Die besten 12 Strand Krimis Juni 2021

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24

Überall Polizei, und die Männer waren schwer bewaffnet. Simon Struck stand auf der eisernen Treppe und lachte zu ihnen hinunter. Er schickte noch ein paar Feuerstöße aus seiner Maschinenpistole hinter, dann horchte er auf den Widerhall und lachte noch einmal. Es war ihm vollkommen bewusst, das diese Situation absolut lächerlich wirkte, aber schließlich verdiente er nun einmal auf diese Art seinen Lebensunterhalt.

Jetzt schossen die Polizisten zurück. Simon duckte sich hinter das schwere Geländer. Vom gegenüberliegenden Gebäude richteten sich Scheinwerfer auf ihn. Die Explosionen der Pistolen und Maschinengewehre wurden immer lauter. Vor ihm auf der Treppe explodierte eine Tränengasgranate. Simon leerte sein Magazin mit einem lauten Schrei, dann flüchtete er weiter nach oben. Im selben Augenblick erreichte einer der Polizisten die unterste Treppenstufe und feuerte auf Simon.

Durch den Stuntman ging ein Zittern. Er kam noch einmal hoch und stürzte dann über das Geländer in die Tiefe. Sofort wurde es still. Keine Schüsse waren mehr zu hören.

„Gestorben!“, rief der Regisseur.

Rings um das Aufnahmeteam begannen wieder Hunderte von individuellen Gesprächen. Maskenbildner bemühten sich um die verschwitzten Darsteller, Scriptgirls blätterten im Drehbuch, und der Regisseur kümmerte sich um Simon Struck, der nach seinem Sturz auf einem Luftkissen gelandet war. Er winkte dem Schauspieler zu und hielt den Daumen nach oben. Lächelnd marschierte Simon an den Rand des Luftkissens und sprang mit der Geschmeidigkeit eines Berufsathleten auf den Boden. Und genau das war er ja auch. Früher hatte er weitaus gefährlichere Stunts hinter sich gebracht.

„Dem Himmel sei Dank“, sagte Joswig, während er auf Katharina zukam. „Der Film ist im Kasten. Jetzt kommt es nur noch darauf an, dass wir ihn problemlos nach Hause bringen.“

„Darüber brauchen Sie sich keine Sorgen mehr zu machen“, erwiderte Katharina. „Ich bin inzwischen zu einem Abschluss gekommen.“

„Soll das heißen, Sie wissen, wer hinter allem steckt?“, erkundigte er sich.

Katharina nickte. „Ja, ich weiß es. Mein Verdacht hat sich bestätigt.“

„Und wer war es?“, fragte Joswig gespannt.

„Das hat noch Zeit bis heute Abend“, sagte Katharina ausweichend. „Wir sehen uns dann im Hotel wieder.“

„Was soll die Geheimniskrämerei?“

„Ich habe meine Gründe. Sorgen Sie bitte dafür, dass dieser Commissario Cariddi ebenfalls heute Abend anwesend ist.“

„In Ordnung.“

25

Langsam füllte sich der Saal. Die Männer und Frauen nahmen ihre Plätze an den Tischen ein. Auf allen Gesichtern lag derselbe Ausdruck: Erwartung, mit Furcht gemischt. Commissario Stefano Cariddi und zwei Polizeibeamte saßen in der Nähe des Ausgangs. Joswig hatte die Rolle des Dolmetschers übernommen. Das Gemurmel erstarb, als Katharina sich von ihrem Stuhl erhob. Sie räusperte sich und begann.

„Meine Damen und Herren, es handelt sich um die Untersuchung der Ermordung von Jannick Wolfe. Sie alle kennen die Tatsachen des Falls. Herr Wolfe wurde während der Dreharbeiten zu Blutige Meute umgebracht. Einige glauben sicherlich, dass es sich um einen Unfall handelte, dass dem Waffenmeister ein Fehler unterlaufen sei, und dass er anstelle von Platzpatronen echte Munition in das Magazin einer der Waffen getan hat. Doch das ist ein Irrtum. Wolfes Tod geschah mit voller Absicht. Er war sozusagen der Höhepunkt einer Inszenierung, die schon in Berlin begann, als zwei Männer in das Kopierwerk einbrachen und einige Negative des Films stahlen, um ihn anschließend für eine Erpressung zu benutzen. Und obwohl die geforderte Summe bezahlt wurde, waren die Negative unbrauchbar.“

Sie machte eine kurze Pause, bevor sie fortfuhr.

„Im ersten Moment sah es so aus, als sei den Erpressern ein Missgeschick unterlaufen, aber auch das ist ein Irrtum. Das Negativ wurde mit voller Absicht unbrauchbar gemacht. Das Motiv für diese Tat ist ebenso simpel wie einleuchtend. Jemand wollte, dass die beschädigten Szenen nachgedreht werden mussten.“

„Aber wozu?“, fragte Joswig.

„Ist das so schwer zu erraten?“, fragte Katharina. „Bei dieser ganzen Geschichte ging es nie um Geld oder um Erpressung. Jannick Wolfe musste sterben, damit Simon Struck seinen Platz einnehmen konnte.“

Der Stuntman schoss wie eine Rakete von seinem Stuhl hoch. „Ich konnte Sie bisher ganz gut leiden!“, stieß er hervor. „Aber das geht zu weit!“

„Was Sie nicht sagen“, fuhr Katharina fort.

„Worauf wollen Sie überhaupt hinaus?“

„Nun“, meinte die Detektivin. „Ich wollte Sie fragen, was Sie mit der halben Million gemacht haben, die …“

„Sie sind wohl wahnsinnig geworden, mich mit der Geschichte in Verbindung zu bringen, was?“, rief er aus. „Kommen Sie jetzt nur noch mit der Behauptung, ich hätte Jannick Wolfe umgebracht, dann …“

„Sie nehmen mir das Wort aus dem Mund“, unterbrach Katharina ihn ruhig.

„Blödsinn“, fauchte Simon. „Ich habe ein Alibi für die Zeit, als Wolfe erschossen wurde. Ich stand neben dem Regieassistenten. Fragen Sie ihn. Er wird meine Aussage bestätigen.“

„Das glaube ich Ihnen.“

„Na also, was soll dann der ganze Zirkus?“

„Ich habe nicht behauptet, dass Sie Jannick Wolfe erschossen haben. Das hat ihr Komplize besorgt.“

„Mein Komplize? Wer soll denn das sein?“

„Der dunkelhaarige Mann, mit dem Sie sich vorgestern im Restaurant getroffen haben. Vermute ich zumindest.“

„Aha, Sie vermuten also“, erwiderte Simon in einem überheblichen Tonfall. „Was kommt denn als Nächstes? Sagen Sie uns auch noch die Lottozahlen vom nächsten Samstag voraus? Nur zu. Ich würde sofort einen Spielschein ausfüllen. Dann wäre ich innerhalb kürzester Zeit Millionär.“

„Ihr Plan war gut“, fuhr Katharina unbeeindruckt fort. „Aber nicht so gut, dass ich nicht über einige Fehler gestolpert wäre, die Sie gemacht haben.“

„Da bin ich aber neugierig“, höhnte Simon.

„Das dürfen Sie auch sein“, entgegnete Katharina. „Der entscheidende Anhaltspunkt war Ihre Eitelkeit, endlich an Jannick Wolfes Stelle zu treten. Und dazu war Ihnen jedes Mittel recht. Zuerst musste die Sache mit den gestohlenen Filmen über die Bühne gehen, bevor Sie zur eigentlichen Tat schreiten konnten. Sie hatten sich während der ersten Dreharbeiten hier in Rom in Sophie verliebt, aber keine Gelegenheit gehabt, Wolfe zu beseitigen. Es fiel Ihnen schwer, immer im Schatten Wolfes arbeiten zu müssen. Sie besprachen die Sache mit Ihrem Komplizen, der sofort bereit war, mitzumachen. Ihr Plan verschlang viel Geld, und da kamen Sie auf die Idee, die Filmnegative zu stehlen, da Sie sich in Brankovs Kopierwerk gut auskannten.“

„Sie sollten Drehbücher schreiben“, sagte Simon gelassen.

„Ich bin noch nicht fertig“, fuhr Katharina fort. „Commissario Cariddi hat sich ein wenig in Ihrem Hotelzimmer umgesehen. Und was glauben Sie, hat er dort gefunden?“

Sie gab Cariddi ein Zeichen. Der Mann erhob sich und trat neben Katharina. In seiner rechten Hand hielt er einen weißen Pappkarton. Die Detektivin sah sofort, dass Simon bei seinem Anblick blass wurde.

„Was glauben Sie, was da drin ist?“, fragte Katharina.

Simon zuckte mit den Schultern. „Bin ich Hellseher?“

„In dieser Schachtel befindet sich einer der Erpresser. Und zwar jener Mann, der in meiner Wohnung erschienen war, um den Austausch vorzunehmen.“

Commissario Cariddi öffnete die Schachtel. Der Inhalt bestand aus einer blonden Perücke, blonden, buschigen Augenbrauen und blauen Kontaktlinsen.

„Was sagen Sie nun?“, erkundigte sich Katharina. „Sind Sie immer noch der Ansicht, dass ich mich irre?“

Simon Struck antwortete nicht.

„Ich hatte Sie schon seit einiger Zeit in Verdacht. Allein ihre gekonnte Flucht aus meiner Wohnung hätte mich darauf bringen sollen, dass ich es mit einem durchtrainierten Mann zu tun haben könnte. Natürlich wäre es ein Leichtes gewesen, Sie sofort verhaften zu lassen, aber ich dachte an Eckard Joswig und daran, dass er seinen Film endlich zu Ende drehen wollte. Nur deshalb konnte ich den Commissario auch davon abbringen, Sophie festzunehmen.“

„Sie spinnen“, sagte Simon aufgebracht. „Wo bleiben die Beweise?“

„Die können Sie haben. Ihr Komplize hat bereits ein umfangreiches Geständnis abgelegt.“

„Mein Komplize? Wer soll denn das sein?“

„Sie wissen schon, der dunkelhaarige Kerl, mit dem Sie sich im Restaurant getroffen haben. Die Polizei hat ihn heute Nachmittag am Flughafen festgenommen. Er hat bereits gestanden. Den Einbruch in das Kopierwerk, die Erpressung, den Überfall auf Rudolf Thielke und … den Mord an Jannick Wolfe.“

Während sich die Aufmerksamkeit der Anwesenden auf Simon konzentrierte, hatte niemand auf Sophie Rosenbruck geachtet. Sie sprang hoch und stürmte auf Katharina zu.

„Lassen Sie ihn in Ruhe!“

Die Detektivin packte sie am Arm und wirbelte die Frau herum. Sophie landete auf dem Boden. Dennoch gab sie nicht auf. Sofort schnellte sie hoch, sprang Katharina an und versuchte, ihr mit ihren langen Fingernägeln das Gesicht zu zerkratzen. Aber die Detektivin fing Sophies Hände ab und hielt sie fest.

„Hören Sie auf!“, rief Katharina. „Sind Sie wahnsinnig?

Sophie gebärdete sich wie eine Psychopathin. Sie hatte Kraft, kannte Tricks. Beinahe schaffte sie es, einen Arm freizubekommen, doch Katharina hatte während ihrer Polizei-Ausbildung einen Kurs in Selbstverteidigung absolviert. Sie versetzte Sophie ein paar heftige Schläge. Die junge Frau wurde gegen eine Wand geschleudert, sank daran zu Boden und blieb reglos sitzen. Sie war nicht tot, sondern nur bewusstlos.

 

Niemand hatte in diesem Augenblick auf Simon Struck geachtet, der langsam Richtung Ausgang schlich. Und als sie es bemerkten, war es bereits zu spät, um einzugreifen. Blitzschnell war der Stuntman nach draußen gerannt. Bremsen quietschten. Ein dumpfer, berstender Laut war zu hören und vermischte sich mit einem infernalischen Schrei. Sekunden später krachte ein Körper auf den Asphalt. Katharina und die anderen liefen nach draußen.

Zögernd ging die Detektivin zu der reglosen Gestalt. Simon lag in einer seltsam verkrümmten Haltung auf dem Boden. Seine Glieder wirkten, als hätten sie zu viele Gelenke, und der Asphalt unter ihm färbte sich langsam dunkelrot. Man musste nicht unbedingt Medizin studiert haben, um zu erkennen, dass der Mann tot war. Der Lastwagen hatte ihn fast zwanzig Meter durch die Luft geschleudert. Kein Mensch konnte diesen Aufprall überleben. Hinter Katharina erklangen hastige Schritte. Der Lkw-Fahrer hatte seinen Sattelzug zum Stehen gebracht und kam mit wachsbleichem Gesicht angerannt.

„Ich – ich habe versuchte, zu bremsen“, stammelte er in akzentfreiem Hochdeutsch. Dem Kennzeichen zufolge kam der Wagen aus Hamburg. „Aber es ging nicht. Er – er ist mir direkt vor den Wagen gelaufen. Ich konnte nichts machen.“ Seine Stimme zitterte, und auf seiner Stirn perlte kalter, glänzender Schweiß. „Ich konnte überhaupt nichts machen. Er ist einfach …“

Er verstummte. Sein Blick fiel auf den Toten und auf das Blut. Er wurde noch blasser, als er ohnehin gewesen war.

„Machen Sie sich keine Sorgen“, sagte Katharina. „Es ist nicht Ihre Schuld.“

26

Katharina schloss die Wohnungstür auf, trat ein und stellte die Reisetasche ab. Gerade als sie ihren Mantel auszog, klingelte das Telefon. Sie nahm den Hörer ab, bevor der Anrufbeantworter ansprang.

„Ledermacher.“

„Hallo. Guten Tag. Hier ist Petrowski von der Vital-Sauna.“

„Aha.“

„Sie erinnern sich doch bestimmt noch daran, dass man Ihnen Bargeld und Ihre Armbanduhr gestohlen hat.“

„Ja.“

„Nun, ich kann Ihnen die gute Nachricht mitteilen, dass wir den Dieb gefasst haben.“

„Das ist ja toll.“

„Nicht wahr?“

„Konnte das Bargeld sichergestellt werden?“

„Äh … leider nicht.“

„Und was ist mit meiner Uhr?“

„Tja, also, die ist leider auch verschwunden. Aber die Polizei sucht noch danach.“

„Gut, ich verstehe.“

„Vielleicht sollten Sie mal dort nachfragen“, schlug er vor.

„Mache ich.“

Eine kurze Pause entstand.

„Ja, dann Wiederhören“, sagte er schließlich. „Ich wollte Sie nur informieren.“

„Vielen Dank.“

Katharina legte den Hörer auf den Apparat, nahm ihre Reisetasche und ging ins Schlafzimmer, um ihre Sachen auszupacken. Der Verlust der Armbanduhr ging ihr sehr nahe. Normalerweise machte sie sich nicht viel aus derartigen Gegenständen, aber diese Uhr war ein Geschenk von Robert gewesen. Sie konnte nur hoffen, dass sie eines Tages wieder auftauchte. Ihr Blick fiel auf das Kopfkissen. Dort lag eine Schachtel Pralinen mit einem kleinen Zettel. „In Liebe Robert“, stand dort. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.

ENDE

DER KILLER WARTET ...
von Alfred Bekker

Ein Sauerland-Krimi

© dieser Ausgabe 2015 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

© 1998 Alfred Bekker; All rights reserved.

www . AlfredBekker . de

postmaster @ alfredbekker . de

Der Umfang dieses Buchs entspricht 148 Taschenbuchseiten.

1

Norbert Wolf erstarrte, als er in den Pistolenlauf blickte.

"Keine Bewegung", kam es dumpf unter dem Motorradhelm hervor. Der Mann, der plötzlich aus der Dunkelheit heraus aufgetaucht zu sein schien,trug eine schwarze Lederkluft. Das Helmvisier war heruntergelassen, so dass nicht einmal seine Augen zu sehen waren.

"Was wollen Sie?", fragte Wolf."Die Tageskasse ist schon weg. Ich habe gerade dreißig Mark im Portemonnaie..."

"Mund halten!", erwiderte der Maskierte kalt. Er deutete mit dem Pistolenlauf auf die Eingangstür des Baumarktes Dörner, die Norbert Wolf gerade hinter sich abgeschlossen hatte.

"Mach wieder auf!", kam es dumpf unter dem Helm hervor.

Wolf starrte den Unbekannten fassungslos an. Mit der Schulter lehnte er sich dabei gegen die Aufschrift DER GROSSE LÜDENSCHEIDER BAUMARKT - DIE NUMMER EINS IN SÜDWESTFALEN. Ein Slogan, der schon lange nichts mehr mit der Wahrheit zu tun hatte.

Ein leichtes Zittern erfasste Wolfs Hände, als er schließlich zögernd den Schlüssel wieder ins Schloss steckte und herumdrehte.

"Reingehen!", befahl der Maskierte.

Er stieß Wolf dabei schmerzhaft den harten Pistolenlauf in die Seite.

Wolf wurde totenbleich. Er schluckte.

"Klar doch", sagte er. "Ganz ruhig, ja? Ganz ruhig, ich mache ja alles, was Sie sagen!"

Angstschweiß perlte auf Wolfs Stirn. Er ging durch die Tür.

Der Maskierte folgte ihm und zog dabei den Schlüssel aus dem Schloss heraus.

Im Inneren des Baumarktes herrschte eine Art Halbdunkel.

Die einzigen Lichtquellen waren die Laternen auf dem Parkplatz, die durch die großen Scheiben hereinleuchteten.

"Soll ich Licht machen?", fragte Wolf.

"Nein, kein Licht."

"In den Kassen ist nur noch Wechselgeld!"

"Scheiß auf die Kasse!", kam es wie eine Drohung unter dem Helm hervor. Der Maskierte gestikulierte nervös mit der Waffe herum. "Los, vorwärts!", knurrte er dann.

"Wohin?"

"Werde ich dir schon sagen!"

Sie gingen an den Kassen vorbei, von denen es im Dörner-Baumarkt insgesamt drei gab. Der Maskierte trieb Wolf zwischen den hohen Regalschluchten hindurch, vorbei an den riesigen Rollen mit preiswertem Teppichboden und den Steckelementen, aus denen sich der geschickte Heimwerker Regalwände fertigen konnte. Gute fünfhundert Quadratmeter hatte dieser Baumarkt. Und er war eine Art Labyrinth.

Irgendwann langte der Maskierte ins Regal.

Er holte sich eine Rolle extrabreites Gewebeband heraus.

Metallfarben. Wolf sah es aus den Augenwinkeln. Es war ihm anzusehen, wie sehr ihn die Frage beschäftigte, was das zu bedeuten hatte. Kein Mensch veranstaltete so ein Theater, um eine Rolle Isolierband zu stehlen... Das wusste auch Norbert Wolf.

Bei der Holzabteilung befand sich ein Informationsstand.

Der Maskierte ließ den Blick schweifen.

Dann blickte er hinter den Tresen.

"Setz dich auf den Stuhl dort!", wies er Wolf unmissverständlich an.

Wolf atmete tief durch. "Hören Sie, was wollen Sie eigentlich. Ich mache Ihnen keine Schwierigkeiten... Ich..."

"Ich will dein Gerede nicht hören!", erwiderte der Maskierte kalt. "Auf den Stuhl..."

Wolf keuchte. Panik erfasste ihn.

"Sie waren das, nicht wahr? Sie haben mich angerufen und diese Briefe geschickt... Sie..."

"Auf den Stuhl!"

Wolf gehorchte. Er setzte sich auf den schon ziemlich durchgesessenen Drehstuhl. Es quietschte dabei.

"Hände auf den Rücken!", kam der Befehl des Maskierten.

Wolf gehorchte. Und in der nächsten Sekunde bekam er einen brutalen Schlag mit dem Pistolenlauf gegen die Schläfe.

Benommen sackte Wolf in sich zusammen. Der Maskierte legte die Waffe auf den Tresen und packte das Isolierband aus der Folie. Und dann begann er damit, Wolf regelrecht einzuwickeln. Er band die Arme nach hinten und verklebte sie mit dem Stuhl. Dann bog er grob die Beine unter den Stuhl und schnürte die Füße mit den Händen zusammen. Wolf stöhnte. Er schien wieder zu sich zu kommen.

Bevor er etwas lauter werden konnte, hatte der Maskierte ihm allerdings auch den Mund verklebt.

Dann drehte der Maskierte den Rollstuhl herum.

Wolf sah ihn trübe an. Angst leuchtete aus seinen blassblauen Augen.

Der Maskierte musterte sein Opfer einen Augenblick lang durch das geschlossene Helmvisier.

Dann gab er dem Stuhl einen Tritt.

Etwa zwei Meter entfernt befand sich eine Stufe. Der Stuhl fiel krachend zu Boden. Ein dumpfes Ächzen kam unter dem Klebeband hervor. Wolfs Augen waren vor Angst geweitet. Er lag hilflos am Boden und versuchte verzweifelt, sich zu bewegen. Wie ein eingesponnenes Insekt in einem Spinnennetz.

Der Maskierte nahm die Waffe wieder an sich und betrachtete den am Boden Liegenden.

Dann hob er die Waffe, zielte und drückte ab.

Wolf schloss die Augen.

Es machte klick.

Die Pistole war nicht geladen. Ein dumpfes Lachen dröhnte unter dem Helm hervor, während auf Wolfs Stirn die Schweißperlen glitzerten.

2

Moeller setzte das Saxophon an den Mund. Ein rauer, knarrender Ton kam heraus und bildete das erste Element einer flirrenden Tonkaskade.

Moeller schloss die Augen.

Über der leicht swingenden Basslinie des Miles Davis-Standards SO WHAT entwickelte er seine Improvisation. Ein steter Fluss roher, kantiger Töne sprudelte aus seinem Horn.

Appeggi, die manchmal etwas neben der Tonart waren.

Dazwischen auch ein paar Kiekser und Obertöne, von denen sich nur vermuten ließ, in wie weit sie in dieser Form tatsächlich beabsichtigt waren oder nur in Kauf genommen wurden.

Aber was für einen John Coltrane erlaubt gewesen war, das durfte auch Moeller. In dieser Hinsicht war Moeller Anarchist. Er kannte keinen Respekt. Nicht vor Lebenden oder Toten und auch nicht vor den Ohren und Nerven seiner Zeitgenossen und Nachbarn. Vielleicht spielte Moeller etwas schief, aber dafür klang es interessant. Moeller spielte mit mehr Inspiration, als so manche hochgelobte Jazz-Größe. Fand er jedenfalls selbst.

Sein Solo entwickelte sich. Immer gewagtere Tonsprünge und Läufe reihten sich aneinander. Moeller spielte sich in eine Art Rausch. Außer ihm selbst und seinem Instrument war da nur noch der Kopfhörer mit den dicken Muscheln, auf dem er Bass, Klavier und Schlagzeug hörte, die er zuvor mit Hilfe eines Roland-Sound-Moduls und eines Keybords digital eingespielt hatte. Lediglich das Saxophon nahm er akustisch auf und mischte die Tonspur hinterher mit dem Rest ab. "Alle wirklich Großen sind längst tot!", pflegte Moeller manchmal zu sagen, weil er das für ein Bonmot hielt. Und er dachte dabei an Charlie Parker, Miles Davis, John Coltrane und vielleicht noch an Duke Ellington. Und er fragte sich regelmäßig, warum er selbst eigentlich noch lebte. Vielleicht, weil du dir einen gesünderen Beruf gewählt hast, dachte er dann.

Moeller hatte irgendwann in grauer Vorzeit mal vor der Alternative gestanden: Entweder ein unsicheres Leben als Musiker oder ein sicherer Job im öffentlichen Dienst.

Und weil er irgendwo in seinem tiefsten Inneren gewusst hatte, dass er eben doch nicht so groß wie Coltrane war, hatte er den sicheren Weg gewählt. Er war Polizist geworden.

Aber war der Kampf gegen das Verbrechen nicht auch etwas, wofür es zu leben lohnte? Der Gerechtigkeit zum Sieg verhelfen und die Schwachen zu schützen? Moeller musste in diesem Zusammenhang immer an die Batman-Comics denken, die er als Junge gelesen hatte. Die Begeisterung für Batman war eher dagewesen als die für John Coltrane, die Leidenschaft für das Recht und die Gerechtigkeit eher als jene für den Jazz.

So war er jetzt Polizist. Kripo-Beamter, genauer gesagt.

Und im tiefsten Inneren wusste Moeller, dass er mit dieser Arbeit der Menschheit besser dienen konnte, als mit den unfreiwilligen Kieksern aus seinem Saxophon.

Inzwischen hatte er 15 Dienstjahre bei der Kriminalpolizei Lüdenscheid hinter sich. Und er war immer noch Kriminalkommissar in der Gehaltsstufe A12. Weiter war er nie gekommen. Schon von seinem Äußeren her wirkte Moeller ziemlich unangepasst. Sein langes, zu einem Pferdeschwanz zusammengefasstes Haar, der Drei-Tage-Bart und die kaputte Jeans. Moeller hielt sich für einen Nonkonformisten und schob die Tatsache, dass er es nie weiter als bis zum Kriminalkommissar im Dezernat für Tötungsdelikte, landläufig Mordkommission genannt, gebracht hatte, diesem Umstand zu.

 

Aber wenn er ehrlich war, dann hatte er auch nie einen besonderen Ehrgeiz an den Tag gelegt. Sein Herz gehörte jedenfalls nicht dem Job. Nicht den dicken Akten mit den penibel aufgelisteten Beweisstücken und Indizien. Nicht den seitenlangen Gutachten über Haarreste und Blutspuren und Fasern irgendwelcher Pullover. Sein Herz gehörte dem Jazz, dieser freiesten und unangepasstesten aller Musikformen. Der Jazz war wie er, so empfand er es oft. Und das jazzigste aller Instrumente war das Saxophon, ein Instrument, das bei jedem Spieler einen völlig anderen, sehr persönlichen Klang hatte.

Moeller spielte wie in Trance.

Er war in eine eigene Welt entrückt. Eine Welt der Töne und des Klangs und der Freiheit. Denn nichts war vorgeschrieben. Alles konnte passieren. Die Musik entstand aus dem Augenblick. Ein kreativer Akt, der nicht wiederholbar war. Entweder es ging oder es ging daneben. Es gab keine Sicherheit, keine Noten, an die man sich klammern konnte.

Allenfalls ein harmonisches Gerüst oder eine Basslinie. Und auch dieses Gerüst ließ sich durchbrechen. Moellers Finger bewegten sich mit atemberaubender Schnelligkeit über die Tasten des Instruments, einem Altsaxophon in Es. Seine Töne wurden jetzt leiser, lyrischer. Gefühlvoll phrasierte Passagen lösten die herausgerotzten, kantigen Töne ab. Moeller hatte längst vergessen, in welcher Tonart er jetzt eigentlich hätte sein müssen. Er spielte einfach. Ein anderer schien seine Lippen und seine Finger zu bewegen und zu koordinieren.

Vielleicht der Gott des Jazz persönlich oder der Saxophon-Geist von John Coltrane. Das waren die Augenblicke, für die Markus Moeller lebte. Und dann mischte sich in dieses tiefe Feeling plötzlich etwas anderes.

Eine Dissonanz, gegen die jeder Kiekser von Coltrane wie eine Offenbarung geklungen hätte.

Ein schriller Laut, der immer eindringlicher in Moellers Musik hineinschnitt.

Selbst durch den Kopfhörer mit den dicken Muscheln war es nun unüberhörbar.

Eine Sirene!

Moeller fluchte leise vor sich hin, was sein uraltes Vierspur-Aufnahmegerät für die Nachwelt dokumentieren würde.

Er nahm den Kopfhörer ab und pfefferte ihn auf einen ziemlich durchgesessenen Sessel, den er in seinem Homestudio abgestellt hatte. Dann seufzte er und ging zum Fenster.

Die Sirenen wurden nicht durch seine Kollegen von der Schutzpolizei und auch nicht von Krankenwagen verursacht.

Es war die Feuerwehr.

Moeller erkannte das am Klang.

Er sah hinaus in die Dunkelheit, sah die Blinklichter aufblitzen und hörte eine weitere Sirene herannahen, noch bevor die erste verklungen war.

Moeller zählte. Drei, vier, fünf Fahrzeuge.

Das musste ein Großeinsatz sein.

Er öffnete das Fenster. Seine Wohnung befand sich im dritten Stock eines schmucklosen grauen viergeschossigen Hauses in Lüdenscheid-Brüninghausen. Eine der zahlreichen ehemaligen Werkswohnungen der Firma Plate-Stahl. Auf'm Aul hieß die Straße, an der diese Häuser lagen - was auch immer diese Straßenbezeichnung nun bedeuten mochte.

Auf der nahen Hauptstraße brauste indessen ein Feuerwehrfahrzeug nach dem anderen daher.

Da musste wirklich etwas Bedeutendes passiert sein.

Und Moeller war weder der erste noch der einzige, der auf diesen Gedanken gekommen war. Unten, auf dem kurzgeschnittenen Rasen vor dem Haus standen ein paar Leute und schauten sich das Schauspiel an.

Ein Mann im Unterhemd und einer violetten Jogginghose, der die Rechte so tief in der Hosentasche vergraben hatte, dass die Hand sich irgendwo in Höhe der Knie befinden musste, und in der Linken eine Bierdose hielt, bemerkte Moeller und drehte sich zu ihm herum.

"Na, wieder die ganze Nacht am Dudeln?", rief er. "Du kennst aber auch kein Erbarmen mit der arbeitenden Bevölkerung, woll, Moeller?"

Es gibt Leute, die an jeder möglichen oder unmöglichen Stelle ein woll einfließen lassen.

Es gibt aber auch jene, die stattdessen wo' sagen, mit kurzem, fast als a gesprochenen o. Das ist ein Unterschied, der fast so wesentlich ist wie der zwischen evangelisch und katholisch.

Moeller hatte für sich irgendwann mal entschieden, dass er weltläufig war, und so sagte er weder woll noch wo'. In dieser Frage war er also gewissermaßen neutral.

Was die Frage anging, die der Mann im Unterhemd gestellt hatte, allerdings nicht.

Er hasste es, wenn man ihm mit Vorurteilen gegen Beamte kam.

"Willst du damit etwa sagen, dass ich nicht zur arbeitenden Bevölkerung zähle, ja?", rief Moeller hinunter.

Der Mann im Unterhemd zuckte die Achseln.

"Nachts dudelst du mit deinem Horn rum und tagsüber schläfst du dich dann in deiner Dienststube aus. Dat iss ein Leben, woll?"

"Der Unterschied ist doch nur, dass du deine Abende im Brauhaus verbringst!", meinte einer der anderen Männer.

Der Mann im Unterhemd machte eine wegwerfende Handbewegung. "Ist doch wahr!", meinte er dann. "Was arbeitet der denn schon? So viele Gangster gibt es doch gar nicht hier in Lüdenscheid."

Noch immer war der Zug der Feuerlöschfahrzeuge nicht abgerissen.

"Hat einer 'ne Ahnung, was da eigentlich passiert ist?", fragte jemand.

"Sicher wieder blinder Alarm im Krankenhaus Hellersen!", meinte der mit dem Unterhemd. "Das geht auf keine Kuhhaut, wie oft die Feuerwehr wegen dieser Rauchmeldeanlage unterwegs ist..."

Moeller sah nachdenklich in die Nacht.

Nein, dachte er. Das muss was Größeres sein. Er verzog das Gesicht zu einem Grinsen, das leicht sarkastisch wirkte.

Vielleicht ein Chemieunfall, bei dem man schleunigst die Fenster schließen sollte, ging es ihm durch den Kopf.

Aber wer immer auch für dieses Theater verantwortlich war: Er hatte Moeller die Aufnahme verdorben.

Gerade heute.

Gerade in jenem, ach so raren Moment, in dem er in künstlerischer Hochform gewesen war...

Moeller hängte sich das Saxophon vom Hals und ließ sich in den Sessel fallen. Er setzte sich dabei auf den Kopfhörer, den er im nächsten Moment etwas ärgerlich von der Sitzfläche kegelte. Manchmal hatten sich eben alle gegen einen verschworen. Selbst die Brandstifter.

Moeller atmete tief durch.

Im Hintergrund waren noch immer Sirenen zu hören.

Schließlich verebbten sie.

Eine ganze Weile saß Moeller da und tat gar nichts. Seine Aufnahme war verdorben, aber um schlafen zu gehen, war er noch entschieden zu aufgekratzt. Schließlich stand er auf, um sich Miles Davis' KIND OF BLUE aufzulegen. Eines der genialsten Jazz-Alben aller Zeiten, wie er fand. Mit der noch recht langsamen Originalversion von SO WHAT. Die ersten Takte waren verklungen, da klingelte das Telefon.

Um diese Uhrzeit konnte das eigentlich nichts Gutes bedeuten.