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Buch lesen: «Die Mühle zu Husterloh», Seite 11

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21. Kapitel

Sebastian Stallmann ist für den Volksmund ein zu umständlicher Name. Deshalb verstümmelte man den Sebastian zu Baschel und, um ihn von anderen zu unterscheiden, die St. Sebastianus über die Taufe gehoben, nannte man den unseren den Mühlbaschel. So lang sich ein Mensch zurückerinnern konnte, war er bei Müller Höhrle in der Mühle. Als ganz kleines Kind hatte er eines Morgens, vom Hauch der Kühe gewärmt, in der Krippe gelegen. Daher der Zuname Stallmann.

Hatte er vordem viel und fleißig zu arbeiten, so saß er in der letzten Zeit, wo das Geschäft schlecht ging, oft ganze halbe Tage müßig und rieb seine im Wasserbau erfrorenen Fußballen aneinander. Auch heute saß er so in seinem mehligen Anzug. Sein Ohr war taub geworden im Geräusch des Werkes, auch sperrte, wie bei seinem Herrn, ein beträchtlicher Mehlhaufen den Eingang zu seiner Paukenhöhle. Wer seine Aufmerksamkeit erregen wollte, musste ihm mit der Faust auf die Schultern schlagen, oder ihn schütteln. Vater Höhrle tat letzteres. Der Mühlbaschel schaute auf und vergrößerte mit beiden Händen seine Ohrmuscheln.

»Der Hans hat um Geld geschrieben. Ausstände, die ich erwarte, sind nicht eingegangen. Nimm vom Haufen droben einige Sack Korn und trage sie zu Mordche Rimbach hinüber, aber erst in der Dämmerung, verstehst du, erst in der Dämmerung.«

»Verstehe,« sagte Baschel, »es braucht nicht jeder zu wissen, dass wir nicht mehr mit Papiergeld heizen,« und er tastete sich in den weichen Mehlstaub seiner Holzschuhe hinein. Als er die Säcke am Haufen füllte, konnte er zum Eulenloch hinaussehen, und was er da von der Gegend sah, kam ihm so eigenartig, so fremd vor, denn noch niemals hatte er von diesem Punkte aus die Welt betrachtet. Der Fruchtstock hatte sonst immer bis zum Gebälk gereicht und das Eulenloch lag dahinter.

»Ja, ja, es ist im Hause manches niedriger geworden und vermutlich nur die Hypothek gewachsen,« so dachte er, füllte seinen Sack, warf ihn über den gekrümmten Rücken und wanderte, als es dunkel war, zu Mordche Rimbach hinüber. Der stand an der Brückenwaage und zählte Säcke mit der Firmenaufschrift: »Groß und Moos.«

»Bringst du Mehl, Baschel?«

»Ne, Korn.«

»Dann stell den Sack hier ab, hier wo das Licht steht, und bind ihn auf.«

Baschel tat, wie ihm befohlen war, und Mordche Rimbach griff in den Sack und ließ das Korn von dem einen Handteller in den anderen gleiten.

»In eurem Kornhaufen sind die Mäuse.«

»Kann sein, aber eine Ratte frisst mehr als hundert Mäuse.«

»Einverstanden, Baschel, auch wenn sie nicht direkt am Haufen sitzt und nicht durch den Katzenlauf in den Speicher kommt. Euer Student braucht wohl viel Geld?«

»Wie’s jetzt steht, ja, doch es verschlägt nichts. Wenn das Faß doch ein Loch hat, mag auch der Krahnen tropfen.«

»Ihr solltet das Mahlen einstellen, Baschel, es kommt nichts mehr dabei heraus. Ihr kauft vom Bauer teueres Korn und verkauft ihm billiges Mehl, weil ihr nicht mehr fordern dürft als die Konkurrenz. Groß und Moos aber kaufen in Argentinien billig ein, die Wasserfracht bis Mannheim kostet nur eine Mark per Sack. Sie verstehen das Mahlgut passend zu mischen. So schlagen sie euch im Preis und in der Qualität. Baschel, wer weiß, von wann ab er auf der faulen Haut liegen bleiben muss, gewinnt zwar nichts dazu, aber er erhält das Vorhandene. Ihr mahlt euch noch um Haus und Hof.«

»Es kann auch wieder anders kommen, Mordche.«

»O ja, aber nicht so, wie Vater Höhrle und du denkst. Ich will dir eine Geschichte erzählen, die vielleicht nicht ganz wahr, aber lehrreich ist für den, der sie erfasst.

Im Steinachtal drüben lebten die Gebrüder Spilger. Sie hatten einen schönen Hof und sie waren nüchtern und fleißig. Es fehlte ihnen nur die Umsicht. Sie pflanzten Heidekorn, weil es der Großvater gepflanzt hatte, einerlei, ob es verkäuflich war oder nicht. Sie pflügten keinen Acker um, auch wenn zur Winterzeit die Raben die halbe Saatfrucht herausgezogen hatten. Als es längst schon Maschinen gab, da sah man die zwei immer noch auf der Tenne stehen und dreschen. Sie droschen mit Leidenschaft. Morgens bei Licht, abends bei Licht.

›Sehet euch vor,‹ rief der Straßenmeister in die Scheune hinein, ›der Bach hat eure Mauer unterwühlt und läuft euch demnächst durch den Hof.‹

›Ein andermal vielleicht, dass wir dazukommen, sie auszubessern; jetzt haben wir zu dreschen.‹

Sie schlugen mit den Flegeln auf die Garben und achteten den Mahnruf nicht. Da regnete es eines Tages sehr heftig; man hörte den Regen aus dem Strohdach rinnen. ›Gut,‹ dachten die beiden, ›dass es uns nicht in die Werkstatt regnet, so lange das Korn trocken ist, kann man dreschen.‹ Sie hörten das Wasser rauschen und fühlten ab und zu einen kleinen Stoß. Sie achteten dessen nicht und droschen weiter.

›Nun wird es aber Zeit, dass wir zum Essen gehen,‹ sagte einer der beiden Brüder. Der andere sagte: ›Einverstanden.‹

Sie öffneten das Scheunentürchen und traten hinaus. Da war die ganze Welt um sie verändert. Es dauerte eine Zeit lang, bis sie sich auskannten und bis sie herausgebracht hatten, dass ein Wolkenbruch sie mitsamt der Scheune nach Neckarsteinach hinabgeschwemmt hatte.

›Tut nichts,‹ sagten sie, ›wir haben auf dem Spind noch Frucht zum dreschen, es kommt wieder einmal ein Wolkenbruch. Das Wasser fließt nach der anderen Seite und schwemmt unsere Scheune das Tal hinauf. So kommen wir wieder zu unserem ganzen Hof.‹

Erlebt haben sie diese entfernte Möglichkeit nicht; sie starben beide in Armut, und da niemand da war, der ihren Sarg bezahlen wollte, so kamen sie nach Heidelberg in die Anatomie. So haben an ihnen, die selber nichts lernen wollten, die Studenten gelernt. Und auch du und Vater Höhrle solltet an ihnen lernen.«

»Denkst du, dass wir mit unserer Mühle den Bach hinunterfließen, wie deine Gebrüder Spilger?«

»Ihr seid schon im Rollen,« sagte Mordche, »und ich will dir sagen, wo ihr hängen bleibt: Unten bei Groß und Moos. Dich sehe ich dort den Hof kehren, und Vater Höhrle hantiert mit einem Spaten ein wenig in den Gartenpfaden.«

»Ich weiß, Jude, du spielst Skat und den nicht schlecht,« entgegnete der Mühlbaschel nach einer Pause des Nachdenkens, »hast du je erlebt, dass einem die Buben einen ganzen Abend treu geblieben sind? Siehe, jetzt haben Groß und Moos die Hand voller Trümpfe und spielen aus, aber pass auf, sie überfordern sich, und zuletzt machen die Nebenkarten noch ihre Stiche.«

»Ich will dir deinen frommen Glauben nicht nehmen, Baschel, und für Vater Höhrle sollte es mich freuen, wenn du Recht behieltest. Übrigens nimm hier dein Geld und eile nach Haus. Es könnten Leute kommen, von denen du nicht gesehen sein magst. Auch geht der Postschalter bald zu, und ein Student, der sich die Augen nach dem Briefträger blind guckt und Hunger leidet, ist eine beklagenswerte Sache.«

Sebastian Stallmann zog aus seiner Hosentasche eine getrocknete Schweinsblase, die einen muffigen Talggeruch verbreitete, faltete sie umständlich auseinander und strich die wenigen Taler hinein. Mordche Rimbach, gefällig wie er war, schob die Brille auf die Stirn, griff nach der Petroleumlampe und leuchtete seinem Gast über die in der Mitte gebrochene Tür hinaus ins Freie, bis dieser die etwas ausgetretene Treppe überwunden hatte und sich auf der Straßenebene mit Sicherheit fortbewegte.

»Schade,« sagte er dann zu sich selber, »dass man den Ochsen ans Wasser führen, aber nicht machen kann, dass er säuft. Was nützt alles Zureden.«

 
»Bauer und Stier
Ein Tier.«
 

Auch der Mühlbaschel ging in leisem Selbstgespräch weiter.

»Verfluchter Hebräer, dass er doch am Schenkel seines Ur-Urgroßvaters im Roten Meer ertrunken wäre. Riechen denn die Schulden wie neue Geldbeutel, dass er so genau wissen kann, wie es um meinen armen Herrn steht. Ist denn die Zeit vorüber, wo eine Mühle einer Goldgrube gleichgeschätzt war. Lasst einmal nachsehen, wie es heute um uns steht. Man braucht ja nicht auf einen Berg zu steigen, wenn man Vater Höhrles Elend übersehen will. Ein sinnlos Betrunkener kann den Weg gehen ohne Gefahr, dass er abstürzt, nur immer ebener Erde herein in die Mühlstube. Etwas Licht freilich ist erwünscht,« und damit tastete er in seine Westentasche, holte ein Streichholz hervor, und weil gerade etwas Wind ging, so streckte er mit der Linken die eine Seite seines Wamses vor und schützte dahinter den Embryo einer blauen Flamme.

So betrat er das Haus und holte von der Decke die alte Laterne herunter. Sie war zugestaubt, und ihr Riegel hatte sich ins Holz gefressen. Es dauerte eine Weile, bis das Türchen aufging. Da brauchte Sebastian Stallmann seine beiden Hände. Er musste das erste Streichholz opfern. Ungern warf er es fort, und ein kräftiger Fluch begleitete die Worte: »Man kauft sich noch arm an lauter Streichhölzern.«

Endlich aber war alles richtig zustande gebracht. Das Licht brannte wieder einmal in der Mühlstube, wenn auch nicht für den übelduftenden Bauernchor, der vordem hier versammelt war. Ängstliche Leere gähnte an ihrer Stelle. Jede Bank, jeder Stuhl redete nur zu deutlich hier die Sprache der Verödung. Als ob es geschneit hätte, lag eine weiße Decke über allen Gegenständen, seitdem es keine Bauernhosen mehr gab, die hier die Möbel scheuerten. Nur der Tisch mit den eingeschnittenen Namen war einigermaßen sauber. An ihm arbeitete Vater Höhrle in seinen trüben Stunden.

Der Mühlbaschel überschaute mit einem einzigen Blick das ganze Hauptbuch. Es waren kaum mehr als fünf bis sechs Namen zu lesen. Vater Höhrles Vernichtungswerk hatte unheimliche Fortschritte gemacht.

Da war noch Peter Hintenlang von Siedelsbrunn, ein sauberer Patron. Seine Finger waren geknickt und an den Gelenken aufgetrieben. Die Leute sagten, er hätte sie sich krumm geschworen. An dem war nicht viel zu verdienen. Er brachte wenig und Schlechtes und wollte viel und Gutes mitnehmen. Der konnte das Unternehmen nicht stützen.

Da war Michel Eckhard von Zotzenbach, der Mann mit dem empfindsamen Sitzfleisch, der Säcke und Pferdedecken mitnahm, weil er nicht hart sitzen konnte, und sie nicht wiederbrachte.

Da war noch ein Name – nur noch halb vorhanden, denn Vater Höhrle arbeitete offenbar an seiner Vernichtung – aber noch leserlich: Kunz Streckfuß von Steinach. Der Tod hatte seinen Träger vor einigen Tagen aus dem Buche des Lebens gestrichen, und Vater Höhrle beging keine Grausamkeit, wenn er ihm an seinem Tische keinen Platz mehr gönnte. Und doch war’s schade um den Mann.

Sein Grundsatz war: »Es geht in einem hin.« So steckte er an alten Hofreiten die Scheunen an, wenn das Wohnhaus brannte. Was sollte man zweimal das Dorf alarmieren und Schrecken über die Leute bringen. Lag alles in Trümmern, so zahlte die Versicherungsgesellschaft, und Streckfuß, der Baumeister war, stellte Scheune und Haus nach einem gemeinsamen, gut durchdachten Plane wieder her. Er war ein Segen für die Gegend. Er verhalf den Armen zu einem neuen Hause und schaffte den Werkleuten Verdienst. Deshalb schenkte ihm der Himmel die Gnade eines schönen Todes. Als er eben ein altes Schulhaus, in dem die Kinder sich die Füße erfroren, angesteckt hatte und sich bescheiden drückte, fiel er in eine Hanfdarre und versprengte sich das Netz. Viele Menschen folgten seinem Sarge. Die ganze Gegend wusste, dass er ein schwer zu ersetzendes Kleinod barg. Man trug einen heiligen Crispinus zu Grabe, der ein wenig die Versicherungsgesellschaften schröpfte und armen Leuten Häuser baute.

»Die Kränk aber auch,« sagte Sebastian Stallmann, als er seinen Namen las, »der Mann ist zur Unzeit gestorben. Mochte der Herr im Himmel die Mühle in einem warmen Regen zu sich nehmen, sie war um den Feuerversicherungsanschlag gut verkauft, und es wäre für den Vater Höhrle ein Stück Geld übrig geblieben.«

In diesem Augenblick fing es in dem leeren Werk, das schon seit Tagen stille stand, unheimlich zu seufzen und zu krachen an. Der Mühlbaschel fuhr erschrocken mit dem Kopfe in die Höhe und warf die Laterne herunter, die, über ihm stehend, eine magere Helle geschaffen hatte. Nun war er ganz im Dunkeln, und das Krachen und Ächzen nahm zu.

»Gerechter Himmel,« dachte er, »sollte der Geist des seligen Streckfuß keine Ruhe gefunden haben, und sollte er gekommen sein, eine Unterlassungssünde gut zu machen?«

Immer wilder wurde das Ächzen, Pfeifen, Schnurren; kein Zweifel, es drehte sich das Rad, und der Läufer fing an, auf dem Bodenstein zu tanzen, und doch war Baschel seiner Sache sicher, dass das Wasser vom Rade abgewendet war. Hier ging etwas nicht mit rechten Dingen zu.

Dem Mühlknecht war es, als ob ihn einer an den Haaren emporzöge, um ihn in den Trichter zu stürzen. Schon huste er zurück und suchte mit den Fersen die Türschwelle, als vom Wasserbau da hinten ein Lichtschimmer, der eine weiße Gestalt gespenstig umfloss, ihn an die Stelle bannte.

»Der Geist des Meisters Streckfuß,« dachte Baschel. »Aber wie der Selige in der Ewigkeit sich verändert hat. Er ist kleiner geworden.«

Zwischen den schnurrenden Treibriemen hindurch nahm der Geist mit Sicherheit seinen Kurs auf den Mühlknecht zu. »Wie er sich noch auskennt,« dachte dieser, »nun ist ihm wohl im Himmel und auf Erden kein Rattenwinkel mehr unbekannt.«

In diesem Augenblick war Sebastian Stallmann auf ein Wiedersehen mit seinem seligen Freunde nicht sehr erpicht, und er tastete hinter sich nach der Türklinke, denn, der Erscheinung auch nur für einen Augenblick den Rücken zuzukehren, schien ihm zu gewagt. So kam denn der weiße Schrecken immer näher, und wenn der Mühlknecht noch eine Hoffnung hatte, dem Verderben zu entrinnen, so war es die, dass der Geist ihn nicht bemerken wolle und seine eigenen, nur ihm selber klaren Wege wandere.

Doch dem war nicht so. Baschels Fußbekleidung, die über einen Radschuh gearbeitet schien, bildete ein zu bedeutendes Verkehrshindernis. Die überirdische Erscheinung stieß sich daran und hob die Laterne:

»Gott Strammbach, Baschel, bist du’s?« rief das Gespenst. »Was lässt du die Mühle an und weißt doch, dass wir nichts zu mahlen haben?«

»Ach, Herr Höhrle, alle guten Geister loben Gott den Herrn, mit mir treibt der Teufel seinen Schabernack. Denkt ihr, ich könnte die Stellfalle gezogen haben? Das hat einer getan, der mehr Geist ist als ich oder weniger. Kommt, lasst uns nachsehen!« So gingen denn Vater Höhrle im langen Nachthemd und Sebastian Stallmann nach dem Wasserbau. Die Laterne warf ihren zwinkernden Schein über das weiße Band hin, das in der Holzrinne schäumte, so dass es aussah wie der Atlas, der von Totenkränzen niederflattert. Baschel war an der Stellfalle und rüttelte an dem Holzgestell. Es war morsch geworden und fiel in sich zusammen.

»Zum Henker,« sagte der Mühlknecht, »fürs Wasser taugt die nichts mehr; sie ist reif für die Flamme.«

»So wirf sie morgen unter den Herdkessel,« sagte Höhrle, der die sinnige Anspielung seines Knechtes nicht verstand. »Indessen nimm das Grabenbeil und haue oben den Kanal auf. Es mag das Wasser diese Nacht über die Wiese laufen. So stört die Mühle wenigstens nicht unseren Schlaf.« So weit war es im Hause Höhrle bereits gekommen. Vordem wachte jeder auf, wenn die Mühle stehen blieb. Heute konnte niemand schlafen, wenn sie ging.

22. Kapitel

Dort, wo der Eiterbach seine Wasser aus rotem Sandstein in einer Mulde hoch oben am Hardtberg sammelt, um sie der Steinach zuzuführen, liegt weltverloren Siedelsbrunn. Einst herrschte hier der Krummstab der Äbte von Lorsch, und aus »Sub sigillo Brunonis« leiten gelehrte Köpfe den Namen des Dorfes her. Wo einst die Mönche, die Hüter der kleinen Wallfahrtskirche Klingenhof, die Waldespfade in gottversunkener Betrachtung hinschritten, schreitet heute der Steinhauergeselle. Der Bruch gibt ihm Brot und leider Gottes auch mit jedem Atemzug seinen gefährlichen Steinstaub, der unter dem Meißel aufsteigt und die Lunge des Arbeiters füllt. So sterben die Männer früh. Gar manche Mutter sieht drei, vier Söhne ins Grab sinken und schickt doch den fünften in den Bruch. Was geschehen soll, geschieht. Niemand entrinnt dem harten Griff des Todes.

Neben dieser fatalistischen Weltanschauung oder vielleicht durch sie bedingt, läuft nun unwiderstehlich ein Hang nach Genuss um jeden Preis. »Das Leben ist kurz, also holt von der Ernte der Freude, die draußen steht, die Garben heim, sobald sie nur eben zu reifen beginnen.« So geht das Mädchen lange vor dem Evangelium zum Opfer und lebt dann einige Monate als Schenkamme in einem reichen Hause zu Frankfurt oder Mannheim in Hülle und Fülle. Der Bursche spielt Kegel, trinkt und singt so lange, bis kleine tuberkulöse Geschwüre anfangen, seine Stimmbänder zu zernagen und ihn heiser machen. Gesegnet sei die Atmosphäre von Leichtsinn, die über der Talmulde lagert und diesen Armen das Leben erträglich macht.

Heute ist’s ein schöner Sonntagmorgen, der erste seit langen Regentagen.

»Du könntest unser Korn wenden, das der Platzregen halb in den Boden geschlagen hat,« sagt die Frau zum Mann.

»Du sollst den Sabbat heiligen,« gibt der zurück und ist froh, dass ihm die Kirchengebote eine so gute Ausrede zur Verfügung stellen.

Die Frau schweigt. Das ist ihm erwünscht, und er putzt ruhig an seiner Flinte weiter. Heute Mittag ist Scheibenschießen. Der Wirt hat hinterm Anger eine Scheibe aufgestellt und einen Hanswurst eingegraben, der aufspringt, wenn eine Kugel ins Schwarze schlägt. Der Abend bringt Tanz und dann jene traumverlorenen Gänge zu zweien hinter den Scheunen her nach dem Walde und wieder zurück nach dem Tanzboden, bis das Übermaß des Weingenusses dies Wandern zu zweien reizlos, wenn nicht unmöglich macht.

Das war’s, wozu man sich rüstete, worauf man sich freute.

Auch von anderer Seite hatte man Vorbereitungen zum Feste getroffen. Klaus Priester in Husterloh, der Musikant, begann sich eigenhändig zu rasieren und streckte eben den eingeseiften Kopf zum Fenster hinaus, zu sehen, ob seine Genossen von Olfen her noch nicht die Kirchhohl herunterkämen. Richtig, da waren sie ja an der Treppe. Veit Streichgut, die Bassgeige auf dem Rücken, Franz Blasauf mit dem Schnitzbuckel und der hinkende Bote, Bastel Fiedele, an dessen Seite sein Sohn die große Trommel schleppte. Klaus Priester fuhr mit dem eingeseiften Kopfe zurück und arbeitete fleißig in den wüsten Stoppelfeldern seiner Backen.

Ein Klumpen Seifenschaum mit Haaren untermischt fuhr zum Fenster hinaus und dem Fiedele ins Gesicht.

»Nun bleibt er nicht mehr lange,« sagte der und wischte sich die Schnauze mit dem Ärmel rein.

»Ich stecke nur meine Gelberübe ein,« rief es von oben, »nehmt einstweilen Platz auf den Treppenstufen.«

Die Musikanten lehnten sich, ohne abzulegen, nur ein wenig an, setzten sich aber nicht fest. Sie wussten, dass ihr Chef im Nu erscheinen werde. Keine Minute, und er war schon da. Aus der Tasche sah ihm die Klarinette, und in der Rechten trug er einen Ziegenhainer mit so weitem Hirschzinken, dass man zweifelnd fragen konnte, ob er seinen Stock auch am richtigen Ende angefasst habe.

Der Meister wurde in allen Ehren empfangen und in die Mitte genommen. So ging die kleine Künstlertruppe an der Kirche vorbei, als eben der Pfarrer die Epistel sang. Ach ja, da fiel ihnen ein, sie hätten als gute Christen ja auch im Hochamt sein sollen, aber sie waren ja Musikanten. Mit denen konnte es der liebe Gott nicht so genau nehmen, da musste er ein Auge zudrücken, und sie drückten selber jeder ein Auge zu und gingen weiter.

Als sie am Gasthaus ›Zum Hirschen‹ vorübergingen, sahen sie in dem niederen Fensterrahmen eine befremdliche Erscheinung. Eine weiße Pikeeweste, über die eine schwere, goldene Uhrkette gespannt war, lagerte wie ein ferner Gletscherspiegel hinter den Scheiben. Nicht, dass sie stehen geblieben wären, um die Erscheinung anzuglotzen. Nein, dazu waren die Künstler weltmännisch genug erzogen. Sie gingen nur ein wenig langsamer und ließen ihre Blicke verstohlen nach der feudalen Weste hinüberschweifen. Als sich aber das Fenster öffnete, und ein Kopf zum Vorschein kam, der auf den Schultern eines ungarischen Magnaten eine noch imponierende Erscheinung gewesen wäre, standen sie stramm wie Soldaten. Der Herr sah so vornehm aus, dass unsere Musikanten fast erschraken, als er sie anredete und sie fragte:

»Wohin des Weges, ihr Herren, die ihr euer Futter von Notenblättern pickt, wie Hühner den Hafer von der Tenne?«

Klaus Priester trat vor und sagte:

»Mit Verlaub zu melden, Euer Gnaden, nach Siedelsbrunn zum Scheibenschießen.«

»Und was hat jeder von euch morgen früh in der Tasche, vorausgesetzt, dass euch nicht die Steinbrecher den Schädel eingeschlagen haben?«

»Euer Gnaden kennen sicher, was Künstler wert sind, und werden sich nicht sehr verschätzt haben, wenn Sie morgen für jeden von uns zwei Gulden mehr bieten als heute.«

»Das ist geringer Verdienst für Leute, die eine Nachtschicht arbeiten. Bleibt bei mir, und ich garantiere jedem drei Gulden und freie Zeche.«

So lockte der Fremde.

Das war ein gar zu duftiger Speck für Leute, die wie die Kirchenmäuse von magerer Kost leben müssen.

»Auf eine Stunde kommt’s nicht an,« so dachten sie und traten mit ihren Instrumenten ein in die Gaststube zum Hirschen.

Nur Veit Streichgut, der die Bassgeige schleppte, und der Knabe mit der Trommel gedachten der sechsten Bitte des Vaterunsers. Sie hatten dem Ochsenwirt versprochen, beim Scheibenschießen Musik zu machen, und sie ließen sich nicht in Versuchung führen.

So gingen die zwei Getreuen allein weiter, einer dunklen Stunde entgegen, während die anderen von dem Fremden bewirtet, im Sonnenschein weiter lebten, als ob es Groschen geschneit und Dreibatzenstücke gehagelt hätte. Im Dunste, der vom perlenden Rotwein in die Köpfe stieg, war bald das ganze Siedelsbrunner Schießen verblasst. Klaus Priester trillerte wie eine Lerche auf seiner Klarinette, ja, er tat ein Übriges und schuhplattelte nach dem Takte des Reimes:

 
»Und der Kreuzjuckeljuckeltant
Und der Musikant
Und die sieben Seppel
Und die scheel’ Grethel
Und der Hanswurst
Mit sei’m Durst«…
 

dass die Diele krachte und die Zinnteller auf den Paneelbrettern zu klappern begannen.

Bald war es im ganzen Dorfe bekannt: »Im Hirschen ist was los, da macht Klaus Priester das Kalb.« Den Männern wurde die Zeit lang, bis die Abendstunde kam, wo man mit Schicklichkeit ausgehen konnte. Mancher wartete sein Vesperbrot nicht ab und wich durch die Hintertür den vorwurfsvollen Blicken seiner Gattin aus.

»Im Hirschen ist einer, der den ganzen Ort freihält. Es muss ein Fürst sein, er ist in einer Chaise angefahren.« So lief eine zweite Depesche der ersten nach und machte selbst die sonst so stillen Frauen, die am Herde standen und für Mensch und Vieh die Abendmahlzeit kochten, unruhig.

Auch zu Mutter Lulay war die aufregende Neuigkeit gedrungen, im Wortlaut nur ein wenig erweitert. »Und einen Zylinder hat er auf dem Kopf.« »Einen Zylinder sagst du, ist es sicher, einen Zylinder?« rief sie, ihre Erregung nicht mehr beherrschend, und warf den Holzlöffel zu dem Pfannkuchenteig, der in dem Steingutteller über dem Herdfeuer dunstete. Mag beides miteinander verbrennen, der Mutter Lulay war es einerlei. Kein andrer als ihr Backnickel war heimgekehrt. Wer außer ihm konnte auf den drolligen Einfall kommen, in einem Zylinderhut das entlegene Bergdorf aufzusuchen, um morgen mit Glacéhandschuhen bekleidet die Geiß am Strick zur Weide zu führen? An diesen Schrullen gerade erkannte sie ihn; so war er, und das hatte er von seinem Vater selig.

Mutter Lulay riss ihren Luftsack vom Nagel und schlüpfte in die Ärmel. Wohl hatte sie die Vorstellung, dass er am Halse nicht recht schließe, aber sie kam doch nicht so weit zur Besinnung, dass sie merkte, sie habe das Taillenband um den Hals und den Kragen um die Taille. So erschien sie übel gemustert im Hirschen.

»Wo ist er?« schrie sie und drängte sich in fliegender Eile an Klaus Priester vorbei nach dem Herrenstübchen. Der Luftsack blähte sich im Winde, die hagere Gestalt glich dem Ofenwischer eines Bäckers. Ihr war alles einerlei, sie stürmte vorwärts, bis sie endlich vor der vornehm kühlen Erscheinung des Fremden stand. Da, plötzlich war sie wie niedergedonnert. Diese kalte, gefrorene Exzellenz war doch nicht ihr Nickel. Nein, so sehr konnte er sich nicht verändert haben. Es musste noch andere Narren geben, die den schnurrigen Einfall hatten, Zylinder zu tragen. Und doch, dies Gesicht war ihr auch nicht ganz fremd. Aus diesen Blicken redete sie etwas so bekannt an, als ob es mit ihr plaudern wolle von verstrichenen Jahrzehnten und von Menschen, die längst verweht, verschwunden sind. Nur noch einen Augenblick kramte sie in ihren Erinnerungen, dann fuhr es wenig zeremoniell wie aus einer Kanone geschossen aus ihr heraus:

»Du bist der Gänseschrot von Gadern!«

Der Fremde reichte ihr etwas betreten die Hand und sah ihr schmunzelnd ins Gesicht.

»Der Gänseschrot!« Dies packte im Nu jeden der zahlreichen Erschienenen und schüttelte wie in einem Kaleidoskop Erinnerungsbilder heraus, die vor dreißig und mehr Jahren einmal vor ihrer aller Seele gestanden hatten. Ja, ja, das war der arme Junge, der niemals Vater noch Mutter kannte und mit den Gänsen aufwuchs, die vor dem Dorfe im schlammigen Lehmboden unzählige Male die Form ihrer Füße verewigten. Einst war er fortgegangen mit einer Akrobatentruppe, nun war er wieder da. Das war’s, was man wusste. Was zwischen beiden Daten lag, das hoffte man bei passender Gelegenheit von ihm selber zu hören. Die Hauptsache war, dass er nicht als ausgehungerter Schnurrer kam und dass er Geld mitgebracht hatte, viel Geld, so viel, dass er alle seine Landsleute mit Rotwein traktieren konnte. Diese ließen sich vor den vollen Gläsern nicht übermäßig nötigen, und bald herrschte in jedem Winkel des Hauses ein Treiben, wie man es noch nicht gesehen hatte. Leute, die draußen vorübergingen, horchten, blieben stehen und versuchten hereinzudringen. Es war nicht möglich. So ergriff man das erste beste von irgendeiner Seite dargereichte Glas, schüttete seinen Inhalt herunter und geduldete sich, bis Fortuna auf ihrem Rundgange abermals mit dem roten Füllhorn erschien.

So voll auch Gänge und Zimmer gepfropft waren, zwei, die jetzt kamen, fanden doch noch Platz, obwohl sie weit mehr den Insassen eines Pfründnerhauses glichen als Festgästen. Der eine hatte sein Taschentuch über das rechte Auge gebunden und wischte nun notgedrungen mit dem linken Rockärmel von Zeit zu Zeit etwas Blut aus dem Gesicht, das von der Nase niederrann. Der andere schien am Stern seines Schiffes Havarie erlitten zu haben, denn er steuerte sein Fahrzeug so, dass man immer nur den Bugspriet sah und etwas von der Backbordseite, während die Rückseite, an der Wand hinrutschend, ein Trockendock zu suchen schien. So kamen denn die beiden nicht in bester Laune bei Klaus Priester an.

»Lump, miserabler,« schrie Veit Streichgut den feisten Falstaff an, »warum hast du uns sitzen lassen?«

»Ihr brauchtet euch ja nur zu stellen, so war dem Übel abgeholfen.«

»Haben wir getan, da warf mich einer von den groben Steinschlegeln in meine Bassgeige hinein, dass ich drin hängen blieb, wie der Stiel im Hammer. Dann griffen vier Kerle nach dem Geigenhals, und so schleuderten sie mich wie auf einem Karussell im Saale herum, bis die Bassgeig’ durchgerutscht war und meine Hose dazu. Ich bin durchgerissen wie ein Schurzfell aus Schafleder.«

»Steck’ einige Steine in die Hintertaschen deines Rockes, und jedermann hält dich für ganz. Sieh, blutiger Streichgut, so flickt der Musikant seine Beinkleider,« tröstete Klaus Priester.

»Du brauchst noch zu witzeln, fettiger Sauschnüffel. Da guck den Jungen an. Erst ging’s noch, als er bloß zu trommeln brauchte, wenn der Hanswurst aufsprang. Wie aber der Abend kam, und wir zwei zum Tanz aufspielen sollten, da wurden die Lümmel grob. Sie trieben dem armen Bengel die Trommel in den Kopf, dass er im Saale wie ein blindes Hinkel herumhüpfte und die Tür suchte.«

An dieser Stelle seines Vortrags hielt Veit Streichgut inne, um den Trommlerjungen vorzustellen, der immer noch mit dem Ärmel das Blut aus dem Gesicht wischte und aussah wie ein Bauernhandtuch am Tage des großen Schweineschlachtens.

»Fang an zu sammeln!« schrie Klaus Priester. »Die Beschreibung haben wir ja, das Bild wollen wir dir schenken.«

Er drückte den Veit Streichgut auf einen Stuhl nieder und hielt ihm ein volles Glas Rotwein unter die Nase. Welches Musikantenherz vermöchte solcher Lockung zu widerstehen? Bald retouchierte der Geist des Weines das tragische Ereignis des Unglückstages so sehr, dass es fast wie eine lustige Episode erschien, und Veit Streichgut fing an zu singen, und die Menge half ihm:

 
»Holt der Teufel auch die Welt,
Lustigsein ist Trumpf;
Und so lang der Stiefel hält,
Braucht man keinen Strumpf.«
 

So endete die Heimkehr des verlorenen Sohnes Michel Schrot mit einem ausgelassenen Freudenfeste in den Morgenstunden eines blauen Montags, und niemand ahnte noch, wie viele Tränen das Erscheinen dieses Glückspilzes die Gegend kosten würde.