Der Wünscheerfüller

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Ohne Halterung polterten und klirrten die teuren Errungenschaften lieblos durcheinander und verkeilten sich wie ein Haufen Altmetall, das keine andere Zukunft kannte als die Metallschmelze. Das hatten meine neuen Kameraden nicht verdient, zumal ich wusste, wie sensibel und nachtragend diese Klingen sein konnten. Sie glauben vielleicht, das Zerbrechen eines Spiegels bedeute sieben Jahre Pech und damit hat es sich. Sie sollten den Grundsatz auf beschädigte und vernachlässigte Messer anwenden und die Pechperiode potenzieren. Dann wären Sie auf dem richtigen Weg. Meine Methode den gehörigen Respekt zu zeigen war es, jede Schneide in ein separates, genau auf den Charakter des Messers abgestimmtes Tuch einzuschlagen und mit Gummibändern zu taillieren. Es gab ein rot und weiß gewürfeltes Leinentuch für das Bowiemesser, einen nilgrünen Schal für das Hackebeil und die japanischen Nationalfarben für das Santoku-Allzweckmesser, das geformt war wie ein Tukanschnabel.

Es hatte den Anstrich einer religiösen Zeremonie, als ich mit allem zum Gebote stehenden Ernst die wohlverpackten Schätze aus ihrer Luxusgruft hob und auf einem schmucklosen Beistelltisch drapierte. Manch einer zählt das Aufreihen gefährlicher Gerätschaften vor einem wehrunfähigen Dialogpartner schon zu der subtilsten Form von Folter. Dem vermag ich nicht beizupflichten. Es ist ein gewaltiger Irrtum, dass der mittelalterliche Brauch des hochnotpeinlichen Verhörs, der mit dem Zeigen der Instrumente begann, gleichbedeutend mit der heutigen direkten oder indirekten Androhung von Gewalt ist. Lesen Sie dazu die lohnenswerte Abhandlung „Cautio Criminalis“ des Grafen von Spee, der mit dem Traktat wider die Folter den Wahn der Hexenverfolgung zu beenden half. Das Zeigen der Instrumente war keineswegs eine Drohung, sondern der Anfang der Folter selbst, die nur unterbrochen wurde, um dem Delinquenten Gelegenheit zu geben zu gestehen, bevor er als reuiger Sünder in den Schoß der Kirche zurückkehrte und anschließend voll christlichen Verständnisses zu Tode gebracht wurde.

Bitte beschweren Sie sich nicht darüber, dass die letzten Sätze bedeutungsschwanger und bleischwer ihren Denkapparat belastet haben. Ohne Anstrengung kein Fortschritt. Ich fand es nur notwendig, mich von vornherein gegen gewisse populistische Vorverurteilungen zur Wehr zu setzen. Nein, ich hatte nicht vor, dem Mann physische oder psychische Folter angedeihen zu lassen. Ganz im Gegenteil. Ich begann mit harmlosen, fast freundschaftlichen Fragen, die man mit einem Nicken oder Kopfschütteln beantworten konnte. Ich fragte, ob er Benedikt, der Metzger sei, und erhielt außer einem feindlichen Starren keine Antwort. Meine nächste Frage zielte auf seine momentane Situation und verfolgte keinen anderen Zweck, als meine Neugierde zu befriedigen. Sie lautete, ob das Weihnachtsmannkostüm zur Staffage eines Rollenspiels gehörte, das er mit Goldlocke exerzierte. Die Reaktion war ein verächtliches Schnauben durch die Nase.

So würde ich nicht weiterkommen. Das Steakmesser besitzt eine schlanke, kräftige Klinge, die Gebratenes glatt und mühelos durchschneidet. Es enttäuschte mich nicht und tat genau das mit der rechten Brustwarze des Weihnachtsmannes. Man kann sich trefflich darüber streiten, ob diese Ausführgänge der Milchdrüsen beim Mann nicht ohnehin eine nutzlose Verkümmerung sind, die die Evolution zu beseitigen vergessen hat. Sicher, sie dienen bei manchen Männern als erogene Zone und können sich mehr noch als bei Frauen durch die umgebende Brustmuskulatur aufrichten. Meine liebe Mutter könnte Ihnen einige Takte dazu erzählen. Aber lassen wir das. Tatsache ist, dass Männer – und allen voran Weihnachtsmänner – bestens ohne Brustwarzen leben können. Schokopenis lebte das vor. Er beeilte sich, den Kopf wild hin- und herzuwerfen und gab eine Salve atonaler Kehllaute von sich, die darauf schließen ließen, dass er kommunikationsbereit war.

Natürlich blutete der Mann. Natürlich erlitt er einen neuerlichen Schock. Grausam war die Behandlung jedoch in keinem Fall. Der rasch entschlossene Schnitt konnte als Anreiz zur Teilnahme am Dialog gelten, eine Art Ermunterung in einer verfahrenen Situation, die durch die üblichen Verhandlungstechniken nicht vorangebracht werden konnte. Zuerst hatte der Weißbärtige seinen Standpunkt klar gemacht und dann ich. Wir waren an dem Punkt eines Neuanfangs angekommen.

Während ich das Messer mit einem Tuch so gut es ging abwischte, stellte ich Frage Nummer eins noch einmal. Meiner Stimme verlieh ich den fröhlichsten, unaufdringlichsten Klang, dessen ich unter der Maske fähig war. Ich wollte mir nicht nachsagen lassen, dass ich meine Gesprächspartner einschüchterte oder demütigte. Die Augen meines Gegenübers versuchten noch immer den Schaden zu taxieren, den die Klinge angerichtet hatte. Langsam hob sich das Kinn von der Brust und der Kopf schüttelte sich verneinend. Der Wattebart war in den unteren Regionen verfilzt und rötlich eingefärbt. Auch die zweite Frage wurde verneint. Ich war irritiert. Ein blutender, gefesselter Fettsack von Weihnachtsmann mit einem schokoladeverklebten Penis hatte es geschafft, mich dermaßen zu irritiert, dass ich in einem Impuls fast die Flucht ergriffen hätte. Sie sehen, ich beschönige nichts. Den listigen Insektenaugen des Weihnachtsmannes konnte ich das Vergnügen förmlich ansehen, das ich ihnen mit meinem Rückzug ins Badezimmer bereitete, wo mich Nancy Reagan streng aus dem Spiegel anblickte und mich einen Narren schalt.

Es konnte nicht wirklich sein, dass ich den Falschen erwischt hatte? Bevor ich dem Weihnachtsmann die Verkleidung herunterreißen und ihn enttarnen konnte, kam die Lösung wie von selbst. Der Kerl mit der fehlenden Brustwarze produzierte eine Serie von Brunftlauten und wackelte mit den Fingern, als ob er ein Klavierkonzert geben wolle. Ich war schon immer gut bei Ratespielen. Pantomimen, die einen Begriff vorspielten, der erraten werden musste, waren eine meiner liebsten Herausforderungen und auch der Weihnachtsmann schien dies zu wissen. Anscheinend befürchtete er drastische Sanktionen und legte es gar nicht darauf an, dass ich ihm das Klebeband über dem Mund entfernte. Wir kamen auch so zurecht und nach wenigen Fehlversuchen hielt ich ihm einen kleinen Schreibblock vor die Finger. Mit einem Bleistift krakelte er mühsam zwei Worte. Es waren die Worte „Fleischer“ und „Nikolaus“. Ich verstand augenblicklich und empfand so etwas wie Bewunderung für den Mann. Er hatte Chuzpe. Was er sagen wollte war, dass er kein Metzger, sondern ein Fleischer war und kein Weihnachtsmann, sondern ein Nikolaus.

Auch wenn die Erleichterung, dass ich das richtige Pärchen erwischt hatte, vorherrschend war, muss ich doch zugestehen, dass mich der Mann verblüffte. Ich war mir nicht sicher, ob er stur, aufsässig, tollkühn oder dumm war.

Ich könnte es an der Stelle mit dieser Feststellung bewenden lassen, aber ich will offen mit Ihnen sein. Wahrscheinlich war mir ein taktischer Fehler unterlaufen, den ich durch doppelte Entschlossenheit beim Vorgehen wettmachen musste. In meinem Bemühen, den Mann zu beruhigen und zur Kooperation zu überreden, versicherte ich ihm mehrfach, dass ich ihm nicht nach dem Leben trachtete. Ich erzählte keine Lüge, sonst wäre die Scharade mit der Unkenntlichmachung durch die Gummimaske, unter der mein Gesicht in salzigem Schweiß ertrank, unnötiges Beiwerk gewesen. Anscheinend hatte er diese Zusicherung zum Anlass genommen, mir den größtmöglichen Widerstand zu bieten, um mich in meinem Tun zu entmutigen.

Und wie bricht man den hartnäckigsten Widerstand, frage ich Sie? Ich sehe, Sie stimmen mir zu. Das ist also abgemacht. Und genauso verfuhr ich. Ohne mich im Geringsten auf die Wortklaubereien des Mannes einzulassen, konfrontierte ich ihn mit seinen grässlichen Verfehlungen, deren er sich seiner treu sorgenden Frau Susi gegenüber schuldig gemacht hatte. Ich konnte sehen, dass meine Worte ihre Wirkung nicht verfehlten. Er schluckte mehrfach krampfhaft, als müsse er einen unverdaulichen Brocken die Kehle hinunterwürgen und schloss schuldbewusst die Augen. Es waren die gleichen Augen, die mich zuvor so unverschämt durchbohrt hatten.

Ich fragte ihn nach den schmählichen E-Mails, die er mit seinem Lustknaben ausgetauscht hatte, dem die Lust am Zappeln mittlerweile vergangen zu sein schien. Ich fragte ihn nach seinem Lieblingsfinger, mit dem er seinem Gespielen anscheinend fortwährend Vergnügen bereitete und registrierte mit klammheimlicher Freude, wie er die Hände zu Fäusten ballte und alle Finger in die Handflächen vergrub, wie Küken, die Schutz unter dem Gefieder der Mutter suchen. Dann zeigte ich ihm das Ausbeinmesser mit der charakteristisch gebogenen Klinge zum Auslösen von Knochen. Der Mann kannte sich aus. Er war Metzger. Verzeihung, auch in dieser Phase gesteigerter Erregung möchte ich Benedikt gerecht werden und mich gerne korrigieren. Er war Fleischer.

Der Effekt meiner Vorführung und der Versicherung, dass er nur einen Finger einbüßen würde, den bösen Finger zumal, führte dazu, dass er sich mit den gutturalen Lauten, dem Kopfwerfen und dem Ballen der Fäuste zu neuen Höhen aufschwang. In einem spielerischen Tonfall hatte ich ihm auseinandergesetzt, welchen seiner Finger ich im Verdacht hatte. Dass er Rechtshänder war, hatte er mit dem Hantieren der Tasche zur Genüge bewiesen. Daumen, Ringfinger und kleiner Finger schieden teils mangels Beweglichkeit, teils mangels Kraft und Geschicklichkeit für solch intime Tätigkeiten aus. Blieben der Zeigefinger und der Mittelfinger und damit die üblichen Verdächtigen. Wäre es um die manuelle Befriedigung einer Frau gegangen, deren natürlicher Zugang mehr Kombinationsmöglichkeiten und eine Zwei- oder gar Dreifingerlösung zuließ, hätte ich an dieser Stelle ein Problem gehabt. Nicht so bei den beiden Herren mit dem Schokoladenfetisch. Ich war mir ganz sicher. Es musste der kräftigere und durchsetzungsstärkere Mittelfinger sein, der vielleicht etwas weniger Tastgefühl aufbrachte als sein Kollege, dafür aber die von einem Ringmuskel bewachte Pforte mit Überzeugungskraft zu überwinden vermochte. Sie müssen sich vorstellen, dass es bei den beiden nicht um eine medizinisch indizierte Prostata-Untersuchung ging, sondern um einen Kreuzzug in Abgründe, die ansonsten nur Proktologen interessierten. Derart in meiner Überzeugung gefestigt, musste ich den Nikolaus nur noch dazu bringen, seine rechte Hand zu öffnen. Und hier hatte ich meinen Geistesblitz.

 

Mit halb abgewandtem Gesicht sprühte ich Benedikt, dem Fleischer, eine gehörige Portion Pfefferspray in die Augen. Sicher, ich folgte nicht korrekt der Gebrauchsanweisung und hielt den empfohlenen Abstand nicht ein. Der Zweck heiligt die Mittel, konstatiert ein viel gebrauchtes Sprichwort und hebt dabei auf die Effizienz einer Aktion als primäres Beurteilungskriterium ab. Sie können raten, wessen Lieblingssprichwort das ist. Wurde es besonders gerne von Mahatma Gandhi oder von Bert, dem zu Grillkohle verbrannten Boxtrainer, im Mund geführt? Genau wie Sie tendiere ich zu Bert. Es war das Klügste, was er je von sich gegeben hatte.

Die Wirkung war enorm. Der Kopf zuckte zurück, als sei er von einer Keule getroffen worden und gleichzeitig mit dem Einsetzen eines anschwellenden Heultons spreizten sich die Hände in dem vergeblichen Versuch, sich loszureißen und den geblendeten Augen zu Hilfe zu kommen. Selbst meine Augen begannen leicht zu tränen und fast hätte ich den Moment verpasst, mir wie ein lauerndes Raubtier den besagten Mittelfinger zu greifen und mit alle Kraft nach hinten zu drücken. Dass bei solchen Brachialakten Sehnen reißen und Knochen brechen können, ist selbstredend. Ich hatte vorher keine Ahnung, dass Finger bei gehöriger Überdehnung so merkwürdig entwurzelt über den Handrücken baumeln können. Im Prinzip betrachtete ich es als Arbeitserleichterung, denn erstens war ich nicht derjenige, der mit dem ganzen Widerstandsmist angefangen hatte und zweitens hatte ich mehr als genug damit zu tun, dass Schokopenis wie ein Irrwisch samt Stuhl in der Gegend herumschleuderte und sich wahrscheinlich noch aus dem Fenster torpediert hätte, wenn ich mich nicht mit vollem Körpereinsatz auf ihn geworfen hätte.

Schwer atmend und einigermaßen angewidert hatte ich mir einen ordentlichen Kopfstoß und Schokoladenflecke auf der Lederjacke eingehandelt. Ich muss sagen, dass ich nicht schlecht Lust hatte, dem opponierenden Fleischer in die Weichteile zu treten. Ich sah aus zwei Gründen davon ab. Zum einen, weil Rachegefühle kein guter Ratgeber sind und man gut daran tut, im Moment der höchsten Erregung Milde walten zu lassen, zum anderen, weil ich dann mit Sicherheit die Schokoflecke auch an den Schuhen gehabt hätte. Stattdessen hüllte ich mich in ein Ersatzlaken aus dem Schrank und begann ihm den Finger zu amputieren.

Glauben Sie nicht, dass ich einfach blindlings darauf lossäbelte wie ein Anfänger. Ich hatte mich im Praxislexikon über das Thema „Amputationen von Gliedmaßen“ mit dem Untertitel „Finger“ kundig gemacht und wusste die Basics über die richtigen Einschnitte, das Zurückziehen des Muskels und das Durchtrennen der Knochen am Knorpelgewebe. Als Zugabe konnte man mit einer Aderpresse die Blutung kontrollieren und den offenen Stumpf so verbinden, dass keine Infektion drohte und der Abfluss von Flüssigkeiten gewährleistet blieb. Soweit die Theorie.

Sicher kennen Sie auch diese Filme, in denen sich japanische Yakuza in einer Ergebenheitsgeste gegenüber ihrem Anführer ein Fingerglied abtrennen und anschließend mit steinerner Miene und im Schneidersitz einer Ansprache folgen. Schon in ganz normalen B-Movies aus der Rockerszene verlieren Bandenmitglieder haufenweise Finger bei allen Sorten von Messerspielen. Sie tun dies zwar mit schmerzverzerrtem Gesicht, aber irgendwie beiläufig, als sei der Verlust eines Fingers lediglich die Ouvertüre zum großen Finale, das man nicht mit allzu viel Theatralik belasten will. Alles Lug und Trug. Lassen Sie es sich gesagt sein. Das Praxislexikon hatte ja so recht, dass es über jedem medizinischen Rat mit fetten Lettern mahnte: Diese Informationen ersetzen keinen Arzt!

Ich war kein Arzt und ich war unersetzbar. Ich schnitt und kerbte und alles war eine riesige Sauerei. Fast wäre mir bei dem Versuch schlecht geworden, den Mittelfinger aus seiner Position zu schälen. Ich muss ganz klar sagen, das Versagen lag auf meiner Seite. Das Messer tat, was es konnte und gemeinsam schafften wir es dann.

Der Finger sah in seiner blutenden Losgelöstheit unschuldiger aus, als ich vermutet hatte. Er war dick, kräftig und kurz mit spatenförmigen Fingernägeln und einer pelzartigen Behaarung. Er würde so bald keine verbotenen Spiele mehr spielen, die seinen Herrn in Verlegenheit und dessen Frau in Verzweiflung stürzen würde. Alles in allem eine vielleicht alttestamentarisch drakonisch erscheinende Maßnahme und doch ein zukunftsweisender Fingerzeig, der dem Sünder Platz für tätige Reue ließ. Sie sagen, dass ich unnütz und geschwollen daherrede? Sie haben recht. Mir war kotzübel und das Blut schoss aus der zerfransten Wunde, als habe es all sein Leben auf diese Fluchtmöglichkeit gewartet. Ich schlang das gesamte in Streifen zerrissene Betttuch mit Nachdruck um Wunde, die übrigen Finger und Hand, bis ich einen unförmigen Wäscheklumpen vor mir hatte, der begann, zähes Blut in Stößen auszuschwitzen, obwohl ich ein Fläschchen blutstillende Tinktur über die ganze Masse ausgekippt hatte.

Auch wenn ich ein kompletter medizinischer Laie war, hatte ich mir doch das Kapitel über Reflexbeziehungen zwischen bestimmten Nervenbahnen und Muskelsträngen angeschaut und wunderte mich daher über die Metamorphose des Nikolaus nicht. Sie können mir sicher nicht verdenken, dass ich recht wenig auf sein Wohlbefinden geachtet hatte, während ich versuchte, ihn möglichst schonend von seinem übeltäterischen Mittelfinger zu befreien. Ich muss halb auf dem Mann gekniet haben und es grenzt an ein Wunder, das wir nicht mit dem Stuhl zur Seite gekippt waren. Ich hatte das Gefühl, dass ich nach Benedikt stank, nach seinem widerwärtigen Schweiß, seinem ordinären Parfüm und Resten erkalteter Schokolade. Um mit dem Unangenehmsten anzufangen – ich stank objektiv gesehen nach seinem Urin, denn als sein Widerstand erschlaffte, tat dies auch seine Blase. Soviel zu den Reflexbeziehungen unseres Körpers. Ich veranschlagte einen großzügigen Betrag aus seiner Börse für die Reinigungskosten meiner Kleidung.

Ansonsten hing er verdreht und schlaff in seinem Kostüm. Alles, was vom Hals aus abwärts an nackter, bewaldeter Haut zu sehen war, erschien unnatürlich bleich, während die Kopfpartie in einem Rotstich glühte, der vermuten ließ, die letzten Blutreserven hätten sich ohne Rücksicht auf die Gesetzmäßigkeiten des Kreislaufsystems in ein hoch gelegenes Depot geflüchtet, um dort Asyl zu beantragen. Ich nahm an, dass über diese Art der Ohnmacht auch etwas im Praxislexikon zu finden war. Das richtige Stichwort wäre „Tod durch Herzinfarkt“ gewesen.

Es war ruhig im Zimmer und jeder zufällige Zuhörer unseres kleinen Hörspiels musste annehmen, dass die Akteure nach dem Erreichen diverser Höhepunkte nun in eine Phase der erschöpften Abkühlung übergegangen waren. Im Prinzip hatten sie recht, denn das Einzige, was mir noch zu tun verblieb, erledigte ich mit Akribie und ohne die Verhinderungstaktiken des ausgeknockten Nikolaus. Mit Nadel und Faden konnte ich recht gut umgehen, wenn man bedenkt, dass ich mir schon seit Jahren Knöpfe an Hemden annähte, weil meine Mutter die meiste Zeit zwar willens, aber außerstande war, derartige Dienstleistungen zu erbringen. Ihre Qualitäten lagen eindeutig im erotischen Nahkampf.

Zugegeben, der abgetrennte Mittelfinger baumelte vom Ballen der anderen Hand, als ob er nicht dazugehöre. Anatomisch gesehen tat er es auch nicht. Als mahnende Nachricht erfüllte er seinen Zweck. Es war schwierig genug, das glitschige, unansehnliche Ding mit einer Serie von Stichen einigermaßen zu befestigen. Ich erspare Ihnen besser die Details meiner Fehlversuche und weise nur pauschal darauf hin, dass das Vernähen einer Wunde augenscheinlich wesentlich einfacher zu bewerkstelligen ist, als das Annähen eines Fingers an eine Stelle, die auf ein solches Vorhaben nicht vorbereitet ist.

Danach räumte ich auf und verstaute meine Utensilien. Die Maske konnte ich gefahrlos abnehmen, denn Goldlocke und Schokopenis hatten auf der Zielgeraden versagt. Ein bisschen Schwund ist immer. Herzinfarkt und Ersticken. Welch eine Kombination. Tröstlich, dass sie beide gemeinsam gegangen waren. Ich hatte Durst auf eine Fanta und brauchte ein Bad. Der Nebel hatte sich gelichtet. Ich benutzte den Notausgang und beschloss ein Stück zu laufen, um abzukühlen.

Die Top-Schlagzeile des nächsten Tages lautete: „Die sechs Finger des Nikolaus“.

VIII.

Wissen Sie, was mit Ihnen nicht stimmt? Ich verrate es Ihnen. Sie sind einfach zu perfektionistisch, was die Ergebniserwartung anbetrifft.

Was Sie propagieren, ist eine Philosophie des Zauderns. Das übertriebene Nachdenken und Verharren ist der Vetter der Trägheit und die Vorstufe des Müßiggangs, der sich gerne in sehnsüchtigen Konjunktiven wie „hätte“, „müsste“ und „könnte“ artikuliert. Attribute der gewollten, aber niemals vollzogenen Veränderung führen zu einem fühlbaren Knirschen im Weltgefüge und letztendlich zu einem Stillstand, der die Räder des Fortschritts blockiert. Man kann diese Dinge in jedem halbwegs gelungenen Deutsch- und Geschichtsunterricht lernen, wenn man Ohren hat zu hören.

Wer erschauert nicht angesichts des Verderben bringenden Zauderrhythmus des K., den Kafka seine „dauerhaft gezauderten Wege“ in seinen Labyrinthen nehmen lässt? Zu welcher Elendsgestalt wandelt sich der selbstherrliche Wallenstein in dem Drama Schillers, als er sich um die Wende des 18. Jahrhunderts in ein Knäuel verschiedener Handlungsmöglichkeiten verstrickt sieht und das Zögern zur Maxime seines Handelns macht? Warum zögert in der Orestie des Aischylos der tragische Held, bevor er seine Mutter Klytaimnestra ersticht, obwohl er von der Notwendigkeit seines Tuns überzeugt ist?

Hat der Limbo-Zustand zwischen dem „nicht mehr“ und dem „noch nicht“ irgendetwas Gutes hervorgebracht außer dem törichten Lob, dass tiefe Denker methodisch zaudern, weil sie die negativen Folgen einer Affekthandlung abwehren wollen? In der ganzen Diskussion um Abwägung und Verhältnismäßigkeit wollen wir doch nicht vergessen, dass es die beherzten Macher sind, denen die Durchbrüche gelingen, die die Welt in Atem und am Laufen halten.

Genau das hatte ich aus uneigennützigen Motiven getan. Die öffentliche Meinung war auf meiner Seite. Das ein oder andere bigotte Blatt rief zwar halbherzig dazu auf, der Perversion, wie sie ihrer Meinung nach in der Absteige geschehen war, ein für alle Mal ein Ende zu bereiten, aber die Mehrzahl der Medien schnürten aus der homoerotischen Skandalgeschichte eine spannungsgeladene und mysteriöse Fortsetzungsstory mit nachgestellten Bildern und aufgeputschten Details. Ein besonders engagiertes Boulevardblatt hatte die Witwe des Fleischers überredet, ihr die Exklusivrechte an dem Hintergrundmaterial ihrer Ehe zu überlassen und veröffentlichte in loser Folge Fotos des verstorbenen Benedikt im Kommunionsanzug und als Messer schwingender Metzger, Aufnahmen einer mehr als traditionell begangenen Hochzeit in weißem Kleid, Spangenschuhen, voll hochfliegender Hoffnungen und düster illustrierte Familiengeheimnisse, deren Bedeutung im Halbdunkel blieben.

Die Umsätze der Messerindustrie zogen augenblicklich an und die Schwulenvereinigung rief zu einem Protestmarsch gegen Diskriminierung auf, der von den Linken unterstützt wurde. Die Polizei ermittelte in alle Richtungen und vermutete persönliche Motive hinter der bizarren Tat. Goldlocke hieß in Wirklichkeit Stefan und entstammte einer einflussreichen Industriellenfamilie, die für Hinweise, wer ihren Sohn entführt und in hilfloser Lage in einem zweifelhaften Etablissement erstickt hatte, eine stattliche Belohnung ausgesetzt hatte. Nach der Lesart seiner Familie war ihr Sohn ein drogen- und skandalfreier junger Mann mit vielversprechenden Talenten und einer ganz und gar heterosexuellen Neigung, die er schon früh durch eine Verlobung mit einer untadeligen Elevin aus besseren Kreisen unter Beweis stellte. Der Betreiber des „Palais d’Amour“ wurde von Goldlockes Familie für die erlittenen Unbilden und dafür entschädigt, dass er bestätigte, den tragisch ums Leben gekommenen Sohn niemals zuvor gesehen zu haben. Im Überschwang der Gefühle fügte er ungefragt gerne hinzu, dass der junge Mann mitnichten schwul gewesen sein könne, so als ob er aus gefesselten nackten Leichen den Charakter herauszulesen vermochte.

 

Susi, die Frau des Metzgers, zeigte sich verweint und fotogen auf manchem Titelblatt und präsentierte ihre nichtssagende Geschichte einer Routineehe mit Routineproblemen und Routineannehmlichkeiten. Sie verneinte, von den Neigungen ihres Mannes gewusst zu haben und das einzig Sensationelle, das ein Magazin ausgrub, war ein Foto des angeheiterten Paares in Karnevalsverkleidung nach dem Besuch der „Rocky Horror Picture Show“. Alle interessierten Kreise verständigten sich stillschweigend auf einen Mord im Milieu und die Erkenntnis, dass das Herz eines biederen Fleischers unergründlich und abgründig sei. Susi hatte es nicht mehr nötig zu arbeiten, denn in ihrem Fall zahlte die Lebensversicherung schnell und ohne Aufsehen. Wenn es stimmt, was die anderen in der Suppenküche sagten, verabschiedete sie sich wegen des ganzen Rummels um ihre Person mit einer Mischung aus Wehmut und spürbarer Erleichterung. Sie träumte von einer Eigentumswohnung und einem erfüllten Leben an der Seite eines Mannes, der ihre Kochkünste und ihren Körper gleichermaßen zu schätzen wusste. Sie würde es schaffen und nie erfahren, wer ihrem Glück auf die Sprünge geholfen hatte.

Wie Sie richtig bemerken, hatte jeder etwas von meinem Eingreifen – außer mir. Ich hatte mir die Kleidung und ein Stück weit meine Nerven ruiniert. Ich war das Risiko eingegangen, dort stümperhaft zu agieren, wo ich keine Routine hatte. Andererseits – sollte ich etwa zuerst das Ausbeinen und Nähen erlernen, bevor ich zur Tat schritt? Hier schließt sich der Kreis der Argumente. Besser ist ein unvollkommenes Ergebnis in mehreren Anläufen als ein vollkommenes Zögern. So sehe ich das.

Meine Erfahrung mit der Sache war, dass es sich einfacher mit dem Prädikat lebte, ein großes Arschloch zu sein als ein menschenfreundlicher Altruist. Altruisten nimmt man im Alltag als gegeben hin. Es sind die Freiwilligen, die sich ehrenamtlich um andere kümmerten, die Helden des Alltags, denen man vor der Silvestergala mit warmen Worten öffentlich dankt, um sie möglichst schnell zu vergessen. Altruisten sind farblose oder fanatisch auf Gut gepolte Wesen, das schlechte Gewissen der Gesellschaft, der schmerzhafte Pickel auf der Seele, der eigenes Engagement einfordert. Man trifft sie in Kirchen und Gemeindezentren, bei elitären Wirtschaftsvereinigungen und in Vereinen, die sich um Erdbebenopfer in Südamerika, Mukoviszidose-Kranke und den vom Aussterben bedrohten gelbfleckigen Feuersalamander in den Alpenregionen sorgen. Überall tummeln sie sich und treten mittlerweile massiert in jeder Form und Gestalt auf.

Ich hatte nicht vor, mich an derartigen Aktivitäten zu beteiligen. Ich hatte ein für mich passendes Konzept gefunden, das mir die gesamte Verantwortung aufbürdete, aber auch die maximale Handlungsfreiheit beließ. Was ich von den anderen lernen konnte, war, dass Altruisten zugleich Arschlöcher sein konnten. In den Sprüchen des weisen Salomo heißt es, dass man dem Stier, der da drischt, nicht das Maul verbinden soll. Falls Ihnen diese Aussage zu kryptisch erscheint, wiederhole ich sie gerne: Für gute Arbeit soll man auch einen angemessenen Lohn erhalten, und wenn kein solcher geboten wird, muss man improvisieren. Wie Sie wissen, bin ich ein Meister der Improvisation und von meiner Grundeinstellung einem kleinen Kompensationsgeschäft für meine Mühen nicht abgeneigt. In Altruisten-Kreisen nennt man diesen Vorgang Aufwandsentschädigung. Wenn man es richtig anstellte, konnte man auch bei gemeinnützigen Aktionen eine angemessene Entlohnung erwarten. Ich wusste noch nicht genau, wie ich es anstellen würde, aber allmählich reifte ein Plan heran, den ich recht bald umzusetzen gedachte.

In der Zwischenzeit versuchte ich mir nicht allzu viele Sorgen zu machen und ertrug die erstickende Enge in der Wohnung meiner Mutter, wie es nur ein in sich ruhender Wünscheerfüller zu tun vermag. Nun, so ganz ruhte ich nicht in mir selbst, denn flüchtige Gedanken an das Mädchen im Bus und ein allgemeines Gefühl der Beklemmung belasteten mich. Es ist einfach nicht das Richtige, sich als selbstständiger junger Mann in einer gewerblich genutzten Dienstwohnung einzuigeln und in Schulbücher zu starren, während das Leben vorbeizieht, als hätte es mit einem nichts zu schaffen. Eine Zeit lang trotzte ich den eisigen Temperaturen und frequentierte Spielhallen und Hinterhofkasinos, wo ich bulgarische Fälschungen in beste Währung transformierte. Niemand beachtete den schlaksigen Mann, der sein Geld in homöopathischen Dosen einsetzte und wie ein Schatten verschwand, wenn er einige Scheine getauscht hatte.

An einem Tag, der sich mit dem Winter verschworen hatte, einer Tauperiode mit strengem Frost ein Ende zu setzen, kaufte ich mein erstes Auto. Das Fahrzeug war ähnlich unspektakulär wie der Betriebshof des Gebrauchtwagenhändlers. Er streute Asche auf den soliden Eispanzer, der sich wie ein milchiger Film aus Glätte über den Beton gelegt hatte. Seien Sie unbesorgt. Ich griff nicht unbeherrscht nach den Sternen. Im Gegenteil. Ich hatte mich für ein gebrauchtes koreanisches Modell entschieden, das viele Konsonanten und ebenso viele Vokale im Namen trug und sich sichtlich schwer tat, mit derartig widrigen Witterungsbedingungen fertig zu werden. Es war ein zierliches Ding mit nettem Gesichtsausdruck und einer Ausstattung, die ganz auf Frauen abgestellt war. Wenn man so sagen will, war es ein Auto zum Knuddeln.

Normalerweise hätte ich eher zu etwas Robusterem gegriffen, aber der unübertroffen günstige Preis und das Servicepaket siegten über die Leidenschaft. Ich redete mir ein, dass das Fahrzeug für den Stadtverkehr wie geschaffen und überdies mit seinen eindrucksvollen Verbrauchs- und Abgaswerten ökologisch mehr als korrekt sei. Derart seelisch gestärkt fuhr ich davon. Sie können sich vielleicht vorstellen, in welch geordneten Bahnen mein Leben verlief, wenn ich diesen Kauf zu den Highlights der letzten Wochen zählen musste. Zumindest gestattete es mir der Wagen, meinen Bewegungsradius wesentlich zu erweitern und ernsthaft auf Wohnungssuche zu gehen, denn dem Zusammenleben mit meiner lieben Mutter waren deutliche Grenzen gesetzt.

Ging mir die Frau, die mir das Leben geschenkt hatte, bislang auf den Geist mit ihrem tranigen Selbstmitleid, das sie dem Bruder Alkohol und dem tragisch verstorbenen Bert in die Arme trieb, hatte sie zwischenzeitlich einen Schalter umgelegt und erschien geradezu beängstigend alert und tatendurstig. Bisher war es mir gelungen, sie dank eines ausgeklügelten Anreizsystems auf der Schiene der Profitabilität zu halten. Jetzt schien sie mir in einem Höhenflug von Eigeninitiative zu entgleiten. Es ist richtig, dass ich ihr den Besuch eines Treffens der „Anonymen Alkoholiker“ ans Herz gelegt hatte, weil ich wie jeder gute Junge um den Zustand meines wertvollsten Investitionsgutes fürchtete. Sie sollte aus dem Stupor von Trauer und Alkohol, der sie umgab wie eine unsichtbare Mauer, entkommen, um mit frischen Kräften ihrem Gewerbe nachgehen zu können. Das war für uns alle wichtig, vor allem für die Einnahmenseite und den Kundenbindungsaspekt. Ein wenig Traurigkeit und Weltschmerz konnte man noch gut vermarkten, nicht aber eine niveaulose Inszenierung ohne Kraft und Fantasie.

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