Die besten 12 Strand Krimis Juni 2021

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11

Etwa zur selben Zeit leerte Bount Reiniger sein Glas. Er bezahlte nicht nur für sich, sondern auch für Richard Dodge. Der Mann war für ihn nicht unwichtig. Immerhin hatte Dodge schon einmal Kontakt mit den Truck-Hyänen gehabt. Einen Kontakt, den auch Bount Reiniger herbeiführen wollte. Aber zu günstigeren Bedingungen, wie sie Dodge erlebt hatte.

„Wie war das, als du überfallen wurdest?“, fragte Bount.

„Hör mal, warum bezahlst du für mich, Bruce?“, fragte Dodge zurück. „Du hast es doch bestimmt nicht dicker als ich.“

„Ich kann es mir leisten.“

„Ich kann selbst bezahlen, was ich konsumiert habe.“

„Daran zweifle ich nicht. Wenn du dich dadurch aber beleidigt fühlst ...“

„Das natürlich nicht, aber ...“

„Wenn wir wieder einmal hier zusammenkommen, lädst du mich ein, dann sind wir quitt, und jetzt Schwamm darüber.“

„Na schön“, sagte Dodge.

„Erzähle mir von dem Überfall. Wie sahen diese Kerle aus?“

„Gefährlich. Auf jeden Fall brandgefährlich mit ihren Maschinenpistolen. Und komisch sahen auch die bleichen Greisenmasken aus. Schlohweißes Haar hatten sie. Ich musste unwillkürlich an den Film 'Die Rentnergang' denken. Aber die Kerle hinter den alten Gesichtern sind nicht alt. Das sind junge Wölfe, denen es nichts ausmacht, zu töten, wie das Beispiel Carson zeigt.“

„Hattest du den Eindruck, einen von ihnen schon mal irgendwo gesehen zu haben?“

„Nein. Ganz bestimmt nicht.“

„Und ihre Stimmen?“

„Nie gehört.“

„Waren sie verstellt?“, fragte Bount. „Ich glaube nicht. Weißt du, dass mich die Bullen fast haargenau dasselbe gefragt haben?“

Bount lächelte. „Vielleicht steckt in mir ein verkappter Bulle, was weiß man.“

„Ja, was weiß man.“

„Kannst du mir einen Tipp geben? Wie soll ich mich verhalten, wenn ich das Pech habe, diesen drei Greisen zu begegnen?“

„Du darfst auf keinen Fall was riskieren. Greif sie nicht an. Lass sie tun, was sie sich vorgenommen haben. Hindern kannst du sie ja doch nicht daran. Sie würden dich genauso fertigmachen wie Paul Carson, wenn du versuchtest, den Helden zu spielen.“

„Ich werd’s mir merken“, sagte Bount. „Gehen wir?“

Dodge nickte und erhob sich. Die Schlägerei gehörte der Vergangenheit an. Niemand dachte mehr an sie. Niemand kümmerte sich mehr um Bount Reiniger. Er verließ mit Dodge Jack Lunas Truck-Driver-Kaschemme.

Und draußen erlebten sie eine unerfreuliche Überraschung. Der Hüne hatte die Schlägerei noch nicht vergessen. Er war weggegangen und wiedergekommen. Und er hatte seine Freunde mitgebracht!

12

Zu viert warteten sie auf Bount. Sie saßen auf den Motorhauben ihrer Wagen, die vor dem Lokal parkten. Eine Bedrohung. Eine Gefahr. Bount atmete schwer aus. „Das wird nicht leicht!“, brummte er.

„Hab keine Angst, Bruce“, sagte Dodge. „Ich bin auch noch da.“

„Wir werden untergehen.“

„Aber mit Würde“, sagte Dodge und trat einen Schritt vor. Nun stand er an Bount Reinigers Seite.

Der Hüne und seine Freunde kamen näher.

„Vielleicht schaffen wir sie mit einem Blitzangriff“, sagte Dodge leise. „Mein Wagen steht dort hinten. Der grüne Chevrolet. Wenn wir ihn mit einem kleinen Vorsprung erreichen, sind wir gerettet.“

„Mal sehen“, meinte Bount.

„Du gibst das Kommando zum Start“, raunte Dodge ihm zu.

Die vier Schläger fächerten auseinander. „Würdest du noch mal tun, was du im Lokal getan hast?“, fragte der Vierschrötige den Detektiv.

„Warum nicht?“, gab Bount Reiniger trocken zurück.

„Dann komm her, damit ich dir die Fresse polieren kann!“

„Ich würde dir gern noch mal Manieren beibringen, aber was würden deine Freunde dazu sagen?“, fragte Bount.

Der Hüne grinste. „Lass dich überraschen.“

„Ich bin kein Freund von Überraschungen.“

Die vier Schläger rückten noch näher. Bount versuchte, keinen von ihnen aus den Augen zu lassen. Er streifte auch Richard Dodge mit einem schnellen Blick. Dieser wartete mit angespannten Nerven auf das Startkommando.

„Jetzt!“, zischte Bount, und dann flogen sie den Schlägern wie vom Katapult geschleudert entgegen. Aber die vier Kerle hatten auch nicht geschlafen.

Ein Hieb traf Bounts Nacken. Er stöhnte auf und torkelte zwei Schritte vorwärts. Dort wartete der Vierschrötige gemein grinsend auf ihn. Bount Reiniger nahm zwar die Arme hoch, aber es geschah zu langsam.

Als er fiel, krümmte er sich zusammen und beschränkte sich nur noch darauf, mit den Armen Kopf und Gesicht zu schützen.

Dodge erging es nicht besser. Auch ihn schlugen die Kerle nieder. Auch ihn traten sie keuchend mit den Füßen, bis sie ihre Wut losgeworden waren. Dann ließen sie von ihnen ab, setzten sich in einen Wagen und fuhren fort.

13

Jozef Kalescu war Pole. Geboren in Danzig, aufgewachsen in Warschau. Dort war er auch zum ersten Mal so richtig verliebt gewesen. Wanka hatte die schwarzhaarige, glutäugige Schöne geheißen. Das Feuer ihrer Leidenschaft hatte ihn immer wieder aufs Neue verbrannt. Sie war fast zehn Jahre älter als er gewesen. Wanka. Gott, wie lange war das nun schon her.

Heute war Jozef Kalescu vierzig Jahre alt und lebte schon seit zwanzig Jahren in den USA. Er war amerikanischer Staatsbürger geworden, doch das hinderte diejenigen, die ihn ärgern wollten, nicht daran, ihn einen Polacken zu nennen. Er hatte eine brave Frau - sie war gleichfalls polnischer Abstammung - und zwei reizende Töchter, auf die er sehr stolz war.

Auf jeder Fahrt trug er ihre Bilder bei sich, und jedem, der sie sehen wollte, zeigte Jozef Kalescu die Fotos von seiner Familie. Für seine Frau und die Kinder brachte er jedes Opfer. Ein Zwölf-Stunden-Arbeitstag war ihm nicht zu lang, und wenn es zusätzlich etwas zu verdienen gab, sagte Kalescu niemals nein. Wer seiner Familie etwas bieten will, der muss hart arbeiten, und das tat Kalescu nun schon seit acht Jahren bei CONTINENTAL TRUCK.

Er war viel unterwegs, und er bedauerte manchmal, dass er seine Familie so selten sah. Aber es ging nicht anders, und er fand sich damit ab. Dafür brauchte seine Frau nicht zu arbeiten und konnte für die Kinder da sein.

Als er vor acht Jahren zum ersten Mal einen Wagen von CONTINENTAL TRUCK steuerte, wusste er, dass er alles erreicht hatte, was es für ihn im Leben zu erreichen gab. Es war für ihn eine große Befriedigung, mit den schweren Lastwagen durch das Land zu fahren, und es war für ihn viele Jahre ein Glücksgefühl gewesen, hinter dem Volant zu sitzen.

Doch seit sich die Überfälle auf Trucks häuften, hatte er Angst. Er war noch nie ein Held gewesen. Vermutlich hatte er deshalb auch Polen verlassen. Er hasste es, zu kämpfen. Er wollte seine Ruhe haben.

Obwohl er groß und kräftig war, ging er Schlägereien stets aus dem Wege, und er ließ sich lieber beschimpfen, als einmal seinen Standpunkt mit der Faust zu vertreten.

Als die Serie der Überfälle begann, überlegte sich Jozef Kalescu, was er zu seinem persönlichen Schutz beitragen konnte. Er spielte kurze Zeit sogar mit dem Gedanken, zu kündigen und einen anderen, ungefährlicheren Job anzunehmen. Aber damit wäre eine Geldeinbuße Hand in Hand gegangen, und das konnte sich Kalescu nicht leisten.

Also kaufte er sich eine Gaspistole, und er betete jeden Tag zur heiligen Madonna, sie möge verhindern, dass man ihn überfiel. Eine Zeit lang erhörte ihn die Madonna.

Dann aber ...

Die Straße stieg an. Jozef Kalescu kuppelte, gab Zwischengas und schaltete herunter. Das Fahren war ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Jeder Handgriff klappte mechanisch. Da brauchte Kalescu nicht mehr zu überlegen.

Kalescu war vom Lärm des Brummers eingehüllt. Plötzlich ruckte die Lenkung, und dann drehte sich das Volant wild nach rechts.

Kalescu fing es ab. Er schimpfte polnisch. Das tat er immer, wenn er sich ärgerte. Mühsam versuchte er das Fahrzeug wieder auf geraden Kurs zu bringen. Er schaffte es nicht. Mit dem rechten Vorderreifen musste etwas nicht in Ordnung sein.

Ärgerlich war das. Mitten in der Nacht eine Panne. Das Reifenwechseln bei diesen Riesenmonstern stellte einen wahren Kraftakt dar. Zum Glück kam das nur ganz selten vor.

Verdrossen steuerte Jozef Kalescu den Truck rechts an den Straßenrand. Er stellte den Motor ab und zog die Handbremse an. Dann stieg er aus, um sich den Schaden am rechten Vorderreifen anzusehen.

Dass diese Panne mit einem Überfall zusammenhängen könnte, fiel ihm nicht ein. Zornig trat er gegen den platten Vorderreifen. Eine polnische Schimpfkanonade kam über seine Lippen.

Widerwillig krempelte er seine Ärmel hoch. Als er darangehen wollte, das Werkzeug zu holen, vernahm er hinter sich ein Geräusch. Er wirbelte herum und erstarrte, denn vor ihm standen zwei „Greise“. Ein dritter gesellte sich im nächsten Moment zu ihnen!

14

Bount atmete tief durch. Die Rolle, die er übernommen hatte, verlangte ihm einiges ab. Sie war mächtig strapaziös. Hoffentlich führte sie demnächst auch zum Erfolg. Sein ganzer Körper war eine einzige Quelle des Schmerzes. Er biss die Zähne zusammen und erhob sich.

Vier Schritte von ihm entfernt lag Richard Dodge. Mit unsicheren Schritten begab Bount sich zu dem Truck-Driver. „Bist du okay, Richard?“

„Ich war schon mal besser in Form“, ächzte Dodge.

„Ich auch.“

 

Dodge erhob sich. Bount war ihm dabei behilflich. „Jetzt weiß ich, wie es ist, wenn man durch den Wolf gedreht wird“, sagte der Truck-Driver und grinste schief. Er tastete sein Gesicht ab. „Alle Verzierungen sind noch dran, das ist die Hauptsache.“

„Du wirst dich beim Rasieren morgen früh gerade noch wiedererkennen.“

„Das genügt schon“, sagte Dodge. Er löste sich von Bount, machte zwei schwankende Schritte und lehnte sich schwer atmend an einen Wagen. „Wir haben zwar verloren, Bruce, aber mit Anstand. Wir haben diesen Brüdern einiges aufzulösen gegeben, und das gibt mir Berge. So einfach, wie sie sich das vorgestellt hatten, haben wir es ihnen nicht gemacht.“

„Natürlich nicht. Schließlich sind wir keine heurigen Hasen.“ Bount führte Dodge zu seinem Wagen. Der Truck-Driver wollte sich hinter das Steuer klemmen. „Hör mal, in deinem Zustand kannst du nicht fahren“, sagte Bount Reiniger.

„Fahren kann ich immer“, widersprach Dodge.

„Rutsch rüber. Ich bringe dich nach Hause.“

Widerspruchslos gehorchte der Truck-Driver. Bount setzte sich hinter das Steuer und schob den Zündschlüssel ins Schloss.

Es war nicht weit bis zu dem Haus, in dem Dodge wohnte. Der Truck-Driver bestand darauf, dass Bount noch mit nach oben kam. Dodges Wohnung war klein, aber ordentlich instand gehalten. Der Truck-Driver bereitete zwei Drinks. Einen brachte er Bount Reiniger.

„Wir haben uns gut geschlagen, Bruce. Darauf möchte ich trinken. Und darauf, dass du eine echte Bereicherung für unsere Crew bist. Ich denke, wenn die Banditen dich überfallen, könnten sie zum ersten Mal Schwierigkeiten kriegen. Du bist besser als wir alle. Du hast Köpfchen und verstehst knallhart zu fighten. Damit hast du uns, und bestimmt auch den Gangstern, einiges voraus.“ Bount nippte nur an seinem Glas. Er hatte noch das Gelage mit Toby Rogers in Erinnerung, und die Nachwirkungen.

„Und morgen“, sagte Richard Dodge grinsend, ;,lassen wir uns wieder in Jack Lunas Truck-Driver-Kaschemme blicken, damit die Brüder sehen, dass wir keine Angst vor ihnen haben.“

15

Jozef Kalescu hatte das Gefühl, ein Eissplitter würde ihm ins Herz fahren. Das, wovor er sich so sehr gefürchtet hatte, war eingetreten. Ein Überfall! Unzählige Male hatte er sich eine solche Situation vorzustellen versucht. Eine Menge Varianten hatte er im Geist durchgespielt. Auch Verhaltensmaßregeln hatte er sich zurechtgelegt. Doch nun, wo der Überfall wirklich passierte, hakte sein Verstand aus. Er drehte durch.

Seine Hand zuckte zum Gürtel. Er riss die Gaspistole heraus. Schreiend warf er sich den Maskierten entgegen. Dem einen hieb er die Pistole auf den Kopf. Es war Charles Marcuse, der benommen auf die Knie sackte. Dem zweiten versetzte Kalescu einen Rammstoß, der den Mann drei Schritte zurückbeförderte, und in das Greisengesicht des dritten feuerte Kalescu die Gaspistole ab.

Banninger warf sich zur Seite. Trotzdem bekam er etwas von der Gasladung ab. Ein heiserer Schrei entrang sich seiner Kehle. Sofort war ein höllisches Brennen in seinen Augen, und seine Atemwege schienen verätzt zu sein. Er hustete und japste nach Luft.

Kalescu stürmte an ihm vorbei und warf sich atemlos in die Büsche. Charles Marcuse federte wutentbrannt hoch. Er stemmte die Maschinenpistole in die Seite und ließ sie hämmern.

Die Kugeln fetzten in den Busch und rissen Blätter und Zweige ab. Da Kalescu jedoch rechtzeitig einen Haken geschlagen hatte, kam er mit heiler Haut davon. In heller Panik jagte er über eine große Wiese auf einen Hang zu, hinter dem er sich Schutz und Sicherheit erhoffte.

Marcuse sah ihn und feuerte ihm sofort wieder nach.

„Hör auf!“, schrie Tiggers. „Warum ballerst du wie verrückt hinter ihm her? Lass ihn laufen!“

„Der Hund hat mir eine Beule geschlagen!“, schrie Marcuse wütend zurück.

„Na wenn schon.“

„Niemand schlägt mir ungestraft eine Beule!“, schrie Charles Marcuse aufgebracht. „Niemand!“

„Unsere Aufgabe ist es, uns um den Truck zu kümmern, nicht um den Fahrer.“

„Macht ihr zwei das“, verlangte Marcuse. „Ich hole mir den Driver.“

„Charles, so nimm doch Vernunft an. Eliot fällt für eine Weile aus.“

„Interessiert mich nicht. Ich hole mir den Bastard.“

„Das wird dem Boss nicht gefallen, Charles.“

„Kümmere dich um deinen eigenen Kram!“, schnauzte Marcuse den Komplizen an. „Ich weiß, was ich tue, und ich will diesen Kerl haben. Was er getan hat, kriegt er wieder. Und mehr als das.“

Marcuse kümmerte sich nicht weiter um den Truck und seine Komplizen. Sein Rachedurst war so groß, dass er ihn einfach nicht unterdrücken konnte. Mit schussbereiter Maschinenpistole nahm er die Verfolgung des Truck-Drivers auf.

„So ein Idiot!“, knurrte Victor Tiggers. „Wenn er rabiat wird, kann man nicht mehr mit ihm reden.“ Banninger hustete immer noch. Er hatte sich die Greisenmaske vom Gesicht gerissen und die MPi fallengelassen. Tiggers ging zu ihm.

„Scheußlich, so eine Ladung mitten in die Visage zu kriegen, was?“ „Kann ... man ... wohl ... sagen

„In ein paar Minuten geht es dir wieder besser“, meinte Tiggers. Er hob die MPi des Freundes auf, nahm ihm die Maske aus der Hand und führte den Komplizen zum Truck. „Steig ein. Soll der Blödmann machen, was er will. Wir halten uns an unsere Weisungen.“

Hustend kletterte Banninger in das Fahrerhaus.

„Auf jeden Fall werde ich dem Boss von Charles’ Extratour berichten. Der wird ihn ganz schön zusammenstauchen, darauf kannst du dich verlassen“, sagte Tiggers. „So etwas dürfen wir nicht einreißen lassen. Wenn Charles solche Anfälle öfter kriegt, geraten wir noch mal in Teufels Küche. Man muss ihn zurückpfeifen. Künftighin wird mehr auf das gehört werden müssen, was ich sage. Das stelle ich zur Bedingung. Wenn der Boss damit nicht einverstanden ist, steige ich aus. Ich bin schließlich nicht mein eigener Feind und lasse mich wegen Charles’ Verrücktheiten einlochen.“

Tiggers setzte sich hinter das Steuer des Lastwagens von CONTINENTAL TRUCK. Er startete den kräftigen Motor und fuhr mit dem kaputten Vorderrad weiter. Sie brauchten nur etwa eine halbe Meile zurückzulegen.

Dort wartete dann abseits von der Straße ein anderer Truck auf sie. Der Boss persönlich hatte ihn hingebracht. Nach dem Umladen würden sie mit dem anderen Fahrzeug nach New York zurückkehren und die Beute dorthin schaffen, wo man sie bereits erwartete.

16

Jozef Kalescu war im Zweifel. Hatte er richtig gehandelt? Wäre es besser gewesen, sich einfach zu ergeben, sich zusammenschlagen zu lassen? Wie gesagt, Kalescu war kein Held. Er hatte selbst vor einem Schlag auf den Kopf Angst. Niemand konnte ihm garantieren, dass er aus seiner Ohnmacht wieder erwacht wäre. Und dann die Schmerzen. Nein, es war richtig gewesen, die Flucht zu ergreifen. In der Flucht lag die Rettung.

Atemlos erreichte Kalescu das obere Ende des Hügels. Er blickte sich gehetzt um. Dort befand sich die Straße. Er sah die beiden Gangster im Licht der Scheinwerfer. Er sah aber auch einen Verbrecher, der hinter ihm herrannte. Sofort übersprang sein Herz einen Schlag.

„Oh Gott!“, entfuhr es ihm. Diesem Truck-Räuber genügte die Beute nicht. Damit allein gab er sich nicht zufrieden. Er wollte auch noch ihn, Jozef Kalescu. Der Gangster wollte sein Leben.

Der Truck-Driver hastete den Hügel auf der anderen Seite hinunter. Er stolperte und fiel. Mehrere Yards kugelte er über den unebenen Boden. Dabei verlor er die Gaspistole.

Es war keine Zeit, sie sich wiederzuholen. Ängstlich sprang Kalescu auf und rannte weiter, auf drei Landhäuser zu, in denen nirgendwo Licht brannte. Ihre Besitzer wohnten hier vermutlich nur am Wochenende. Wochentags waren die Häuser verwaist.

Hilfe war da nicht zu erwarten. Dennoch lief Kalescu den Häusern entgegen, denn sie boten ihm die Möglichkeit, sich zu verstecken. Sein Vorsprung hatte sich durch den Sturz verringert.

Charles Marcuse tauchte oben auf dem Hügel auf. Er jagte hinter dem Fliehenden eine Garbe her. Kalescu zuckte zusammen, als die Waffe des Gangsters loshämmerte. Instinktiv nahm er den Kopf nach unten und rannte mit gekrümmtem Rücken weiter, immer wieder blitzschnell einen Haken schlagend.

Die Geschosse des Gangsters hieben neben seinen Beinen in die Erde und rissen Löcher, aber mehr Schaden richteten sie nicht an. Kalescu erreichte das erste Haus. Ein Bungalow mit flachem Dach und schiefergrauer Dachblende. Mannshohe Koniferen bildeten einen lebenden Zaun, durch den sich der Truck-Driver warf.

Er musste irgendwie in das Haus gelangen. Bestimmt gab es darin Telefon. Ein Anruf bei der Polizei, und Hilfe würde kommen. Kalescu eilte über eine breite Terrasse aus Waschbeton.

Die Kellerfenster waren vergittert. Vor den Terrassentüren waren die hölzernen Fensterläden geschlossen. Aber bei einem Fenster war der Fensterladen nicht ganz herabgelassen. Sofort machte sich Kalescu an die Arbeit. Er brauchte nur wenige Minuten, dann hatte er den Rollladen hochgedrückt. Anschließend schlug er die Scheibe ein. Klirrend fielen die Scherben nach innen. Durch die entstandene Öffnung kroch der Truck-Driver ins Haus. Er versuchte, sich schnellstens zu orientieren. Sein Herz hämmerte aufgeregt gegen die Rippen. Fingerdick glänzte der Schweiß auf seiner Stirn.

Er brauchte Hilfe.

Aber würde diese Hilfe nicht zu spät kommen?

War der Killer nicht bereits zu nahe?

Kalescu eilte durch den Flur. Rechts ging es zur Eingangstür. Er vernahm draußen Schritte, und das Herz blieb ihm vor Schreck beinahe stehen. So nahe war der Gangster ihm schon!

Die Schritte näherten sich der Tür. Jozef Kalescu presste sich an die Wand. Er wagte nicht zu atmen. Der Killer erreichte die Tür. Gleich darauf bewegte sich die Klinke.

Kalescu schluckte schwer. Was würde der Gangster nun tun? Würde er das Schloss einfach aufschießen? Die Schritte entfernten sich.

Der Killer lief vorne um das Haus herum. Kalescu riss eine Tür auf. Automatisch flammte Licht auf. Vor dem Truck-Driver lag ein begehbarer Schrank. Kalescu machte kehrt.

Er öffnete eine andere Tür und gelangte in ein großes Arbeitszimmer. An den Wänden standen Bücherregale. Es gab ein chintzbezogenes Sofa, eine Leseecke, einen Schreibtisch, einen Relaxing-Stuhl, und ein Telefon auf dem Schreibtisch.

Kalescu stürzte sich auf den Apparat. Er riss den Hörer von der Gabel und wischte sich den Schweiß mit dem Ärmel vom Gesicht. Polizeinotruf. Wie war doch gleich die Nummer?

Jozef Kalescu tippte die erste Zahl. Sein zitternder Finger erwischte die falsche Taste. Der Truck-Driver war so aufgeregt, wie noch nie zuvor in seinem Leben.

Er schlug nervös auf die Gabel, fing noch einmal zu wählen an. Ein knirschendes Geräusch ließ ihn herumfahren. Er starrte zur offenen Arbeitszimmertür.

Noch war niemand zu sehen, aber es näherte sich jemand. Kalescu hatte das Gefühl, der Telefonhörer wäre auf einmal zentnerschwer.

Sekunden vertickten. Eine Zeit, in der Jozef Kalescu nicht imstande war, etwas zu tun. Und dann war für ihn alles zu spät. Charles Marcuse tauchte auf. Der Killer hatte sein Opfer gefunden.

Durch die Sehschlitze der Greisenmaske blitzten seine Augen. Grausam, mitleidlos. Jozef Kalescu ließ den Hörer fallen. Er schüttelte mit verzweifelter Miene den Kopf.

„Nein! Nein!“, stöhnte er. „Ich bitte Sie, tun Sie es nicht ...“

Marcuse hob langsam den Lauf der Maschinenpistole. Die Mündung wies Augenblicke später auf Jozef Kalescus Brust, in der sein Herz wild hämmerte. Wie lange noch?

„Warum?“, jammerte Kalescu. „Warum wollen Sie mich töten?“

„Du hast mich angegriffen!“

„Es ... es tut mir leid ... Wirklich ...“

Marcuse lachte schnarrend. „Ach, wirklich?“

„Ja, es tut mir unendlich leid.“

„Okay. Dann tut es mir auch leid, dich zu killen. Aber ich tu’s trotz dem.“ Marcuse zog den Stecher seiner Waffe durch. Die MPi fing zu rattern an. Feuerzungen leckten aus dem Lauf.

Zahlreiche Kugeln trafen den Truck-Driver. Der Mann wurde von den Geschossen gegen die Wand geworfen.

Er riss Augen und Mund weit auf, als könne er nicht fassen, dass dies wirklich sein Ende war. Seine Arme flogen hoch, die Handrücken klatschten gegen die Tapete. Er sackte langsam nach unten.