Zwielicht 13

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Zwielicht 13
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Zwielicht 13

1  Titel Seite

2  Geschichten

3  Artikel

Titel Seite
Hrsg. Michael Schmidt & Achim Hildebrand
Zwielicht 13
Horrormagazin

Horrormagazin Zwielicht

Band 13

Herausgegeben von Michael Schmidt & Achim Hildebrand

Kontakt: Zwielicht_Magazin@defms.de

Das Copyright der einzelnen Texte liegt bei den jeweiligen AutorInnen

Titelbild: Björn Ian Craig

Lektorat: Marianne Labisch, Julia Annina Jorges

August 2019

Inhalt
Vorwort

Liebe Freunde des gepflegten Grauens,

zu Beginn dieses Jahres sollte die 12. Fassung des Sozialgesetzbuches durch die 13. Fassung aktualisiert werden. Arbeits- und Sozialminister Hubertus Heil kündigte jedoch an, diese zu überspringen und gleich mit der Nummer 14 weiterzumachen. Wie er sagte, um Rücksicht auf jene zu nehmen, die bei der Zahl 13 ein ungutes Gefühl hätten. Er selbst sei kein abergläubischer Mensch und habe auch keinerlei Angst vor Unglückszahlen. Nun ja, Hubertus …

Wie auch immer, wir bei Zwielicht leiden keinesfalls unter Triskaidekaphobie, wie man die Angst vor der 13 medizinisch nennt. Im Gegenteil, wir haben uns schon lange auf diese Ausgabe gefreut und wünschen uns nichts mehr, als dass den Helden und Heldinnen in den Geschichten genug Unheil zustößt, um unsere Leser bestens zu unterhalten.

Was könnte etwa unangenehmer sein, als sich plötzlich im Körper eines Hundes wiederzufinden und nicht zu wissen, ob und wie man wieder hinausgelangt? Oder in einer alten Schleuse ein totes Monster zu entdecken, das vielleicht nicht so ganz tot ist? Oder zu erkennen, was es mit dem „Leberhasen“ und dem „Nierengockel“ auf sich hat? Ganz zu schweigen von einer alten Bettlerin, die in Reimen bettelt.

Damit möchte ich es bei den Ausblicken auch schon belassen – selber stöbern und entdecken ist schließlich nicht der geringste Teil des Spaßes.

Natürlich kommen auch die Klassiker nicht zu kurz. Algernon Blackwood ist mit einer neuen Übersetzung dabei, und mit Albert Wetjens Schiff des Schweigens hat Matthias Käther eine echte Rarität ausgegraben, zu der er überdies interessante Hintergrundinformationen liefert.

Im Artikelbereich bringen wir einen Bericht über das Wirken der Giftmörderin Gesche Gottfried, ausführliche Rezensionen zu lesenswerten Werken der phantastischen Literatur sowie eine kurze Geschichte des „Leberfressers“ John Johnston.

Wie immer geht unser Dank an alle Autoren, die mit ihren Texten zum Gelingen dieser Ausgabe beigetragen haben. Ganz besonders auch an Marianne Labisch und Julia Annina Jorges für ihre sorgfältige Lektoratsarbeit sowie an Björn Craig, der dem Zwielicht-Magazin mit seinen Covern mittlerweile ein unverwechselbares Gesicht gegeben hat.

Herzlichen Dank auch an alle, die uns beim Vincent Preis 2018 mit ihrer Stimme unterstützt haben. Zwielicht hat es diesmal auf sage und schreibe drei erste Plätze gebracht.

 Zwielicht 12 für die Kategorie „Beste Anthologie/Magazin/Sekundärwerk“

 Zwielicht 12 für die beste Horrorgrafik

 Der Blackwood-Sammelband Aileen für das beste internationale Literaturwerk

Ihr könnt euch sicher vorstellen, dass wir darauf ziemlich stolz sind.

Damit genug der Vorbemerkungen. Wir wünschen unseren Lesern eine spannende Lektüre und tausend aufgestellte Nackenhärchen.

Mit dunklen Grüßen

Geschichten
Albert Richard Wetjen - Schiff des Schweigens

Vorbemerkung des Übersetzers

Lissabon zählt zu den schönsten Städten der Welt. Vielleicht auch deswegen, weil sie, zumindest in der Feriensaison, eine atemberaubend hohe Anzahl von Sonnentagen hat. Wenig kommt für mich dem Genuss gleich, im Jardim Botto Machado zu sitzen und auf den Tejo zu schauen, der an dieser Stelle kurz vor dem Atlantik die Breite des Mississippi hat. Und dort zu lesen.

Doch das Lissabon an dunklen Tagen ist gespenstisch. Wenn es regnet, erinnert die Stadt an das Lovecraftsche Innsmouth – die gewundenen engen Gassen der Alfama wirken bedrohlich, und die sonst so freundlichen fetten Katzen blicken feindselig und raubtierhaft aus finsteren Flureingängen. Ein Brodem von Fisch, Verwesung und ranzigem Benzin liegt in der Luft.

So ein Tag war es, als ich beim vorjährigen Besuch Ship of Silence von Wetjen las. Es war meine Gruselgeschichte des Jahres 2018, und ich gebe zu: möglich, dass der düstere Tag zum Schauder beigetragen hat. Doch als ich sie dann in Berlin übersetzte, war der Eindruck noch genauso stark.

Dabei ist sie nur indirekt eine Entdeckung von mir, weil sie aus einer neuen Anthologie stammt, die Mike Ashley für den verdienstvollen Verlag der British Library herausgegeben hat.

Mit ihrer neuen Serie Tales of the Weird ist der British Library ein kleiner Sensationserfolg gelungen. 2016 kam man dort auf die Idee, die Schätze britischer phantastischer Literatur zu heben und in Taschenbuchform herauszugeben. Lost in a Pyramid war ein Volltreffer – 12 Horror-Storys um Mumien, Gräber und Flüche zwischen 1869 und 1910, darunter Klassiker wie Conan Doyles Lot No. 249 , aber auch viele Raritäten wie The Dead Hand von Hester White. Bald sollten weitere Bände folgen, und inzwischen ist das Programm der Horror-Klassiker-Reihe für 2019 beachtlich aufgestockt worden – fast im Monatsrhythmus erscheinen neue Bände.

Herausragend sind darunter die thematischen Anthologien von Mike Ashley, u. a. eine mit alten See-Horror-Geschichten ( From the Depths , 2018) und eine mit schaurigen Eisenbahn-Storys ( The Platform Edge , 2019).

The Ship of Silence habe ich aus From the Depths (Aus der Tiefe) entnommen. Die Geschichte, offensichtlich angeregt durch den authentischen Fall des Geisterschiffs Marie Celeste , stand ursprünglich im Blue Book Magazine von 1932, einem außergewöhnlichen All-Story-Pulp (was heißt, dass es hier keine Festlegung auf Genres gab). Blue Book war überreich, ja fast schon comichaft illustriert, oft mehrfarbig, und damit etwas ganz Besonderes. Fast auf jeder Seite fand sich ein Bild. Leider besitze ich die Ausgabe weder als Scan noch haptisch; es wäre zu schön gewesen, zu dieser Story stimmungsreiche Illustrationen beisteuern zu können.

Das Heft ist extrem selten – Ashley wird sich des leichter zugänglichen Nachdrucks bedient haben, der im Avon Fantasy Reader Nr. 13 von 1950 erschien. Entdeckt und herausgegeben hat die Erzählung dort David A. Wollheim, also der Verleger mit der Fantasy-Supernase, der Tolkien populär machte.

Auch in anderer Hinsicht ist die Story bemerkenswert. Lange weigerten sich die Pulp-Magazine, unheimliche Literatur in ihre Blätter mit aufzunehmen, obwohl das Publikum danach hungerte. Erst mit der Gründung von Weird Tales (1923) und Amazing Stories (1926) gab es spezielle Pulps dafür. Zunächst wurden diese Magazine von der Konkurrenz ignoriert, weil sie als Zeitungen für Freaks galten. Erst mit der zunehmenden Anerkennung von Weird Tales und Amazing um 1930 und dem Massenerfolg des Dime Mystery Magazine (1933) hielten Grusel- und Horrorgeschichten auch Einzug in die anderen Blätter.

Albert R. Wetjen (1900-1947) war kein eigentlicher Horror-Autor, sondern spezialisiert auf Seefahrt-Geschichten, die in vielen Magazinen der 20er- und 30er-Jahre erschienen und bei Redakteuren wie Lesern viel Anerkennung fanden. Kein Wunder, denn er berichtete aus eigener Erfahrung. Er war lange zur See gefahren, und anders als dem Horror-Genie William Hope Hodgson hat ihm das wohl auch Spaß gemacht. Er war Brite deutscher Abstammung, emigrierte in den 20ern in die USA und erhielt dort 1925 die Staatsbürgerschaft. Ein Jahr später bekam er den O.-Henry-Preis für die beste Kurzgeschichte des Jahres ( Command ). Hier in Zwielicht erscheint die deutsche Erstübersetzung von Ship of Silence .

Weil diese Geschichte wahr ist, hat sie kein Ende …

Es war spätabends und sehr heiß, die klebrige tropische Luft erdrückte uns fast und schien auch die Lichter der Küstenstadt zu dämpfen. Das Wasser des Hafens wirkte wie weicher Samt, der die Ankerkette umschmeichelte und sich am Rumpf des kleinen Kaffeefrachters dahinzog, der mich nach Santos, Brasilien, gebracht hatte. Wir tranken Tonics, eiskalte Gin-Longdrinks, und plauderten über das Meer im Allgemeinen und über Schiffe, die in seiner mysteriösen Unendlichkeit verschwunden waren, im Besonderen. Old Billings, das muss vorausgeschickt werden, war alles andere als ein Romantiker. Der würdevolle Greis, rotgesichtig mit weißem Haar, stand im achtzigsten Jahr und arbeitete immer noch als Seekartograf bei einer Firma in Santos. Er war dem Ruf der See 40 Jahre lang gefolgt, bevor er sich in seiner gegenwärtigen Position hier niedergelassen hatte, und wenn er sprach, dann war er mit allen Fasern ein erfahrener Seebär.

Das alles ist (so begann er) vielleicht nicht ganz so mysteriös, wie es scheint, wenn man die Möglichkeit einrechnet, dass die meisten verschwundenen Schiffe aus sehr profanen Gründen gesunken sind. Sie geraten in schweres Wetter, ihre Ladeluken werden eingedrückt oder die Ladung wurde falsch gestapelt, und sie kentern. Das kommt gar nicht mal so selten vor. Nicht so einfach zu klären ist die Frage, wie Schiffe einfach von der Bildfläche verschwinden können, ohne jede Spur, besonders in diesen Tagen, wo es den Schiffsfunk gibt und alle großen Seelinien massiv befahren werden. Doch solche Dinge passieren. Wir wissen, wie unwahrscheinlich es ist, dass ein Schiff sinkt, ohne dass Dinge an die Oberfläche treiben – ein Beiboot, Rettungsringe, Ladeklappen, Ruder, was auch immer. Natürlich, die See ist riesig, und man kann sich leicht vorstellen, dass Rettungsschiffe kleine Gegenstände übersehen. Sie haben bei bestem Wetter von einem Schiffsdeck eine Sichtweite von maximal 15-20 Kilometern. Ladeluken, Rettungsringe, Leichen sind auf einer Ebene mit dem Wasser und können vom Seegang leicht verborgen werden.

 

Doch selbst das eingerechnet ist es merkwürdig, dass manchmal eben gar nichts ans Licht kommt.

Nehmen Sie die WATARAH. Vielleicht erinnern Sie sich – für die damalige Zeit ein moderner Liner von über 15.000 Tonnen, ganz neu aus der Werft gekommen und auf seiner zweiten Fahrt. An Bord über 200 Menschen, Passagiere und Besatzung zusammengezählt, unterwegs auf einer regulären Route, die Küste runter von Durban nach Kapstadt in Südafrika. Natürlich kein Funk an Bord. Das war noch vor der Zeit, als es Pflicht für alle Passagierschiffe wurde, Funk an Bord zu haben. Er war noch nicht im allgemeinen Gebrauch.

Doch zumindest war die WATARAH auf einer extrem befahrenen Strecke unterwegs. Kurz nach dem Auslaufen in Durban begegnet sie noch dem Frachter CLAN MCINTYRE, flaggt Signale und gerät bald außer Sichtweite des schnelleren Schiffs. Und dann – verschwindet sie einfach! Natürlich, später wurde ein schwerer Sturm gemeldet, und es war nur logisch anzunehmen, dass sie in ihm gesunken ist. Aber – spurlos? Absolut verschwunden? Klar, sie haben Rettungsschiffe ausgesandt, als sie überfällig war. Monatelang sind Regierungs- und Privatboote an der Küste entlangpatrouilliert. Ein Schiff suchte über 90 Tage lang das Wasser ab und legte in dieser Zeit 20.000 Seemeilen zurück, und es gab ein anderes, das sogar der natürlichen Meeresströmung bis weit in den Süden folgte. Aber nichts wurde je gefunden. Keine Leiche, keine Luke, nicht eine Planke!

Dann war da das amerikanische Transportschiff CYCLOPS, das einfach verschwand, und die hatten Funk! Aber Sie brauchen gar nicht so weit zurückgehen – dies Jahr hat es die KOPENHAVEN erwischt, ein dänisches Trainingsschiff, unterwegs von Buenos Aires nach Australien. War seit Monaten überfällig. Nichts wurde gefunden; sie muss gesunken sein, und mit ihr die Blüte der dänischen Jugend, Söhne aus den besten Familien. Meine persönliche Meinung ist, dass sie zu weit nach Süden geraten ist, ins antarktische Eis. Sie wissen schon, Eisberge, und zack – zerquetscht wie eine Eierschale.

Aber das war es eigentlich nicht, was ich Ihnen erzählen wollte. Man kann immer eine Menge guter Gründe anhäufen, wenn es darum geht, das Verschwinden versunkener Schiffe zu erklären. Das wahre Geheimnis sind die anderen Schiffe – die Schiffe, die eben nicht verschwinden. Die Geisterschiffe. Schiffe, die völlig in Ordnung sind, über und unter dem Wasser, mit keiner Seele an Bord. 1823 oder ʼ24, ich weiß nicht mehr genau, gabʼs einen Schoner, den man nördlich am Kap Hatteras gesichtet hat. Segel gesetzt, Rettungsboote alle da, nicht das winzigste Leck im Bug. Aber kein menschliches Lebenszeichen. Niemand an Bord. Warum? Waren sie geflohen? Hatten sie Angst vorm Sinken? Unwahrscheinlich – da schwimmt das Schiff doch, unversehrt!

Irgendwo in den Akten gibt’s auch diese bemerkenswerte Geschichte von dem japanischen Dampfer, den sie im Südatlantik treibend gefunden haben. Registriert waren ein paarundvierzig Besatzungsmitglieder, und alles, was sie fanden, waren acht tote Männer auf dem Hauptdeck – und kein Hinweis drauf, wie sie gestorben sind. Auch da alle Beiboote an Ort und Stelle. Kein Anzeichen von schwerem Wetter. Kein Anzeichen für Feuer oder eine Epidemie … Schon sonderbar, nicht? Und dann, natürlich, die MARIE CELESTE in den 1870ern, ich denke mal, das ist der Klassiker, die Essenz des Geisterschiffs schlechthin.

Sie wurde im Mittelatlantik entdeckt bei ruhigem Wetter, wie Sie sich erinnern werden, mit all den üblichen Ingredienzien eines großen Rätsels. Alles in Ordnung. Rumpf und Masten unversehrt. Die Schönwetter-Segel gesetzt, nicht ein Rettungsboot fehlte. Alles so, wie es sein sollte, ausgenommen, dass es keine Besatzung gab. Was sie aber zum Klassiker macht, ist die große Anzahl merkwürdiger Begleitumstände, die man an Bord fand.

Die Kleidungsstücke der Männer hingen an der Leine zum Trocknen. Das Frühstück, halb gegessen, stand auf den Tischen der Hauptkabinen auf dem Vorderdeck, das Essen war unverdorben, ein sicherer Beweis dafür, dass die Mannschaft noch nicht lange fort sein konnte. Unter der Nadel der Nähmaschine in der Kapitänskajüte lag ein Kinderkleidchen, halbfertig, so wie es die Kapitänsfrau anscheinend in großer Hast zurückgelassen hatte. Dann fanden sie ein Entermesser, in der Scheide steckend, mit Flecken frischen Bluts an der Klinge, und an der Reling der Steuerbord-Bug-Seite war ein tiefer Einschnitt im Holz, ebenfalls blutverkrustet. Am Bug selbst, etwas über der Wasserlinie, entdeckte man zwei tiefe Furchen, wie ausgemeißelt, ganz frisch. Aber wissen Sie, was das Kurioseste war? Nichts fehlte an Bord, ausgenommen der Schiffschronometer. Warum? Weshalb?

Wo waren sie alle hin? Es gab kein Zeichen von Meuterei oder Spuren eines Überfalls von, sagen wir mal, Piraten oder so. Wie haben die Männer das Schiff verlassen – und warum haben sie es verlassen, offensichtlich in größter Hast, während sie frühstückten? Wir wissen es nicht. Ja, es gab einen Haufen wilder Theorien, aber aus dem einen oder dem anderen Grund können fast alle ausgeschlossen werden. Und wenn es nur die MARIE CELESTE wäre, ginge das ja noch an, seltsamer Einzelfall, vergessen wir’s. Aber da sind all die anderen Schiffe, nicht nur die, die spurlos verschwinden, sondern die, die gefunden werden; verlassen aus keinem erdenklichen Grund. Solche Fälle gibt es bis heute, jede Dekade hat ihre Klassiker – tja, was denken Sie? Machen Sie was draus …

Ich denke, ich bin ein ziemlich hartgesottener Typ. Ich hab ´ne Menge Erfahrung hier und da gesammelt, ich mach mir nicht viel aus Geistergeschichten und ich glaube, alles hat eine vernünftige Erklärung, wenn wir nur rauskriegen würden, was es ist. Und doch … manchmal … tja, ich weiß nicht. Die See ist verdammt riesig und wir wissen immer noch ziemlich wenig über sie und über das, was drin ist. Vergessen Sie nicht, das Land bedeckt nur ein Fünftel der Erde – oder war’s ein Viertel? –, und wir haben noch nicht mal alles Land erforscht. Und was die See angeht, wir sind ein paar Hundert Fuß weit runtergekommen, ein paar Hundert Fuß bei fünf Seemeilen Tiefe! Und dann bedenken Sie auch, dass Schiffe in der Regel sehr eng auf ihren Routen fahren. Es gibt da gewaltige Gebiete, in die sich Schiffe nur alle paar 50 Jahre mal hineinverirren. Vielleicht existieren sogar Regionen, in denen noch nie ein Schiff war und wo auch nie eins hinkommen wird.

Ist da etwas in der See, das herauskommt und diese Schiffe und ihre Besatzungen – plündert? Sie wissen und ich weiß, es hausen wirklich seltsame Wesen im Meer. Es gibt gigantische Tintenfische, die von den Pottwalen gefressen werden; ich habe gehört, sie sollen manchmal eine Spanne von 30 Metern haben – vom Ende eines Tentakels zum anderen. Dann wäre da noch die Seeschlange. Jaja, ich weiß, Landratten lachen darüber, dass wir an so was glauben. Aber warum sollten wir’s nicht glauben? Die Dinger sind seit der Antike immer wieder gesehen worden. Und gar nicht mal so selten. Selbst wenn wir die Seetang-Knäuel, muschelbewachsenen Hölzer und Tümmler-Schwärme abziehen, die manchmal für Seeschlangen gehalten werden, bleiben noch eine Menge Berichte übrig, die einen nachdenklich stimmen können.

Wie zum Beispiel können Sie den Bericht der DEADALUS ernsthaft anzweifeln?

Sie war ein britisches Kriegsschiff, sicher unter dem Kommando eines verlässlichen Kapitäns und genauso sicher besetzt mit guten Offizieren, deren Integrität man kaum infrage stellen kann. Sie sichteten ein langes, schlangenähnliches Tier, und das über eine geraume Zeit; sie waren sogar in der Lage, es zu zeichnen. Die Wissenschaft und die Öffentlichkeit mögen darüber lachen, aber sie können sich nicht über das Zeugnis einer ganzen Schiffscrew hinwegsetzen.

Und es ist nicht nur das Zeugnis der DEADALUS, mit dem Sie rechnen müssen! Kapitän Hope von einem anderen britischen Kriegsschiff, der FLY, sah ein großes Lebewesen mit dem Körper eines Krokodils, einem langen Hals und vier schaufelähnlichen Gliedmaßen im Golf von Kalifornien. Ein Leutnant Hayne, Kommandant der Jacht OSBORNE, sichtete etwas ähnlich Schauerliches, ich hab vergessen, wo. Dann gab’s da diese beiden Männer, die einen Bericht über ein Seeungeheuer verfassten und die Mitglieder einer wissenschaftlichen zoologischen Gesellschaft waren und die in einer Jacht vor der Küste Brasiliens kreuzten. Sie sahen eine Kreatur, deren Hals allein drei oder vier Meter lang war – und so dick wie ein Menschenrumpf. Ich sag Ihnen, Sie können das nicht alles weglachen, und mit ein bisschen Recherche können Sie all diese Berichte selbst nachlesen, falls Sie an meinem Wort zweifeln.

Ich habe dieses ganze Thema jetzt so gründlich beackert, weil … aber Sie werden bald wissen, warum.

Verstehen Sie mich nicht falsch – ich sage nicht, dass Viecher wie die Seeschlange und der Riesenkrake für alle verwaisten Schiffe verantwortlich sind, geschweige denn für alle versunkenen. Ich weiß nicht, warum sie verwaist sind oder sanken. Niemand weiß das, und wir können nur Mutmaßungen anstellen. Ich habe gehört, dass manche Wissenschaftler glauben, dass einige der Giganten, die vor Jahrmillionen die Erde bevölkerten, in den unendlich tiefen Abgründen der See überlebt haben könnten. Keine ganz unwahrscheinliche Theorie, wenn Sie mich fragen.

Aber vergessen Sie’s. Was ich Ihnen eigentlich erzählen wollte, habe ich selbst erlebt. Ich werd’s nie vergessen. Niemand würde das. Es ist eins dieser alptraumhaften Dinge, die einen Menschen sein ganzes Leben lang begleiten. Und ich glaube, jede Wasserratte durchlebt zumindest einmal etwas wirklich Grauenhaftes auf See, bevor sie stirbt. Ja, danke, ich nehme noch so einen Drink.

Das, was ich Ihnen nun erzählen werde, ist lange her. Ich war damals noch ein junger Dritter Maat, so um die 20, auf meiner ersten Seereise als Schiffsoffizier auf dem Dreimaster DOYON, unterwegs von Sydney nach Callao. Ich erinnere mich, dass wir prächtiges Segelwetter hatten, und wir näherten uns der südamerikanischen Küste nach einigen Wochen auf offener See, als wir plötzlich eins dieser Schiffe sichteten, von denen wir gerade gesprochen haben.

Ich will die Ereignisse nach all diesen Jahren nicht übertreiben oder ausschmücken, aber ich schwöre Ihnen, da war schon etwas Unheimliches an diesem Kahn, als wir ihn zum ersten Mal erblickten. Ich weiß noch, es war ganz früh am Morgen, und ich kam nach dem Frühstück gerade an Deck, um den diensthabenden Maat abzulösen – sehr anständiger Kerl namens Mathews, groß und gut gebaut, nicht viel älter als ich selbst, aber ein bisschen übernervös, wie ich bald merken sollte.

„Da ist ein Ding, sieht komisch aus – dort drüben“, meinte er, als ich mich zu ihm gesellte. Er starrte durchs Fernglas und reichte es mir nach einer Weile. „Scheint so, als wär es nicht unter Kontrolle“, sagte er.

Ich starrte selbst durch die Gläser und sah eine kleine Barkentine in einiger Entfernung vor uns, die unseren Kurs offensichtlich bald nahe am Bug kreuzen würde. Sie war unter vollen Segeln und die hinteren Ausleger schlenkerten abenteuerlich hin und her, augenscheinlich gierte das Schiff im Zickzack durch die See. Ich konnte kein Lebenszeichen an Bord bemerken, auch am Steuer war niemand zu sehen. Ich riet Mathews, besser den Käpt’n zu rufen.

„Hab ihn schon benachrichtigen lassen“, meinte er, und so fuhren wir beide fort, das seltsame Schiff zu beobachten, bis der Kapitän an Deck kam. Die morgendliche See war ruhig, mit leichtem Wind von Süden her. Kein Seegang, nur ölige, flache Wellen von fast flaschengrüner Farbe, der Himmel klar und blau mit ein paar Wolken am Horizont. Außerdem war’s warm, aber ich erinnere mich, dass ich mich unwohl fühlte, leicht fröstelte, fast so, als hätte ich eine Vorahnung von dem, was kommen sollte. Der Käpt’n kam an Deck, sich seine Augen reibend, denn er hatte lange geschlafen, und er riss dem Maat das Fernglas mit barscher Ungeduld aus der Hand.

 

„Was gibt’s jetzt wieder?“, schnaubte er schlecht gelaunt und starrte eine geraume Zeit lang durch die Gläser. Dann meinte er: „Dunnerlittchen, sieht aus, als wär es verlassen …!“, und ich erkannte am Klang seiner Stimme, dass er ziemlich begeistert war in Erwartung des fetten Bergungsgeldes.

Naja, um es kurz zu machen, wir drehten bei und der Käpt’n sandte den Maat und mich im Boot aus, zusammen mit vier unserer Männer. Wir ruderten unter dem Heck des Schiffs entlang und lasen dessen Namen, gemalt in weißen Lettern: ROBERT SUTTER – SAN FRANCISCO. Und es brauchte keinen zweiten Blick, um zu sehen, dass es wirklich und wahrhaftig verlassen war.

Einer unserer Männer kletterte mittschiffs über die Reling, als sie in unsere Richtung gierte, und warf uns eine Leine zu, damit der Rest von uns sich hochziehen konnte. Wir ließen zwei Mann im Boot und fingen an, unseren Fang zu inspizieren. Die restlichen vier von uns teilten sich auf: Zwei sollten das Vorderdeck durchsuchen, während Mathews und ich uns den hinteren Teil vornahmen.

Das war ziemlich merkwürdig; ich schwöre, ich hatte am ganzen Körper Gänsehaut, und zwar vom ersten Moment an, als ich einen Fuß auf das Deck der ROBERT SUTTER setzte. Da war etwas so … Einsames um sie, so etwas – wie soll ich’s nur beschreiben? – Unheimliches …

Wir konnten es an ihren Bewegungen spüren: Sie hatte keinen Wasserschaden. Die erste oberflächliche Untersuchung lieferte kein Anzeichen für ein Feuer. Sie war blitzsauber und anscheinend erst vor kurzem neu gestrichen worden. Jedes Tau, jedes Seil war an seinem Platz und ihre zwei Beiboote lagen sicher verkeilt vor dem Kombüsenhaus. Wir durchsuchten das Schiff von oben bis unten und entdeckten nicht das kleinste Anzeichen von Leben, außer, in einem Eisenkäfig, der außen an der Kombüse hing, einem Papagei.

Der Vogel war in einem elenden Zustand. Er kauerte auf dem Käfigboden, halb auf der Seite liegend und heftig zitternd, seine Augen verschleiert und fast geschlossen. Bei näherem Hinsehen schien es ein sehr altes Tier zu sein – es war fast kahl. Er reagierte nicht auf uns, als wir uns näherten. „Der braucht Wasser“, meinte Mathews, und er hatte Recht. Denn nachdem wir ihm welches gebracht hatten, schlürfte er es gierig auf und wir setzten unsere Suche fort.

Nahe der Brücke, an der Steuerbordseite, entdeckten wir einen Kadaver, der einmal eine Katze gewesen sein musste. Das Vieh war plattgequetscht – platt wie ein Pfannkuchen, sage ich Ihnen! Es waren nur noch eine dünne Schicht Fell und getrocknetes Fleisch übrig und all das klebte buchstäblich an den Planken. Aber nichts deutete darauf hin, wie das Biest getötet worden war, und zu diesem Zeitpunkt hielten wir uns auch nicht weiter damit auf, es herauszufinden. Wir hatten ja den Auftrag, rasch alles abzusuchen und dann zur DOYON zurückzukehren, um unseren Bericht abzustatten, Sie erinnern sich.

Tja – im Speigatt rechts gegenüber der Backbord-Kombüsentür fanden wir noch einen Revolver, ein glänzendes Nickel-Ding, etwas angerostet, alle Patronen abgefeuert. Und das war alles, ausgenommen der Gestank, der über dem ganzen Schiff hing. Eine sonderbare Art Gestank – irgendwie … vertrocknet. Sie kennen das vielleicht, diesen fischigen Seegrasgeruch am Ufer, der vom Schlamm aufsteigt, wenn die Flut zurückgeht. Aber selbst das nahmen wir in diesem Moment nur oberflächlich wahr.

Na, jedenfalls, das war’s auch schon, wie gesagt. Die Schiffsladung bestand aus geschnittenem Bauholz, wie wir beim Öffnen der Luken feststellten, und als wir nach Lecks suchten, fanden wir nur das übliche wenige Brackwasser, das bei jedem normalen Schiff durch die Fugen sickert. Das war alles ziemlich mysteriös, und wenn Sie sich ausmalen, wie wir da über das schwankende Deck stapften mit den über uns knarrenden Masten, den donnernden und knatternden Segeln, Steuer und Ruder leise knirschend, jedes Einzelteil, jedes Seil ächzend auf eigene Weise, nicht eine Seele an Bord … dann verstehen Sie vielleicht, wie uns zumute war.

Mathews wurde ziemlich hibbelig, bevor wir mit unserer Inspektion fertig waren, und ich bemerkte, dass er sich öfter den Schweiß vom Gesicht wischte.

Schließlich ruderten wir wieder rüber zur DOYON und machten unseren Bericht, aber der Käpt’n nahm uns nicht besonders für voll.

„Es muss ein drittes Beiboot gegeben haben“, meinte er sorglos. „Sie dachten wahrscheinlich, sie sinken oder sowas in der Art und sind runter vom Kahn. Ich hab schon ganze Schiffscrews in Panik erlebt. Kein Zeichen für Krankheit, keine Leichen? Na, seht ihr, da ist nichts, wovor man sich fürchten muss!“

Ja, er gab zu, es war komisch, dass wir alles in bester Ordnung vorgefunden hatten und dass noch alle Navigationsinstrumente an Bord waren. Selbst bei einer Panik vergessen erfahrene Kapitäne und Schiffsoffiziere für gewöhnlich ihr wichtigstes Werkzeug nicht. Und dann war da auch noch das Logbuch, das wir mitgebracht hatten. Keine Andeutung von irgendwas Sonderbarem. Der letzte Eintrag lag vier Tage zurück und berichtete nur von gutem Wetter. Ich erinnere mich, dem Käpt’n vorgehalten zu haben, vermutlich würde keine Crew bei ruhigem Wetter das Schiff verlassen, ohne das Logbuch und die Schiffspapiere mitzunehmen, aber er fegte alle diese Bedenken beiseite. Er war ein Mann ohne jegliche Vorstellungskraft und dachte nur an sein Bergungsgeld.

„Ich geb dir sechs Mann“, sagte er zu Mathews, „und du kannst den Dritten Maat mitnehmen. Bring sie nach Callao, und da können wir dann den ganzen Papierkram mit den Hafenbehörden erledigen.“

Mathews war kein bisschen begeistert von diesem Befehl, obwohl die meisten Maate vor Freude aus dem Häuschen gewesen wären bei der Aussicht, sich’s selbst auf einem anderen Schiff bequem zu machen und da den Kapitän zu spielen, wenn auch nur für kurze Zeit.

„Das Ganze gefällt mir nicht, Sir“, murrte er. „Da ist etwas faul an der Sache!“