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1. Teil „Ein Rundflug“ › C. Wie schreibe ich es auf?

C. Wie schreibe ich es auf?

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Ihre Klausuren müssen – wie Urteile und anwaltliche Gutachten auch! – nicht nur inhaltlich, sondern auch stilistisch überzeugen. Um den richtigen Stil zu finden, hilft wirklich nur eines: üben, üben, üben! Das ist so und einfach nicht zu ändern.

Am Anfang mag das nerven – zugegeben. Das liegt aber meistens an einer falsch verstandenen Auffassung vom sog. „Gutachtenstil“. Dieser ist keinesfalls stur bei jedem Tatbestandsmerkmal durchzuhalten. Ansonsten kann dies zu seitenweisen Ausführungen führen, die erkenntnisarm und an Ödnis nicht zu überbieten sind:

Hier ist doch einiges überflüssig – oder? Zur besseren Variante kommen wir unter Rn. 52.

Beispiel

„Dem A könnte ein Anspruch gegen B auf Schadensersatz aus § 823 Abs. 1 zustehen. Dann müsste der B vorsätzlich oder fahrlässig das Leben, den Körper, die Gesundheit, die Freiheit, das Eigentum oder ein sonstiges Recht des A durch ein zurechenbares Verhalten widerrechtlich verletzt haben.

Im vorliegenden Fall wurde der Kotflügel des Autos infolge eines Fußtritts von B eingedrückt.

Als Rechtsgutsverletzung kommt deshalb die Verletzung des Eigentums von A in Betracht. Eine Eigentumsverletzung liegt vor, wenn auf eine im fremden Eigentum stehende Sache derart eingewirkt wird, dass sie in ihrer Substanz beeinträchtigt, ihr Besitz entzogen oder ihr bestimmungsgemäßer Gebrauch nicht nur kurzfristig vereitelt wird.

Das Auto müsste zunächst eine Sache sein. Sachen sind nach § 90 im Unterschied zu Rechten körperliche Gegenstände. Körperlich ist ein Gegenstand dann, wenn er im Raum abgrenzbar ist, entweder durch eigene körperliche Begrenzung, durch Fassung in einem Behältnis oder durch sonstige künstliche Mittel wie zum Beispiel Grenzsteine. Ein Auto ist ein durch seine Karosserie im Raum abgegrenzter Gegenstand. Es könnte im Übrigen auch in ein großes Behältnis (z.B. Container) gefasst werden. Ein Auto stellt deshalb eine Sache i.S.d. § 90 dar.

Durch Eindrücken des Kotflügels infolge des Fußtritts des B könnte die Substanz des Autos beeinträchtigt worden sein. Eine Substanzbeeinträchtigung liegt dann vor, wenn (. . .)“

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Die richtige Gewichtung ist für einen guten Stil unerlässlich. Sie werden feststellen, dass die Anfertigung juristischer Gutachten Spaß machen kann. Sie müssen sich immer fragen: Wie argumentiere ich geschickt, wo lege ich meine Schwerpunkte, was stelle ich kurz und knapp dar und was kann ich ganz weglassen?

Folgende Grundregeln sollten Sie dabei unbedingt beherzigen:

1. Teil „Ein Rundflug“ › C. Wie schreibe ich es auf? › I. Gesetz ernst nehmen

I. Gesetz ernst nehmen

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Halten Sie sich bei der Begutachtung zunächst streng an das Gesetz, und zwar an jedes einzelne Wort. Schließlich ist der Richter nach Art. 20 Abs. 3 GG an „Gesetz und Recht“ gebunden. Die meisten Fehler entstehen durch Übersehen einzelner Tatbestandsmerkmale. Sie müssen das Gesetz immer wieder durchlesen, auch wenn es sicher spannendere Lektüre gibt. Es hilft nichts. Die spezielle Norm genießt im Ausgangspunkt den Vorrang vor allgemeinen Gerechtigkeitserwägungen. Das Normargument kann selbstverständlich keine Exklusivität für sich in Anspruch nehmen, da Generalklauseln (z.B. §§ 138, 242) und methodische Instrumente existieren, um Ergebnisse des positiven Rechts mit einzelfallbezogenen Gerechtigkeitserwägungen korrigieren zu können (siehe dazu IX.: „Nagelprobe“, Rn. 54). Einer solchen Korrektur sind jedoch Grenzen gesetzt, da stets die Gewaltenteilung zu beachten ist. Sie dürfen das Gesetz also nicht voreilig allgemeinen Gerechtigkeitserwägungen opfern. Der BGH hat dies im Einklang mit der Rechtsprechung des BVerfG so formuliert – es ging um den Anspruch des Verkäufers auf Nutzungsentschädigung aus § 346 Abs. 1 Hs. 2 Var. 2, Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. § 439 Abs. 5:[1]

„Eine einschränkende Auslegung des § 439 Abs. 4 [Anm.: jetzt § 439 Abs. 5] dahin, dass die Verweisung auf die Rücktrittsvorschriften nicht auch einen Anspruch des Verkäufers auf Nutzungsvergütung begründet, widerspräche somit dem Wortlaut und dem eindeutig erklärten Willen des Gesetzgebers. Eine solche Auslegung ist unter Berücksichtigung der Bindung der Rechtsprechung an Recht und Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG) nicht zulässig (BVerfGE 71, 81, 105; 95, 64, 93). Die Möglichkeit der Auslegung endet dort, wo sie mit dem Wortlaut und dem klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers in Widerspruch treten würde (BVerfGE 18, 97, 111; 98, 17, 45; 101, 312, 319).“

1. Teil „Ein Rundflug“ › C. Wie schreibe ich es auf? › II. System abbilden

II. System abbilden

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Durch Ihre Sprache sollten Sie immer das System der Anspruchsgrundlagen, Einwendungen und Einreden abbilden.

Rechtshindernde und rechtsvernichtende Einwendungstatbestände sowie Einreden führen Sie am besten immer mit der jeweiligen Rechtsfolgenformulierung des Gesetzes in das Gutachten ein. Jedes neue Thema im Gutachten wird also mit der Rechtsfolge des einschlägigen Einwendungs- oder Einredetatbestandes vorgestellt. Das macht in zweierlei Weise Sinn: Der Leser weiß sofort, warum Sie das Thema jetzt ansprechen. Er erkennt auf Anhieb die Bedeutung dieses Prüfungspunktes. Außerdem bekommt Ihr Gutachten durch eine Übernahme der Gesetzessprache die gewünschte Gesetzestreue (Regel I) und Präzision (Regel III).

Formulierungsbeispiel

„(…) Ein Vertrag wurde somit zwischen A und B geschlossen. Möglicherweise ist der Vertrag aber wegen Verstoßes gegen die guten Sitten nach § 138 Abs. 1 nichtig. Dafür spricht hier, dass (…) Dem steht allerdings entgegen, dass (…) Eine Nichtigkeit des Vertrages nach § 138 Abs. 1 scheidet damit im Ergebnis aus. Sonstige rechtshindernde Einwendungen sind nicht ersichtlich. Der Anspruch ist damit entstanden.

Der Anspruch könnte aber durch Aufrechnung des B nach § 389 erloschen sein. Dies erfordert zunächst, dass …“ oder

„Der Anspruch könnte aber gem. § 326 Abs. 1 S. 1 Hs. 1 wegen Leistungsbefreiung des A wieder entfallen sein. Dies setzt voraus, dass …“

Wenn Sie die Tatbestandsvoraussetzungen einer Anspruchsgrundlage oder eines Einwendungstatbestandes prüfen, wird der Obersatz eingeleitet mit Formulierungen wie zum Beispiel

„Dies setzt voraus, dass …“

„Erforderlich ist dafür, dass …“

„Das ist nur dann der Fall, wenn …“

Besteht ein Tatbestand aus verschiedenen Merkmalen, von denen einige sorgfältiger geprüft werden müssen, empfiehlt es sich, je einen Obersatz für die einzelnen erörterungsbedürftigen Teilmerkmale zu bilden. Sie müssen dann bei jedem Obersatz deutlich machen, dass es sich nur um ein Teilmerkmal handelt.

Formulierungsbeispiele

„Dies setzt zunächst voraus, dass … (Prüfung und Zwischenergebnis)

Der Tatbestand erfordert weiter, dass … (Prüfung und Zwischenergebnis)

Schließlich muss auch noch … (Prüfung und Ergebnis)“

1. Teil „Ein Rundflug“ › C. Wie schreibe ich es auf? › III. Präzision im Ausdruck/Exakte Zitierweise

III. Präzision im Ausdruck/Exakte Zitierweise

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Eine klare Strukturierung und eine präzise Sprache sind die wichtigsten Werkzeuge des Juristen.

Bleiben Sie im Satzbau und in der Sprache so einfach, klar und genau wie möglich. Ihre Formulierungen dürfen nicht mehrdeutig sein und müssen Ihren Gedanken genau abbilden. Überlegen Sie immer genau, was Sie mit dem nächsten Satz eigentlich sagen wollen und ob Ihnen das dann auch gelungen ist.

Normen sind ganz exakt zu zitieren, und zwar mit Absatz, Satz, Halbsatz, Variante, Nummer, Buchstabe, etc.

Beispiel

Das in Klausuren häufig anzutreffende Zitat: „Anspruch aus § 812“ genügt dieser Regel nicht. Zum einen besteht § 812 aus zwei Absätzen. Zum anderen fasst der erste Absatz in zwei Sätzen ganz verschiedene Anspruchsgrundlagen sprachlich zusammen. Im Falle der „condictio indebiti“ muss es also heißen: „§ 812 Abs. 1 S. 1 Var. 1“.

1. Teil „Ein Rundflug“ › C. Wie schreibe ich es auf? › IV. Übersichtliche Struktur

IV. Übersichtliche Struktur

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Gliedern Sie Ihr Gutachten nach den einzelnen Personenbeziehungen, den Anspruchszielen, den Anspruchsgrundlagen und den einzelnen Prüfungsschritten in der Anspruchsprüfung. Tun Sie alles, damit der Korrektor sich in Ihrem Text gut zurecht findet. Sie stimmen ihn dadurch freundlich, und das spielt bei der Bewertung – ob bewusst oder unbewusst – natürlich eine Rolle.

1. Teil „Ein Rundflug“ › C. Wie schreibe ich es auf? › V. Obersatz und Ergebnis

V. Obersatz und Ergebnis

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Jeder juristische Prüfungsschritt in einem Gutachten beginnt mit einem Obersatz (These). Dann folgt die Überprüfung anhand des Sachverhalts und am Ende das Ergebnis. Obersatz und Ergebnis müssen sich entsprechen. Kein Ergebnis ohne Obersatz und kein neuer Obersatz ohne Ergebnis zum vorherigen Obersatz!

1. Teil „Ein Rundflug“ › C. Wie schreibe ich es auf? › VI. Keine logischen Widersprüche

VI. Keine logischen Widersprüche

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Widersprüchliche Aussagen sind verboten. Meistens liegt der Grund für logische Widersprüche in einem Gutachten daran, dass nicht mehr begründbare Wunschergebnisse doch noch irgendwie erreicht werden sollen. Ein als „wahrscheinlich richtig“ empfundenes Ergebnis soll auf Biegen und Brechen erreicht werden, ohne Rücksicht auf logische Verluste. Mit Widersprüchen in den eigenen Ausführungen kann man niemanden überzeugen, schon gar nicht den Korrektor. Logische Widersprüche in der eigenen Argumentation oder Widersprüche zu Normtexten werden – zu Recht – sehr streng mit Punktabzügen bewertet. Zu Recht deshalb, weil es sich um leicht vermeidbare Fehler handelt, die nichts mit den eigentlichen juristischen Problemen zu tun haben.

1. Teil „Ein Rundflug“ › C. Wie schreibe ich es auf? › VII. Richtig wichtig

VII. Richtig wichtig

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Sorgen Sie für die richtige Gewichtung Ihrer Ausarbeitung. Anspruchsgrundlagen, deren Rechtsfolge das Begehren des Anspruchstellers offensichtlich nicht abdecken, dürfen im Gutachten nicht erwähnt werden. Das wäre überflüssig.

Entsprechendes gilt für Anspruchsgrundlagen, Einwendungen und Einreden, deren Tatbestand der Sachverhalt offensichtlich nicht erfüllt.

Bei konkurrierenden Ansprüchen ohne Auswirkungen auf das Ergebnis können Sie sich kurz fassen.

Außerdem dürfen Sie sich bei einzelnen Tatbestandsmerkmalen, die nach dem Sachverhalt ganz unproblematisch erfüllt sind, mit einer knappen Feststellung begnügen. Zum Problempunkt leiten Sie dann durch eine Formulierung wie etwa: „Fraglich ist allein/aber/hingegen …“ über.

Beispiel

In Anlehnung an das Formulierungsbeispiel in Rn. 44: „Dem A könnte gegen den B ein Anspruch aus § 823 Abs. 1 auf Schadensersatz wegen Eigentumsverletzung zustehen.

Eine Eigentumsverletzung in Form einer Substanzbeeinträchtigung liegt vor, da der Kotflügel des Autos durch den Fußtritt des B eingedrückt wurde. Fraglich ist aber, ob der Wagen zu diesem Zeitpunkt überhaupt im Eigentum des A stand. Laut Sachverhalt stand der Wagen ursprünglich im Eigentum des E. Zu prüfen ist deshalb, ob A vor der Beschädigung das Eigentum am Wagen erworben hat. In Betracht kommt ein Erwerb gem. § 929 S. 1 durch Rechtsgeschäft mit C …“

1. Teil „Ein Rundflug“ › C. Wie schreibe ich es auf? › VIII. Keine „Wissensleier“

VIII. Keine „Wissensleier“

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Wenn Sie Punkte als problematisch erkannt haben, müssen Sie diese diskutieren und entscheiden. Ihre Entscheidung müssen Sie dann begründen. Als Begründung reicht selten ein einziger Satz, da Sie Pro und Contra abwägen sollen. Es genügt in der Regel auch kein Hinweis auf „die h.M.“ oder „den BGH“. Entwickeln Sie die Argumente möglichst mit eigenen Worten (kein stures „Herunterleiern“ auswendig gelernten Wissens!). Wenn Sie dazu imstande sind, zeigen Sie, dass Sie das Thema auch wirklich verstanden haben!

Aber: Bitte verwenden Sie keine persönlichen Wendungen wie „meines Erachtens“ oder „nach meiner Ansicht“. Dergleichen ist in juristischen Gutachten verpönt, da Sie die Rechtslage nicht aus Ihrer persönlichen Sicht der Dinge, sondern mit dem Blick von Rechtsprechung und Lehre begutachten sollen. Sie müssen sich mit Ihrer Meinung daher hinter (scheinbar) objektiven Formulierungen wie

„Diese Sichtweise verdient den Vorzug, weil …“;

„Eine solche Betrachtung ist aber abzulehnen, weil …“

zurückziehen.

1. Teil „Ein Rundflug“ › C. Wie schreibe ich es auf? › IX. „Nagelprobe“

IX. „Nagelprobe“

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Sie müssen von Ihrem Ergebnis überzeugt sein.

Ein erstes Gefühl (Judiz) wird sich bei Ihnen nach der Erfassung des Sachverhalts eingestellt haben: Das kann der A vom B verlangen, jenes sicher nicht.

Nun lösen Sie sich von diesem Gefühl (soweit es eben geht) und prüfen „emotionslos“ jeden Punkt durch. Dann kommt die Nagelprobe: Stimmt das Endergebnis mit Ihrem ersten Gefühl überein?

Wenn ja, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass Ihre Prüfung im Einklang mit den wesentlichen Normen steht. Widerspricht Ihr Ergebnis jedoch Ihrem ersten Gefühl (Motto: „Das kann ja wohl nicht richtig sein!“), gibt es mehrere Möglichkeiten:

Ihre Prüfung könnte Sie zu Gesichtspunkten geführt haben, die Sie bei näherer Betrachtung doch von dem abweichenden Ergebnis überzeugen. Sie hatten bei Ihrer ersten Einschätzung einfach verschiedene Aspekte nicht bedacht und haben sich nun eines Besseren belehren lassen.

Wenn dies nicht der Fall ist, müssen Sie noch einmal jeden Punkt durchgehen. Möglicherweise haben Sie Anspruchsgrundlagen, Einwendungen oder Einreden übersehen und noch gar nicht geprüft.

Werden Sie auch insoweit nicht fündig, überlegen Sie doch einmal, ob es vertretbare methodische Möglichkeiten für eine Ergebniskorrektur gibt. Häufig sind gerade durch diese Erwägungen viele Punkte zu holen.

Sie könnten das Ergebnis vielleicht mittels einer analogen Anwendung einer anderen Norm ändern. Dazu müsste eine planwidrige Regelungslücke bestehen und der Gesetzgeber die andere Norm bei plangemäßer Regelung auch für diesen Fall entsprechend aufgestellt haben.[2]

Umgekehrt besteht die Möglichkeit, dass der Wortlaut einer von Ihnen angewendeten Norm zu weit geht und Sie den Anwendungsbereich der Norm nachträglich reduzieren wollen. Sie möchten die Norm also doch nicht auf Ihren Fall anwenden. Die Reduktion müsste dann nach Sinn und Zweck der Norm geboten sein. Man nennt diesen Vorgang auch „teleologische Reduktion“.[3]

Schließlich bleibt in besonderen Fällen die Möglichkeit einer Korrektur nach Treu und Glauben (§ 242), zum Beispiel wegen unzulässiger Rechtsausübung aufgrund widersprüchlichen Verhaltens.

1. Teil „Ein Rundflug“ › C. Wie schreibe ich es auf? › X. Auswertung der „Musterlösung“

X. Auswertung der „Musterlösung“

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Auch Juristen kochen nur mit Wasser. Die Tatsache, dass Sie mit Ihrem Gutachten mal neben der sog. „Musterlösung“ gelegen haben, lässt noch keine Rückschlüsse auf Ihre juristischen Fähigkeiten zu. Entscheidend ist, ob die von Ihnen vertretene Auffassung anhand des Gesetzes und bei Anwendung der methodischen Grundregeln vertretbar ist. Um das herauszufinden, müssen Sie Ihre Arbeiten sorgfältig mit der Musterlösung abgleichen. Prüfen Sie, welche Fehler auf Unaufmerksamkeit beruhten, welche Fehler die Folge fehlenden Wissens oder falschen Verständnisses von Normen und Normzwecken waren. Es verbleiben dann möglicherweise noch Feststellungen, welche Ihrer Meinung auch anders gesehen werden können. Hat Ihnen ein Korrektor solche Punkte ohne nähere Begründung als Fehler angekreidet, sollten Sie diesen Punkt mit ihm diskutieren. Auch Korrektoren machen Fehler und sich ihre Sache bei abweichenden Lösungsansätzen gelegentlich etwas zu einfach.


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Anmerkungen

[1]

Vorlagebeschluss zum EuGH vom 16. August 2006 (Az: VIII ZR 200/05) = NJW 2006, 3200. Der Gesetzgeber hat das Thema für den Verbrauchsgüterkauf durch § 475 Abs. 3 S. 1 n.F. erledigt. Wir werden den Fall im Kaufrecht näher behandeln.

[2]

Palandt-Ellenberger Einl. v. § 1 Rn. 48.

[3]

Palandt-Ellenberger Einl. v. § 1 Rn. 49.

2. Teil Die Funktion und Struktur von Rechtsgeschäften

Inhaltsverzeichnis

A. Rechtsgeschäft und Privatautonomie

B. Definition des Rechtsgeschäfts

C. Einteilung von Rechtsgeschäften

D. Aufbau von Rechtsgeschäften

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Wie wir auf unserem Rundflug im vorhergehenden Abschnitt gesehen haben, spielt das Rechtsgeschäft auf jeder Ebene der Anspruchsprüfung offenbar eine wichtige Rolle.

Betrachten wir nun die Funktion und Struktur des Rechtsgeschäfts etwas genauer.

2. Teil Die Funktion und Struktur von Rechtsgeschäften › A. Rechtsgeschäft und Privatautonomie

A. Rechtsgeschäft und Privatautonomie

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Jede rechtsfähige Person ist in der Gestaltung ihrer rechtlichen Verhältnisse grundsätzlich frei. Jede Person gestaltet ihre Rechtsbeziehungen autonom, d.h. selbstständig, nach ihrem eigenen Willen und unabhängig vom Staat. Diese Freiheit der Selbstbestimmung des Einzelnen im Rechtsleben nennen wir Privatautonomie.[1] Die Privatautonomie ist als Ausdruck unserer allgemeinen Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich gewährleistet und geschützt.[2]

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Aus der in den Grundrechten verankerten Gewährleistung der Privatautonomie folgt, dass der Gesetzgeber dem Einzelnen Gestaltungsmittel zur Verfügung stellen muss, deren Ergebnisse als rechtsverbindlich zu behandeln sind und auch im Streitfall gerichtlich durchsetzbare Rechtspositionen begründen. Nur dann steht der Grundsatz der Privatautonomie nicht nur auf dem Papier, sondern wird als rechtliche Gestaltungsmacht tatsächlich gewährleistet.

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Das in unserer Rechtsordnung vorgesehene Mittel, mit dem eine Person ihre Privatautonomie ausüben und so ihre zivilrechtlichen Verhältnisse selbstständig und frei gestalten kann, ist das Rechtsgeschäft.[3] Mit ihm kann eine Person nach ihrem Willen rechtlich verbindliche „Wirkungen“ (vgl. § 158) schaffen, also zum Beispiel Ansprüche begründen, aufheben, abtreten, Eigentum übertragen, Verträge anfechten, kündigen oder durch Rücktritt auflösen.

Beispiel

Nehmen wir als Beispiel für unsere Betrachtung einen Kaufvertrag:

Der Kaufvertrag i.S.d. § 433 ist ein Rechtsgeschäft mit dem Ziel der Begründung eines Anspruchs auf Übereignung und Übergabe einer mangelfreien Sache einerseits und eines Anspruchs auf Kaufpreiszahlung andererseits;

die Anfechtung eines Kaufvertrages ist das Rechtsgeschäft zum Zwecke der Vernichtung des Kaufvertrages (§ 142 Abs. 1) wegen Willensmängeln eines Vertragspartners;

die Aufrechnung des Käufers gegen die Kaufpreisforderung verfolgt das Ziel der Tilgung der Kaufpreisforderung ohne Zahlung durch Verrechnung mit einer Gegenforderung;

der Rücktritt des Käufers vom Kaufvertrag führt zur Rückabwicklung des Vertrages nach §§ 346 ff. – etwa wegen eines Mangels des Kaufgegenstandes (§§ 437 Nr. 2, 323);

mit der Abtretung (§ 398) wird eine Forderung aus dem Kaufvertrag an einen Dritten übertragen;

die Übertragung des Eigentums am Kaufgegenstand auf den Käufer zum Zwecke der Erfüllung der Verkäuferpflicht gem. § 433 Abs. 1 geschieht durch das Rechtsgeschäft der Übereignung gem. §§ 929 ff. oder §§ 873, 925;

durch Vereinbarung einer Stundung der Kaufpreisforderung zwischen Verkäufer und Käufer wird die Fälligkeit der Forderung verschoben.

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Die verfassungsrechtliche Gewährleistung der Privatautonomie begründet eine Pflicht des Gesetzgebers, „die Privatautonomie so auszugestalten, dass der Selbstbestimmung des Einzelnen im Rechtsleben ein angemessener Betätigungsraum eröffnet wird.“[4] Das BVerfG stellt bei der verfassungsrechtlich gebotenen Ausgestaltung der Privatautonomie aber nicht nur den Aspekt der Gewährleistung aktiver Teilnahme, sondern daneben auch die Schutzaufgabe des Staates in den Vordergrund – das BVerfG formuliert das so:[5]

„Mit der Pflicht zur Ausgestaltung der Privatrechtsordnung stellt sich dem Gesetzgeber ein Problem praktischer Konkordanz. Am Zivilrechtsverkehr nehmen gleichrangige Grundrechtsträger teil, die unterschiedliche Interessen und vielfach gegenläufige Ziele verfolgen. Da alle Beteiligten des Zivilrechtsverkehrs den Schutz des Art. 2 Abs. 1 GG genießen und sich gleichermaßen auf die grundrechtliche Gewährleistung ihrer Privatautonomie berufen können, darf nicht nur das Recht des Stärkeren gelten. Die kollidierenden Grundrechtspositionen sind in ihrer Wechselwirkung zu sehen und so zu begrenzen, dass sie für alle Beteiligten möglichst weitgehend wirksam werden. (…) Allerdings kann die Rechtsordnung nicht für alle Situationen Vorsorge treffen, in denen das Verhandlungsgleichgewicht mehr oder weniger beeinträchtigt ist. Schon aus Gründen der Rechtssicherheit darf ein Vertrag nicht bei jeder Störung des Verhandlungsgleichgewichts nachträglich in Frage gestellt oder korrigiert werden.

Handelt es sich jedoch um eine typisierbare Fallgestaltung, die eine strukturelle Unterlegenheit des einen Vertragsteils erkennen lässt, und sind die Folgen des Vertrages für den unterlegenen Vertragsteil ungewöhnlich belastend, so muss die Zivilrechtsordnung darauf reagieren und Korrekturen ermöglichen. Das folgt aus der grundrechtlichen Gewährleistung der Privatautonomie (Art. 2 Abs. 1 GG) und dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1 GG).“

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Unsere Rechtsordnung muss also zum einen jedem die Teilnahme am Rechtsverkehr ermöglichen, also nicht nur denjenigen, die juristisch und kaufmännisch geschult sind. Und sie muss diejenigen schützen, denen typischerweise eine vernünftige und sachgerechte Vornahme eines Rechtsgeschäfts allgemein oder in bestimmten Situationen verwehrt ist. Diese Menschen sollen dann vor den wirtschaftlichen Nachteilen angemessen bewahrt werden, die durch eigene unvernünftige Rechtsgeschäfte entstehen können (Ausfluss des Sozialstaatsprinzips). Die privatautonome Gestaltungsfreiheit ist somit nicht grenzenlos. Der Gesetzgeber setzt der Gestaltungsfreiheit des Einzelnen zum Schutz anderer Personen Schranken. Die rechtlichen Wirkungen eines Rechtsgeschäfts sind daher nur verbindlich, soweit das Rechtsgeschäft nicht Grenzen überschreitet, die der Gesetzgeber aus Schutzgründen gesetzt hat.

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Der Gesetzgeber kommt diesen Regelungsaufgaben mit unterschiedlichen Instrumenten nach.

Zum einen schafft er „dispositive Normen“, man spricht auch von „nachgiebigen“ Normen. Diese Normen stehen „zur Disposition“, man kann sich also über die dort getroffenen Regelungen hinwegsetzen und etwas anderes bestimmen. Mit solchen dispositiven Normen will der Gesetzgeber Regeln zur Verfügung stellen, die typischerweise für einen angemessenen und fairen Interessenausgleich sorgen. Sie gelten, wenn nichts Abweichendes vereinbart ist und dem beiderseitigen Parteiwillen nicht erkennbar widersprechen.[6] Ohne solche Normen müssten wir bei allen Verträgen stets eigene Regeln formulieren und verhandeln. Diejenigen, die juristisch und kaufmännisch ungebildet sind, wären damit schnell überfordert und klar im Nachteil. Es gäbe außerdem keine schnelle Abwicklung von Geschäftsvorgängen mehr und unsere Rechts- und Wirtschaftsordnung wäre im wahrsten Sinne des Wortes lahmgelegt.

Beispiel

Beim alltäglichen Einkauf bestimmen Verkäufer und Käufer regelmäßig nur den Kaufgegenstand und den Kaufpreis. Alles andere wird nicht verhandelt. Ohne die dispositiven Regelungen im BGB wäre ein solcher Vorgang höchst riskant. Wann muss der Käufer den Preis bezahlen und was ist, wenn der ihn nicht bezahlt? Hier helfen die § 271 (Fälligkeit und Erfüllbarkeit), §§ 280 ff. (Schadensersatz bei Leistungsverzögerung) und §§ 320 ff. (Zurückbehaltungs- und Rücktrittsrecht).

Was passiert, wenn die gekaufte Sache mangelhaft ist und für welche Mängel haftet der Verkäufer? Hier helfen die §§ 434 ff. (Rechte des Käufers bei Mängeln).

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Allein mit dispositiven Normen kann der Gesetzgeber aber die strukturell unterlegenen Personen nicht davor schützen, im Einzelfall „über den Tisch gezogen zu werden“. Denn der stärkere oder zumindest erfahrenere Partner wird ja dafür sorgen, dass im Vertrag von den dispositiven Regeln abgewichen und etwas für ihn Günstigeres vereinbart wird, insbesondere durch Einsatz Allgemeiner Geschäftsbedingungen (AGB).

Immer dann, wenn der Gesetzgeber mit bestimmten Vorgaben den Schutz einzelner Personenkreise sicherstellen will, ordnet er diese mit zwingenden Regelungen[7] an. „Zwingend“ bedeutet, dass jede Person gezwungen ist, diese Regelung zu beachten und durch Rechtsgeschäft nichts Abweichendes wirksam bestimmen kann. Manchmal sieht der Gesetzgeber Heilungsmöglichkeiten vor, wenn der Schutzzweck für die Nichtigkeit entfallen ist. Der Schutzzweck und etwaige Heilungsmöglichkeiten werden in dieser Skriptenreihe bei dem jeweiligen Tatbestand dargestellt.

Beispiel

Eben haben wir gesehen, dass für den Kaufvertrag eine Fülle dispositiver Vorschriften gelten. Aber auch viele zwingende Vorschriften finden auf ihn Anwendung:

So kann ein Kaufvertrag durch Willenserklärungen eines Geschäftsunfähigen wegen § 105 Abs. 1 nicht zustande kommen.

Ein wucherischer Kaufvertrag ist nach § 138 Abs. 2 (unheilbar) nichtig.

Für den Grundstückskauf gilt die in § 311b Abs. 1 S. 1 angeordnete notarielle Beurkundung. Ein ohne Beachtung dieser Form geschlossener Vertrag ist nichtig (§ 125 S. 1), kann aber immerhin dann wirksam werden, wenn die Auflassung und Eintragung im Grundbuch erfolgen (§ 311b Abs. 1 S. 2).

Die Haftung wegen Vorsatzes können weder Verkäufer noch Käufer im Vertrag ausschließen (§ 276 Abs. 3).

Sofern zwingende Vorschriften vorsehen, dass nur Abweichungen zu Lasten einer Partei unwirksam sind, spricht man auch von „einseitig-zwingenden“ Vorschriften.[8]

Beispiel

Nach § 444 kann sich der Verkäufer, soweit er den Mangel arglistig verschwiegen oder eine Garantie für die Beschaffenheit der Sache übernommen hat, nicht auf eine Vereinbarung berufen, durch welche die Rechte des Käufers wegen eines Mangels ausgeschlossen oder beschränkt werden.

Bei einem Verbrauchsgüterkauf i.S.d. § 474 BGB ist der Verkäufer („Unternehmer“) über § 444 hinaus noch viel weitreichender gehindert, die Rechte des Käufers („Verbraucher“) wegen Mängeln zu beschränken. Dies ergibt sich aus der einseitig-zwingenden Vorschrift des § 475.

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Die entscheidende Frage ist nun, woran man eigentlich erkennt, dass eine Norm zwingenden Charakter hat oder bloß dispositiv ist. Einfach ist es, wenn es sich dem Gesetzeswortlaut entnehmen lässt. Immer dann, wenn das Gesetz in der Rechtsfolge ausdrücklich oder sinngemäß ausspricht, dass eine davon abweichende Vereinbarung/Vorgehensweise unwirksam ist, handelt es sich um zwingendes Recht.

Schlagen Sie die im Beispiel genannten Vorschriften im Gesetz jetzt gleich nach.

Beispiel

§§ 125, 134[9], 138, 248 Abs. 1: „…ist nichtig.“

§ 276 Abs. 3: „…kann nicht erlassen werden.“

§ 312k Abs. 1 S. 1: „…darf nicht abgewichen werden.“

§§ 444, 475: „…kann sich nicht berufen.“

§§ 536 Abs. 4, 553 Abs. 3, 555: „…ist unwirksam.“

In allen anderen Fällen, wo das Gesetz keine ausdrückliche Klarstellung ausspricht, ist nach Auslegung des Gesetzes zu entscheiden.[10]

Beispiel

Die Normen des Sachenrechts regeln abschließend, welche Typen von dinglichen Rechten es insgesamt gibt (sog. „Typenzwang“), welchen Inhalt diese Rechtstypen haben (sog. „Typenfixierung“) und wie sie übertragen werden. Abweichende Vereinbarungen zur Ausgestaltung oder Übertragung von dinglichen Rechten sind unwirksam.[11] Ausdrücklich ausgesprochen wird dies aber nicht, sondern vorausgesetzt.

Entsprechendes gilt für die Ausgestaltung der verschiedenen Rechtstypen im Familien- und Erbrecht.

19,99 €
Genres und Tags
Altersbeschränkung:
0+
Umfang:
525 S. 42 Illustrationen
ISBN:
9783811477674
Verleger:
Rechteinhaber:
Bookwire
Download-Format:
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