsrechtswissenschaft ex parte civium41 – 51
a)Rückblick41 – 49
b)Zur disziplinären Ausrichtung im europäischen Rechtsraum50, 51
3.Dogmatik als Kernaufgabe52 – 64
a)Rückblick52 – 58
b)Aufgaben im europäischen Rechtsraum59 – 64
III.Verwaltungsrechtswissenschaft als Teil des neuen ius publicum europaeum65 – 69
1.Pluralismus65, 66
2.Identitätsprobleme und -arbeit67 – 69
Bibliographie
Anhang: Der Fragebogen
Einführung › § 57 Verwaltungsrecht im europäischen Rechtsraum – Perspektiven einer Disziplin › I. Notwendigkeit und Eckpunkte einer disziplinären Neuaufstellung
I. Notwendigkeit und Eckpunkte einer disziplinären Neuaufstellung[1]
1. Grundbegriffliche Mutationen
1
Die Phase der Europäisierung der nationalen Verwaltungsrechte ist beendet, denn sie hat zu einem europäischen Rechtsraum geführt. Mehr noch als die Europäisierung übt dieser Rechtsraum[2] Transformationsdruck auf die nationalen Wissenschaften des Verwaltungsrechts aus und drängt zu einer disziplinären Neuaufstellung, die rechtsvergleichend im Lichte der großen Traditionen erfolgen sollte.[3] Dieser Druck wurde zunächst bei einzelnen Rechtsinstituten festgestellt.[4] Für das disziplinäre Selbstverständnis erscheint jedoch weit einschneidender, dass die Grundbegrifflichkeit der mitgliedstaatlichen Verwaltungsrechtsordnungen erodiert.[5]
2
Die Beiträge dieses Bandes zeigen, dass sich das Verwaltungsrecht und seine Wissenschaft in den meisten EU-Mitgliedstaaten unter Bezug auf eine überwölbende Staatlichkeit ausbildeten. Der europäische Rechtsraum wird aber von unterschiedlichen Verwaltungen administriert, die nicht zu der einen Verwaltung eines Verbands und schon gar nicht unter der überwölbenden Einheit eines Staates zusammenfinden. Es ist vielmehr eine weit losere und vielgestaltige Formation von Bürokratien unterschiedlicher Träger entstanden,[6] welche deutsche und spanische Autoren oft als Verwaltungsverbund (Verwaltungsunion) bezeichnen;[7] Autoren anderer Traditionen nutzen Begriffe wie administration mixte, coadministration oder integrated administration.[8] Dieser Formation unterliegt das europäische Verwaltungsrecht, das nicht allein aus dem Unionsverwaltungsrecht besteht, sondern zudem das unionsrechtlich überformte mitgliedstaatliche Verwaltungsrecht sowie solche Normen umfasst, welche die Mitgliedstaaten autonom zur administrativen Bewältigung des europäischen Rechtsraums erlassen.[9] Dieses europäische Verwaltungsrecht lockert zugleich, und dies verschärft die Problematik, das Band einer Verwaltungseinheit zu „ihrem“ Staat: Eine deutsche Stelle, die einen Sachverhalt im Verbund mit ausländischen Stellen und bisweilen gar mit extraterritorialen Wirkungen administriert, sieht sich in neue Kollektive eingebunden.[10] Zudem verlangen wichtige unionale Rechtsakte eine Autonomisierung bestimmter Verwaltungseinrichtungen gegenüber anderen staatlichen Stellen; Art. 130 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), der die Unabhängigkeit der nationalen Zentralbanken verlangt, ist nur ein Beispiel.[11] Die überkommene engste Zuordnung der Begriffe Staat und Verwaltung kann keinen Bestand haben.
3
Erst recht setzt der Begriff Unionsverwaltungsrecht, der die unionsrechtliche Schicht und das dynamische Herz des europäischen Verwaltungsrechts bezeichnet, die Loslösung des Begriffs des Verwaltungsrechts von demjenigen des Staates voraus. Die Europäische Union ist ein eigener Verwaltungsträger, bildet aber nach ganz herrschendem Verständnis keinen Staat; dies ist der Grundnenner der politischen und wissenschaftlichen Entwicklung der letzten beiden Jahrzehnte.[12] Wenn gleichwohl heute eine Fülle von Büchern ganz selbstverständlich von einem europäischen Verwaltungsrecht und einem Unionsverwaltungsrecht ausgehen,[13] also einschließlich der Konstellation, in der Organe der Union Rechtsnormen gegenüber privaten Rechtssubjekten anwenden (sog. EU-Eigenverwaltung), so zeigt dies eine Begriffsentwicklung, die den Begriff der Verwaltung und des Verwaltungsrechts vom Staatsbegriff gelöst hat. Dieses Verständnis wird inzwischen durch das positive Recht vielfach bestätigt, etwa Art. 41 der Grundrechte-Charta (GRC).
4
Die Verwendung des Begriffs Verwaltungsrecht mit Blick auf die Europäische Union zeigt weiter, dass das klassische Gewaltenteilungsdenken, ein weiterer Eckpunkt disziplinären Selbstverständnisses, nicht mehr trägt. Letzteres beruht auf einer engen Koppelung von Organ und Funktion und begreift die Verwaltung in Abgrenzung einerseits zur gerichtlichen Streitentscheidung, andererseits zur parlamentarischen Legislative.[14] Nun hat sich im Zuge der europäischen Integration zwar mit dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) eine autonome gerichtliche Institution der Streitentscheidung ausgebildet, nicht aber eine Gesetzgebung, die überzeugend von der Verwaltung abgegrenzt werden könnte.[15] Wenngleich der Vertrag von Lissabon den Begriff des Gesetzgebers (Art. 14 Abs. 1 und 16 Abs. 1 des Vertrags über die Europäische Union [EUV]), des Gesetzgebungsaktes und der gesetzgebenden Verfahren einführt (Art. 289 AEUV), bleiben nicht-parlamentarische und mit Aufgaben der Durchführung betraute Organe, namentlich Rat und Kommission, derart wichtig in den Rechtsetzungsverfahren, dass institutionell die Verwaltung nicht in Abgrenzung zur Legislative bestimmt werden kann. Den Verträgen ist keine prinzipielle Scheidung zwischen Legislative und Exekutive zu entnehmen. Zwar unterscheidet das Primärrecht zwischen der Festlegung (oder auch: Gestaltung, englisch: definition, defining) und der Durchführung (englisch: implementation, implementing) von Politiken (z.B. Art. 26 Abs. 2 EUV und Art. 9ff. AEUV), aber die Verträge haben einige Politiken so weit primärrechtlich vorgezeichnet, dass sie jede weitere Rechtsetzung als Durchführung bezeichnen, selbst wenn sie in Verfahren der Gesetzgebung erfolgt (siehe etwa Art. 212 Abs. 2 AEUV).
5
Es hat also untergründig eine gewaltige Mutation im Begriff Verwaltungsrecht stattgefunden. Was ist heute die Logik seiner Praxis?[16] Die meisten Autoren qualifizieren unionale Normen als Verwaltungsrecht wohl aufgrund eines Analogieschlusses: Wenn ähnliche Normen im mitgliedstaatlichen Rahmen als Verwaltungsrecht gelten, so wird diese Qualifizierung auf entsprechende europäische Normen übertragen. Aufgrund dieses komparatistischen und funktionalistischen Vorgehens haben viele Verwaltungsrechtswissenschaften ihre Staatszentriertheit operativ weitgehend überwunden und einen Weg gewiesen, der es erlaubt, die spezifischen Erfahrungen der jeweiligen Traditionen im Umgang mit Hoheitsgewalt in den europäischen Rechtsraum einzubringen.[17] Angesichts der Unterschiedlichkeiten zwischen den Traditionen wird es Differenzen im Verständnis dessen geben, was zum europäischen Verwaltungsrecht gehört, und ein Ziel dieser Handbuchreihe ist es, solche Differenzen offenzulegen und produktiv werden zu lassen. Es bleibt aber zu klären: Was trägt konzeptionell dieses komparatistische und funktionalistische Vorgehen? In welcher Begrifflichkeit kann das europäische Verwaltungsrecht verankert werden, wenn die traditionellen Fundamente erodieren? Und damit: Was kann, was sollte als Identitätskern der Disziplin gelten?