Das Gorbatschow Vermächtnis

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Das Gorbatschow Vermächtnis
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Über dieses Buch

Der Agententhriller ,Das Gorbatschow Vermächtnis‘ webt virtuos ein atemlos spannendes Geflecht aus Intrige, Macht und Skrupellosigkeit, Vergangenheit und Gegenwart – explosiver Lesestoff bis zur letzten Seite.

Achim Albrecht

DAS

GORBATSCHOW

VERMÄCHTNIS

© 2016


1. Auflage September 2016

©2016 OCM GmbH, Dortmund

Gestaltung, Satz und Herstellung:

OCM GmbH, Dortmund

Verlag:

OCM GmbH, Dortmund, www.ocm-verlag.de

Produced in Germany

ISBN 978-3-942672-50-4

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.d-nb.de abrufbar.

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Inhalt

Zitat

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Über den Autor

Und ich hörte eine große Stimme aus dem Tempel,

die sprach zu den sieben Engeln:

Gehet hin und gießet aus die sieben

Schalen des Zornes Gottes auf die Erde!

Offenbarung 16:1.

Kapitel 1

Rose fühlte sich von ihrer Küche eingeengt. Sie fühlte sich von ihrem Leben eingeengt. Ein bedrängendes Gefühl, das sich nicht abweisen lassen wollte. Alles in ihrem Leben war schäbig und abgegriffen. Es war, als seien die unmodernen Tapeten mit den einfallslosen Blumenmustern, die billigen Holzfurniere der Möbel und die abgetretenen Teppiche, die nicht zueinanderpassen wollten, Relikte einer vertanen Vergangenheit, die die Gegenwart eingeholt hatte.

Rose sah sich um, als hätte sie die kleine Wohnung in London zum ersten Mal mit klarem Verstand gesehen. Sie wischte mit einer ärgerlichen Handbewegung über das fleckige Metall der Dunstabzugshaube. ,Edelstahl‘ hatte der Verkäufer des Küchenstudios in Knightsbridge damals geraunt und genießerisch mit der Zunge geschnalzt, als garantiere die Haube lebenslänglichen Genuss. Damals konnten normale Menschen wie Edgar und Rose Stadtviertel wie Knightsbridge betreten, ohne über Banker, Schauspieler und reiche Ausländer zu stolpern.

Lange vorbei. Alles war lange vorbei. Auch Edgar war Vergangenheit und der Edelstahl hatte, wie zum Trotz, Flecken angesetzt, die durch nichts zu beseitigen waren.

Rose rührte in dem Topf, der auf dem Herd stand. Dampfschwaden schlugen sich auf dem Fenster zum Innenhof nieder und milderten die Fleckenlandschaft auf der Abzugshaube. Risotto. Rose kochte ein Risotto, von dem sie nicht wusste, wer es essen würde. Kochen beruhigte Rose. Sie atmete tief ein und aus, wie sie es in dem Meditationskurs gelernt hatte.

Früher hatte sich Edgar um ihre kleinen Ängste gekümmert aber Edgar war gegangen, als ihre beiden Töchter erwachsen geworden waren. Er hatte keine Erklärung angeboten und Rose hatte keine gefordert. Sie war müde. Das Leben hatte sie müde gemacht. Sie war eine alte Frau von 47 Jahren, die sich ihr Spiegelbild von einer welligen, fleckigen Dunstabzugshaube verzerren ließ, bis es grotesk zerlief und Rose ihren Blick abwenden musste.

Es geschah ihr recht, dachte Rose. Alles war ihr entglitten. Edgar, Eileen und Monica. Sie hatte sich andere Namen für die Kinder ausgesucht, aber Edgar hatte sich durchgesetzt. Edgar hatte sich immer durchgesetzt und Rose hatte geschwiegen. Jetzt schauten sie drei gerahmte Fotos aus besseren Zeiten von der Kommode im Wohnzimmer an. Sie schienen sie ständig anzuschauen, wo immer Rose auch saß.

Rose hatte Phasen, in denen sie zu viel trank und unsinnige Mengen Essen zubereitete. Sie hatte Phasen, in denen sie tagträumte und wieder ,Barbie‘ war, eine fast blonde Frau mit Erwartungen und einem Mann, den sie ,Ken‘ nennen durfte, wenn sie herumalberten. Später bezogen sie die Kinder in ihre harmlosen Albernheiten ein und beschlossen, ihr Leben ,glücklich‘ zu nennen. Die kleine Wohnung war Stückwerk, aber das störte nicht. Sie hatten Pläne. Gemeinsame Pläne. Nichts Großes. Vielleicht ein oder zwei Zimmer mehr und Teppiche, die zueinanderpassten. Dazu ein Urlaub auf dem Kontinent.

Frankreich.

Paris.

Sehnsuchtsorte für glückliche Familien mit kleinem Budget.

Dann hatte sich das Leben aufgemacht und war an ihr vorbeigehuscht, ohne dass sie es merkte.

Jetzt kochte Rose ein Risotto mit Parmesan und Kräutern, das niemand haben wollte und starrte auf Fotos aus ihrer Vergangenheit. Alles war so plötzlich passiert.

Rose schaltete den Herd aus und goss das Glas Weißwein, das sie unberührt gelassen hatte, in den Topf. Dampf wallte auf, als wolle er die bitteren Erinnerungen auslöschen. Rose kontrollierte noch einmal die Uhrzeit. Sie musste über sich selbst lächeln. Sie verhielt sich ordentlich wie immer. Am Nachmittag hatte sie sogar frische Bettwäsche aufgezogen und ihre Blusen gebügelt, bevor sie sie in den Schrank hängte. Man konnte nicht aus seiner Haut. Ein Satz, den sie von ihrem Pflegevater übernommen hatte.

 

Prüfend ging Rose durch ihr kleines Reich. Diele, zwei Schlafzimmer, Wohnzimmer, Küche und ein Bad, das seinen Namen nicht verdiente. Für Londoner Verhältnisse eine gute Wohnung, auch wenn der Stadtteil Brixton in Verruf geraten war. Rose hatte nie Probleme gehabt, weil sie sich nicht in die Angelegenheit anderer einmischte. So hatte sie es gelernt und so war es gut.

Die gepackten Segeltuchtaschen standen bei der Ausgangstür. Gerade einmal zwei Taschen, die nach Urlaub und Fernweh aussahen. Mehr war aus Roses Leben nicht herauszuholen. Zwei Taschen und der Volvo, der noch immer zuverlässig fuhr, obwohl er längst seine besten Zeiten hinter sich hatte.

Der Geruch nach würzigem Risotto hing schwer in den Räumen, als Rose die Zeitschaltuhren prüfte. Es war wichtig, dass kein Fehler passierte. Fehler gehörten zu der alten Rose, die alles Edgar überließ und schon einmal die Schulzeiten der Töchter vertauschte. Die neue Rose war eine ganz andere. Niemand konnte das wissen. Noch steckte die neue Rose in dem gleichen unförmigen Overall der Reinigungsfirma, die die Transportmaschinen in Stansted säuberte. Das Logo mit dem geschwungenen roten Pfeil auf der weißen Erdkugel war aufdringlich und passte zu der eintönigen Arbeit, die im Akkord erledigt werden musste. Einen gesamten Frachtraum fegen und, wenn erforderlich, feucht wischen in nicht einmal einer halben Stunde. Nur die Kollegen im Personenbeförderungsbereich hatten noch engere Vorgaben.

Rose mochte ihre Arbeit. Sie mochte die weiten und hohen Flächen, den Hall und das Gefühl, sicher aufgehoben zu sein, wie in einem Mutterschoß. Manchmal summte sie ein Lied. Ein Lied für die Frachtmaschine, ein Lied für World Cargo, ihren Arbeitgeber und ein Lied für Rose, die sich in solchen Augenblicken seltsam lebendig vorkam.

Rose befestigte den Sicherheitsausweis an einem der Träger des Overalls. Das Bild auf der eingeschweißten Plastikkarte zeigte eine Rose, die unsicher lächelte, als wüsste sie nicht, wer sie in Wirklichkeit war. Sorgsam beendete sie ihre Vorbereitungen. Die nächtlichen Geräusche drangen von der Straße herauf in das Appartement. Wie immer schien der Lärm nachts zuzunehmen. Rose schaute sich um und nickte.

Wenig später trat sie hinaus in den rötlichen Schein der Straßenlaternen. Noch zwei Stunden bis zum Beginn ihrer Schicht. Der graue Volvo reihte sich in den Verkehr ein, der fast nur aus Taxen zu bestehen schien. Findige Unternehmer hatten Brixton nach den Rassenkrawallen als neues In-Viertel entdeckt und begannen mit Diskotheken und Clubs junge Leute anzuziehen. Bald würden Boutiquen und Künstler folgen und nach ihnen kämen die Immobilienspekulanten.

Rose warf einen Seitenblick auf die Karte auf dem Beifahrersitz. Sie war die ungewohnte Strecke mehrfach in Gedanken durchgegangen und hatte sich das verlassene Gebäude auf Google Street View angesehen.

,Sei wie immer‘, hatte die Stimme am Telefon gesagt.

Rose hatte das unförmige Satellitentelefon auf dem Kaminsims platziert und eine Schmuckdose darüber gestülpt. Streng nach Anweisung hatte sie von Zeit zu Zeit die Frequenzen justiert und die Akkus getauscht. Sie hatte es vermieden, das Telefon mehr als nötig zu berühren und behandelte es wie ein fremdartiges Wesen. Gerne hätte sie ihm die Schuld an ihrem verpfuschten Leben gegeben. Niemals hatte es Lebenszeichen von sich gegeben. Bis jetzt.

Es war eine überraschend weiche Stimme gewesen, eine Stimme, die nicht nach Befehlsgewalt klang, sondern eine gebildete, beinahe zögerliche Note hatte. Wahrscheinlich ein alter Mann hatte sich Rose gedacht, den Gedanken aber nicht weiterverfolgt, weil sie sich zu äußerster Disziplin zwang. Auch diese Stimme gehörte zur Vergangenheit und Rose hatte nicht mehr damit gerechnet, sie jemals zu hören.

,Leg nicht auf‘, hatte die Stimme gemahnt.

Der Mann hatte die Verwirrung von Rose bemerkt, als er sie mit dem anderen Namen ansprach, so als sei Rose niemals jemand anderer gewesen, so als sei die Identität der letzten Jahrzehnte nur eine Wucherung, die man ohne Gefahr wegschneiden könne.

Rose hatte nicht aufgelegt. Allerdings war es mehr ihr Instinkt als ihr Verstand gewesen, der ihr befahl nicht mit einem knappen ,falsch verbunden‘ die Leitung zu unterbrechen. Stattdessen hatte Rose atemlos gelauscht, als eine Stimme eine Stelle aus Gogols ,Die toten Seelen‘ vortrug. Es war eine alte Aufnahme. Rose wusste nur zu gut, wann diese Aufnahme erfolgt war. Sie sah das alte Tonbandgerät vor sich. Sie sah, wie sich die Spulen drehten und ihre eigene Stimme, die sie immer wegen ihrer Farblosigkeit gehasst hatte, ihre Lieblingsstelle vortrug. Sie konnte das Atemholen, das Bemühen um Festigkeit im Ausdruck und das Verhaspeln kurz vor Beendigung der Aufnahme hören.

Der Geruch des Verwaltungsgebäudes, das Gluckern der riesigen Heizkörper und die abgewetzte Schreibunterlage, auf der die monströse Schreibmaschine thronte. Alles war wieder präsent.

,Mach dir keine Notizen‘, hatte die Stimme gesagt. Es war notwendig gewesen mit den Anweisungen sorgfältig umzugehen und die selbstverständlichsten Dinge zu betonen. Der Anrufer wusste das. Er war geduldig. Geduld und Beharrungsvermögen waren seine Haupttugenden. Er hatte fast ebenso lange gewartet wie die Angerufenen. Große Dinge brauchten Zeit, um zu reifen. Die Leitung war sicher. Sie konnten sich Zeit lassen.

Rose beschränkte sich aufs Zuhören. Sie war zu klug, um Fragen zu stellen. ,Wende die Technik an‘, hatte die Stimme geraten. Rose wusste, dass der Rat gut war. Sie übersetzte die knappen Informationen in eine Bilderfolge, die sich leicht einprägen ließ und memorierte die Abfolge der Bilder, bis sie automatisch vor ihrem geistigen Auge aufstieg, sobald sie an ihren Auftrag dachte.

Es war wie damals. Sie hatte eine Begabung für Physik und Mathematik. Die anderen Kinder im Waisenhaus nannten sie einen ,Zahlenkopf‘. Die Leiterin der Anstalt stellte sie einer Gruppe von Herren in schweren Mänteln vor. Es wurden ihr Aufgaben gestellt, die sie mit Leichtigkeit löste. Das Mädchen konnte den zufriedenen Gesichtsausdruck der Männer sehen. Dann hieß man sie, ihre Sachen zu packen. Eine schwarze Limousine verschluckte sie und brachte sie zu einem Ort, an dem alle Bewohner Zahlenköpfe waren.

Rose war damals nicht Rose. Sie war ein Rohdiamant, der geschliffen und in Form gebracht werden musste. So sagte man es ihr und so handelte man. Nach ihrer Ausbildung wurde sie zugeteilt. Kurz vor ihrer Abreise bat man sie noch, ein Tonband mit ein paar Sätzen aus ihrem Lieblingsbuch zu besprechen.

Rose sah in der Ferne das schimmernde Band der Themse und die Hochhäuser des Bankendistrikts. Am Piccadilly Circus würde Touristentrauben überteuertes Bier trinken und über die Leuchtreklamen staunen. Rose verlangsamte die Fahrt und bog in rascher Folge in immer enger werdende Seitenstraßen ein.

Das Gebäude war ein Schandfleck. Rose hatte in Erfahrung gebracht, dass es ein Hotel, danach ein Einkaufscenter und nach der Insolvenz einer dubiosen Investorengruppe ein Parkhaus hätte werden sollen. Die letzten sieben Jahre war das Gerippe aus Beton und Stahl mit den leeren Fensterhöhlen dem Zerfall preisgegeben und wartete vergeblich auf seine Rettung. Auf Rettung hoffte das gesamte triste Stadtviertel, das sich so grundlegend von den prächtigen neuen Bauwerken der Inner City unterschied.

Rose parkte den Volvo auf einem Grasstreifen, der mit Schutt und Abfall übersät war. Das Gebäude war mit Metallzäunen gesichert aber Obdachlose, Drogenabhängige und Sprayer hatten die Eingeweide des Baus längst für sich entdeckt. Selten ließen sich Polizei und Wachdienste sehen, um für einige Stunden eine Art Normalzustand herbeizuführen. Kaum waren die barschen Stimmen und die Sirenen verklungen, sickerten die Hoffnungslosen in die Ruine zurück, wo ihr angestammter Platz war. Graffitis bedeckten jeden Zentimeter des Mauerwerks.

Rose zögerte keinen Augenblick. Sie vertraute der Stimme am Telefon. So hatte sie es gelernt.

,Sei unbesorgt. Wir haben ein Auge auf dich‘, hatte die Stimme gesagt, als ob sie Gedanken lesen könnte. ,Wir haben uns der Sache angenommen‘. Rose richtete den Strahl der Taschenlampe auf einen Verhau aus Brettern, der einen klaffenden Eingang notdürftig abdeckte. Es schien kein Mensch in der gottverlassenen Gegend unterwegs zu sein. Ein leichter Wind trug Brandgeruch und das schläfrige Gebell eines Hundes heran. Das war alles. Rose arbeitete mit dem Brecheisen, so wie es ihr befohlen worden war. Wie ein Schatten schlüpfte sie in das Gebäude und wandte sich nach rechts. ,Bob Rules‘ schrie ein neongelbes Graffiti.

Der Lichtkegel der Taschenlampe tanzte über Schlafsäcke und verstreuten Müll. Es war, wie die Stimme versprochen hatte. Der Bau gehörte ihr. Rose blieb stehen. Sie musste sich orientieren. Sickerwasser tropfte auf den Boden. Rose rief die memorierte Bildfolge ab. Sie würde weit in die Eingeweide des Gebäudes vordringen. Betontreppen führten nach unten, wo die Dunkelheit modrig und schwer brütete. Rose ließ einen Brocken Beton in die Tiefe fallen. Wasser spritzte auf. Es würde nicht einfach werden, das Paket zu bergen.

Für einen Augenblick war Rose in Sorge. Was, wenn sie das Paket nicht bergen konnte? Was, wenn der Mechanismus nicht funktionierte? Was würde dann mit ihr passieren? Sie hielt inne, atmete tief und regelmäßig und folgte dem Licht. Sie war sicher, dass man sie beobachtete. Die Mission musste zu Ende geführt werden. Von ihr. Die Stimme hatte sie ausgesucht. Von anderen wusste sie nichts, aber es gab sie. Irgendwo.

Der Schacht war in ein Becken eingelassen, das verhindern sollte, dass Grundwasser nach oben stieß. Eine trübe Brühe schwappte bei jedem Schritt gegen das Gemäuer. Der faulige Gestank war überwältigend. Rose schwenkte die Taschenlampe. Eine Ratte ließ sich vorbeitreiben. Rose machte sich an die Arbeit.

Das Brecheisen hatte gute Dienste geleistet. Rose war vollkommen erschöpft. Das Paket war sperrig und schwer. Rose achtete darauf, es möglichst sanft zu behandeln, als sie es nach oben wuchtete. Sie hatte die Taschenlampe verloren. Rose folgte ihrem Instinkt und dem Fetzen Grau, der wie eine Verheißung durch den Bretterverhau des Eingangs schimmerte. Sie hatte noch 50 Minuten bis zu ihrem Schichtbeginn. In dieser Nacht würde es eine Boeing 747 – 8F Frachtmaschine von Atlas Air sein. Ein Routinejob.

Rose rüstete sich für eine letzte Anstrengung. Der Volvo erwartete wie ein urzeitliches Reptil aus Blech seinen Besitzer. Rose öffnete den Kofferraum. Sie sah sich um. Zerknüllte Zeitungsblätter wirbelten über das verwahrloste Gelände. Die toten Augen des Gebäudes starrten zurück. Es hatte zu regnen begonnen. Rose nickte zufrieden. Sie schien die Nässe und Kälte nicht zu spüren.

„Na, da wollen wir doch mal schauen, wen wir hier haben“.

Die Stimme klang aufsässig mit einem Unterton von Schadenfreude. Rose saß kerzengerade hinter dem Lenkrad. Sie bewegte keinen Muskel und atmete flach.

„Hände ans Lenkrad und eine viertel Drehung nach links!“, befahl die Stimme. Ein gebündelter Lichtstrahl tastete unsicher über das Wageninnere und verharrte einen Augenblick zu lange auf dem Firmenschild ,Global Supply Systems Ltd.‘, das am Overall von Rose festgemacht war.

Rose machte keine Anstalten die Schmutzspuren ihres nächtlichen Ausflugs zu verbergen.

„Schon ein paar Einsätze gehabt, was?“, bemerkte die Stimme. „Schwarzarbeit vermute ich.“ Die Stimme klang, als habe sie fette Beute entdeckt. „Mal was nebenbei, oder?“ „Kofferraum“. Das Licht erlosch. Rose blinzelte und nahm die Hände vom Lenkrad.

„Kannst du dir nicht mal einen anderen Spruch einfallen lassen, Fred?“, rief sie dem fülligen Mann zu, der in der grauen Uniform eines Sicherheitsdienstes an der Fahrertür des Volvos lehnte. Früher war Fred Polizist gewesen und besserte seine Pension als Kaufhausdetektiv und Wachmann auf. Die Scheinwerfer des Volvos warfen Lichtflecke auf einen Flugzeughangar und zwei Pisten, die sich im Nirgendwo verloren. Die Scheibenwischer schaufelten den stärker werdenden Regen von Seite zu Seite. Fred lachte gutmütig. In dem durchsichtigen Plastiküberzug sah er aus wie die Karikatur eines Superhelden.

,Kofferraum‘. Rose konnte über den Triebwerkslärm das Wort erahnen, das der Wachmann aussprach.

„Moment, Sir.“ Rose griff hinter sich und präsentierte eine Schachtel Donuts. Schoko mit Cremefüllung und Mandelsplittern. Eine derbe Männerhand griff ins Wageninnere nach dem Karton.

„In Ordnung. Sie können passieren.“ Freds Bauch hüpfte unter dem Plastik. Seine Stimme klang zufrieden und dankbar.

„Dann bis morgen, Fred“, rief Rose, als sich das Rolltor langsam öffnete. Das kleine Ritual war beendet. ,Verstaue das Paket so, dass es nicht gefunden werden kann‘, hatte die Stimme befohlen. Rose hatte sofort gewusst, was zu tun war. „Lass es dir schmecken, Fred“, murmelte Rose und fuhr quer zum Rollfeld über eine markierte Strecke. Die Verwaltungsgebäude duckten sich in den Regen. Der Tower sah aus wie ein verwaschenes Gemälde.

 

,Mach alles wie immer‘. Rose rief sich die Mahnung ins Gedächtnis zurück, als sie darüber nachdachte, ob sie die Stechuhr betätigen sollte, die ihren Dienstbeginn markierte. Fred würde wie immer mit seinem Feldstecher in seiner unbeheizten Wachhütte kauern und ihren Weg verfolgen. Dabei würde sein Blick immer wieder auf ihrem Hinterteil verweilen. Es war ein Risiko, mit dem Volvo zu nahe an das Flugzeug heranzufahren. Der Sicherheitsdienst könnte Alarm schlagen.

,Improvisiere‘, hatte ihr die Stimme geraten und Rose improvisierte. Sie hatte die Sackkarre aus dem Hausmeisterfundus mit Reinigungsutensilien und Putzlappen beladen. Das kompakte Paket ruhte unter dem aufgetürmten Kram. Rose zog die Karre mit einem sichtbaren Hinken über den Asphalt. Einer flüchtigen Überprüfung würde die Tarnung standhalten.

Die Cargo Maschine wartete im Regen wie ein riesiges Insekt. Rose hatte den Technikern, die das Flugzeug gewartet hatten, zugenickt. Die Männer vertrieben ihre Müdigkeit mit einem Kartenspiel. Die Halle war grell beleuchtet. Jedes Geräusch klang hohl und verursachte ein Echo. Kaum jemand nahm Notiz von der müde dahin schlurfenden Putzkraft. Sie war auf dem Gelände, also gehörte sie dazu. Rose war zusammen mit Gwendolyn, einer Asylbewerberin aus Gabun eingeteilt. Asylbewerber hatten keine Arbeitserlaubnis. Das wusste auch die Reinigungsfirma. Frauen wie Gwendolyn waren erpressbar und arbeiteten für einen Hungerlohn, ohne sich zu beschweren. Gwendolyn war dankbar, dass Rose ihre Schicht mit übernahm. Gerade gewartete Maschinen waren immer sauber und man konnte mit ein paar Handgriffen den Eindruck erwecken, man habe geschuftet wie ein Sklave. Das Ergebnis konnte sich sehen lassen.

Gwendolyn würde jetzt neben ihrem kleinen Jungen schlafen und trotzdem Geld verdienen, weil Rose, die gutherzige Rose ihr gesagt hatte, sie solle einfach zu Hause bleiben und sich um ihren Jungen kümmern.

Rose wusste, dass sie den Aufseher der Putzkolonne nicht antreffen würde. Zu schlechtes Wetter, um im Freien auszuharren und zu leckerer Gin im Aufenthaltsraum der Servicekräfte. Rose hatte mit Ben telefoniert, nachdem sie auf dem Gelände war. Ben war ein großmäuliger Tunichtgut, der jede Gelegenheit nutzte, um nicht arbeiten zu müssen. Er hatte nach dem Anruf die Transportluke des Flugzeugs geöffnet und für Rose offenstehen lassen. Sollte sich die Putze bei dem Sauwetter den Tod holen. Dieses Frauenzimmer musste nicht überwacht werden. Was sollte sie schon Schlimmes anstellen. Einen terroristischen Anschlag ausführen? Lächerlich. Ben gestikulierte in Richtung seines Glases und nahm noch einen Doppelten.

Rose schloss die Transportluke, die ihr riesiges Maul mit einem metallischen Mahlen zuklappte. Rose horchte in die Stille. Sie war allein.

Die 747-8 F Triebwerke von General Electric waren durch einen Wartungstunnel zu erreichen. Rose hatte die komplexen Verkabelungspläne der Maschine genau studiert und wusste, wo sie ansetzen musste. ,Es ist wichtig, dass alles funktioniert‘, hatte ihr die Stimme eingeschärft und Rose setzte alles daran, keinen Fehler zu machen. Nach dem Auftrennen der Verpackung hatte sie die notwendigen Tests mit dem Impulsgeber durchgeführt. Die hoch energetische Ladung war einsatzbereit. Rose verstand sehr genau, wie sie das Gerät in die seitliche Bordwand unter der Verkleidung einsetzen musste. Sie studierte noch einmal prüfend die Anweisungen, die sie im Paket vorgefunden hatte. Eine LED-Anzeige zeigte eine Abfolge roter Punkte, die in rascher Folge aufleuchteten, bis sie grün zeigten. Eine Schrift erschien auf einem Display: ,Active‘. Rose wischte sich über die Stirn. Sie würde noch ein paar Kabelklemmen setzen und dann die Innenwand wieder einsetzen.

,Überprüfe alles noch einmal und verlasse dann den Flughafen‘, hatte die Stimme gesagt.

„Kofferraum“ hatte Fred am Rolltor geblafft und dabei nicht komisch gewirkt. „Was habt ihr da laufen? Zigaretten, Gold oder was?“ „Ich habe mit dem Fernglas gesehen, dass du etwas ins Flugzeug hineingeschmuggelt hast. Für wie blöd hältst du mich eigentlich?“ Rose überlegte fieberhaft. „Wie willst du das gut machen? Was willst du mir anbieten, damit ich vergesse, was ich gesehen habe und nichts davon in meinen Bericht schreibe?“

Rose beugte sich im Sitz nach vorne und sah Fred in die Augen. Ihr Blick war fest. Fest wie ein Versprechen. Sie schob den Ärmel ihres Pullovers nach oben und reichte Fred einen Kugelschreiber.

„Schreib einfach deine Handynummer auf meinen Unterarm. Du hast doch ein Handy, oder?“ Rose pausierte und befeuchtete ihre Lippen. Sie hatte Freds volle Aufmerksamkeit. „Ich ruf dich an und wir lassen uns etwas einfallen, was du sehr mögen wirst. Versprochen.‘

Fred schrieb. „Du weißt, was passiert, wenn du mich auflaufen lässt“, sagte er.

„Keine Sorge“, erwiderte Rose und legte einen Gang ein. „Du bist schneller an der Reihe als du denkst.“