Die besten 12 Strand Krimis Juni 2021

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35

Draußen goss es Bindfäden, und obwohl sie sich ziemlich beeilten, in den Wagen zu kommen, bekamen sie eine kräftige Dusche mit.

"Scheißwetter!", schimpfte Feller, als er endlich auf dem Beifahrersitz saß.

Carola ließ den Wagen an und fuhr los. Das Krankenhaus Hellersen war Teil eines riesigen Klinik-Komplexes, zu dem auch noch ein Sportkrankenhaus gehörte. Die umliegenden Straßen trugen passende Namen: Röntgenweg, Robert-Koch-Weg und Paracelsus-Straße.

Ein Notarztwagen brauste um die Ecke. Carola lenkte den Wagen zur Seite.

"Ich habe eine Menge Glück gehabt, glaube ich", murmelte Feller.

"Ja, und das sollte man nicht überstrapazieren, Martin!"

Sie schwiegen eine Weile. Inzwischen hatten sie die Herscheider Landstraße erreicht, den breit ausgebauten Zubringer zur A45.

"Wie wär's, wenn wir mal wieder essen gehen würden", sagte Feller dann plötzlich.

"Wie kommst du jetzt plötzlich darauf?"

"Nur so. Das haben wir lange nicht mehr gemacht."

"Ja, leider."

"Das AKROPOLIS - der neue Grieche - soll gut sein."

"Martin, du weißt doch, dass ich das exotische Zeug nicht vertrage. Lass uns zu Kattenbusch fahren."

36

Das Restaurant Kattenbusch lag auf einer Anhöhe, die von größeren Waldstücken umgeben war. Ein Ort, an dem man keineswegs sofort das Gefühl hatte, dass er Teil einer 80.000-Seelen-Stadt war.

Das Hotel und Restaurant Kattenbusch war ein langgestrecktes Gebäude und sah aus, als hätte man von Zeit zu Zeit immer wieder ein Stück angebaut. Der letzte Umbau war gerade erst beendet worden und so standen die Fellers etwas desorientiert da, als sie merkten, dass an jener Stelle, an der sich früher der Eingang befunden hatte, jetzt kein Durchgang mehr war. Sie sahen sich etwas um, bis schließlich die Wirtin auftauchte. "Sie müssen hinten herum gehen", sagte sie.

Die Fellers folgten der Wirtin.

"Wie geht das Geschäft, Herr Feller?", fragte sie, um etwas Small Talk zu machen.

"Könnte besser sein", knurrte Feller. Er humpelte etwas.

"Haben Sie es auch so mit der Bandscheibe, woll?", meinte die Wirtin.

Sie nahmen einen Tisch in der Ecke und bestellten etwas ganz Konventionelles. Ein Lüdenscheider Krüstchen.

Im Hintergrund liefen Schlager aus den Siebzigern.

Feller sah seine Frau an und und dachte: Was würde ich nur machen, wenn Sie anfinge durchzudrehen? Wenn ihr plötzlich einfallen würde, alles über meine Vergangenheit auszuplaudern?

Carolas Stimme drang in seine Gedanken.

"Martin, ich hab mir überlegt, dass es nicht schlecht wäre, wenn wir eine Weile verreisen bis Gras über die Sache gewachsen ist oder... ich weiß auch nicht!"

GRIECHISCHER WEIN sang Udo Jürgens und Feller meinte: "Die bringen auch nur noch Mist!"

Jetzt wurde Carola zornig.

"Sag mal, hörst du mir eigentlich zu?"

"Natürlich höre ich dir zu! Du willst mit mir verreisen. Aber wie stellst du dir das überhaupt vor? Soll ich das Geschäft vielleicht sich selbst überlassen? Die Konkurrenz ist hart, da ist man ganz schnell weg vom Fenster, kaum das man sich versieht!"

"Der Charly...."

"Ach, der Charly!"

"Der Charly ist doch dein Freund! Dem kannst du doch trauen! Und den Laden schmeißt der auch alleine. Wenigstens für eine Weile!"

Er sah zu ihr hinüber.

"So, meinst du?"

"Ja, meine ich!", äffte Carola ihn nach.

Es entstand eine unbehagliche Pause.

"Kommt nicht in Frage!", sagte Feller plötzlich sehr bestimmt.

"Wie bitte?"

"Ich sagte: Das kommt nicht in Frage! Einfach alles stehen und liegen zu lassen , das... Nein! Dafür habe ich nicht all die Jahre gearbeitet, dass nun alles den Bach runtergeht!"

"Wer sagt denn, dass es den Bach runtergeht?"

"Ich sage das!"

"Martin..."

"Der Charly ist ein netter Kerl und ein guter Kfz-Mechaniker. Aber nur ein mittelmäßiger Geschäftsmann. Mit seinem eigenen Geld kann er auch nicht umgehen, warum sollte es ihm mit meinem Geld da besser gehen... Nein, das kommt überhaupt nicht in Frage! Ich werde nicht einfach so den Schwanz einkneifen!"

"Ach! Aber dich abknallen lassen, das findest du nicht so schlimm! Was glaubst du, wie lang er das nächste Mal warten wird? Und was er sich dann ausgedacht hat, um dich zur Stecke zu bringen?"

"Totgesagte leben länger, wusstest du das nicht?", sagte Feller sarkastisch.

"Quatschkopf!"

37

Feller ging unruhig vor dem Küchenfenster auf und ab. In unregelmäßigen Abständen zog er die Gardine ein Stück zur Seite und schaute hinaus auf die Straße. Carola kam herein und nippte an ihrer Kaffeetasse.

"Du schleichst hier herum, wie... wie ein Raubtier in seinem Käfig."

"Hm."

Eine Pause entstand. Er blickte hinaus und schien völlig abwesend. Der Regen pladderte gegen die Scheibe.

Carola fragte: "Meinst du, das bringt was, dauernd aus dem Fenster zu starren?"

"Er wird kommen...", murmelte Feller.

"Und darauf wartest du jetzt?"

Er zuckte mit den Achseln.

"Was soll ich machen?"

"Vielleicht überlegst du das mit der Reise nochmal!"

"Und was kommt danach?" Feller schüttelte den Kopf. "Das bringt doch alles nichts!"

Carola stellte die Kaffeetasse ab. Der Löffel, der darin steckte, machte dabei ein schepperndes Geräusch.

Zweimal holte sie Luft und setzte an. Aber erst beim drittenmal hörte sie sich selbst sagen: "Ich habe übrigens die Sportpistole von Vater gefunden."

Er wirbelte herum.

"Was?"

"Ja, beim Aufräumen. Ganz zufällig. Sie lag noch bei dem anderen Zeug, das wir vor zwei Jahren geerbt haben."

Feller schluckte und kratzte sich hinter dem Ohr.

"Na, und?", knurrte er.

Carola trat nahe an ihn heran.

"Ich frage mich, warum du mich anlügst! Woher kommt die Waffe, die du jetzt bei dir trägst?"

Feller hob die Hände und blickte zur Seite.

"Ich habe sie mir halt besorgt." Seine Hände wanderten jetzt in die Hosentaschen und beulten sie aus. "Was ich brauche ist kein Spielzeug, sondern etwas, das mannstoppend wirkt, wie es so schön heißt!", rechtfertigte er sich dann ein bisschen zu schroff.

Carola dachte nicht daran, sich mit irgend etwas abspeisen zu lassen.

"Und warum hast du mir erst was anderes erzählt?", fragte sie kühl.

"Herrgott, ist das jetzt wichtig?"

"Was weiß ich!" Sie sah ihn an. "Warum vertraust du mir nicht?"

Er legte den Arm um sie. Aber sie blieb steif und etwas abweisend. "Ich vertraue dir doch", behauptete er ohne Überzeugungskraft. "Wie kannst du so was nur sagen! Du bist die einzige, der ich bisher erzählt habe, was ich früher so... gemacht habe."

Er zog die Hand wieder von ihrer Schulter.

"Ich habe das Gefühl, dass da noch etwas ist", sagte sie bestimmt.

Ein Geräusch, das halb Lachen halb verlegenes Husten war drang über Fellers Lippen. "Und was sollte das zum Beispiel sein?", fragte er.

Ihre Augen musterten ihn kühl.

"Du kennst den Mann auf dem zweiten Foto, nicht wahr?"

"Wie kommst du denn darauf?"

"Ich hab's dir angesehen."

"Ach, ja?"

Sie nickte bekräftigend.

"Schon im ersten Moment, als ich es dir gezeigt habe... Ist - ich meine war - er auch einer von diesen Stasi-Leuten?"

Feller seufzte.

"Wir wissen nicht mit Sicherheit, dass er tot ist. Bei dem ersten schon, das war deutlich zu sehen... Aber bei dem anderen..."

"Also gehörte er auch dazu!"

"Ja."

"Und warum muss man dir das so aus der Nase ziehen?"

"Ist doch meine Nase, oder? Und es ist doch wohl verflixt noch mal auch mein Kopf, um den es hier geht, nicht wahr?"

Es entstand eine unbehagliche Pause. Feller blickte zum Fenster und verschränkte die Arme vor der Brust. Carola trat an ihn heran und berührte ihn leicht am Unterarm. Er reagierte nicht.

"Du bist wohl ziemlich mit den Nerven am Ende, was?", sagte sie tonlos.

Er drehte leicht den Kopf in ihre Richtung.

"Du etwa nicht?"

"Doch, sicher."

"Das ist ja auch verdammt noch mal kein Wunder!" Seine Stimme wurde versöhnlicher. "Komm her!", sagte er und nahm sie in den Arm. Diesmal schmiegte sie sich an ihn und erklärte: "Wir werden das schon durchstehen. So oder so."

Er strich ihr über das Haar und nickte leicht.

"Sicher werden wir das!"

"Ich habe versucht, ein paar Tage Urlaub zu kriegen, aber das ist unmöglich. Bei uns sind drei Leute krank..."

Feller lächelte.

"Macht doch nichts! Carola, wir sollten versuchen, unser Leben so weiterzuleben, wie wir es sonst auch getan hätten!"

"Viel verlangt!", meinte Carola dazu.

"Zuviel?"

"Ich weiß nicht..."

38

Am Abend regnete es. Moeller versuchte noch einmal Martin Feller zu erreichen. Aber der war nicht zu Hause. Von seiner Frau erfuhr Moeller, dass ihr Mann vermutlich zum Kegeln in der Stadt sei.

"Ich muss schon sagen, er nimmt das alles äußerst gelassen", stellte Moeller nachdenklich fest.

"Wenn Sie meinen..."

 

Ihre Erwiderung war ziemlich kühl.

"Wo ist Ihr Mann hin zum Kegeln?"

"Ins Alte Gasthaus Pretz in der Herzogstraße. Kennen Sie das?"

Moeller nickte. "Wer nicht?"

Also fuhr Moeller zurück in die Stadt. Das 'Alte Gasthaus' lag in der zentralen Altstadt, ganz in der Nähe der Erlöserkirche. Von außen war es ein weißes, blumengeschmücktes Haus mit Holzgiebeln und dunkelbraunen Fensterläden. Ein dritter, kleinerer Giebel zeigte zur Straße.

Moeller fand Feller nicht in der Kegelbahn, sondern in der sogenannten Jagdstube. Er saß nachdenklich mit einem leeren Glas da und starrte ins Nichts.

"Guten Abend, Herr Feller!" Moeller klopfte sein nasses Longjackett ab. Draußen goss es inzwischen wie aus Eimern. Der Wetterbericht verhieß Sturm. "Ihre Frau sagte mir, dass ich Sie hier finden würde."

Feller verzog das Gesicht.

"Guten Abend, Herr Kommissar", sagte er reserviert. "Machen Sie bitte die Tür richtig zu. Es zieht!"

Moeller kümmerte sich nicht um die Anweisungen seines Gegenübers, sondern stand einfach da und blickte auf Feller herab.

"Ich habe von Ihrem... Unfall gehört", murmelte Moeller, dann, während er noch einen Schritt näher kam. Er sagte das mit einem ganz bestimmten Unterton, der Martin Feller nicht gefiel.

Feller zog die Augenbrauen hoch.

"Na, und?"

"Warum haben Sie sich nicht mit mir in Verbindung gesetzt?" Moeller blickte Feller direkt an, aber dieser wich aus und schaute zur Seite.

"Warum hätte ich das tun sollen?", fragte der, wobei er ganz leicht mit den Schultern zuckte.

Moeller hob die Arme, bepladderte dabei mit seiner nassen Jacke den Tisch und schüttelte dann verständnislos den Kopf.

"Da will Sie offenbar einer umbringen und das gehört in mein Gebiet", erklärte er.

Feller lächelte dünn.

"Ich wäre sicher noch auf einen Sprung zu Ihnen gekommen."

"Nein, wären Sie nicht."

Der Ton, den Moeller jetzt anschlug, war eisig. Feller schluckte.

"Na, hören sie mal, was erlauben Sie sich!", rief er, wirkte aber schwach dabei.

Moeller blieb provozierend ruhig.

"Ich weiß nicht, was für Dreck Sie am Stecken haben, oder wer Sie unter Druck setzt...", begann er dann gedehnt. Weiter kam er nicht.

Feller ließ gereizt die flache Hand auf den Tisch donnern.

"Mich setzt niemand unter Druck! Niemand, haben Sie mich verstanden?"

Moeller seufzte.

"Zumindest laut genug war's ja", versetzte er.

Feller hob den Zeigefinger und richtete ihn auf sein Gegenüber, als wäre es der Lauf einer Pistole.

"Hören Sie", schimpfte er, "ich weiß Ihre Bemühungen ja zu schätzen..."

"Nein, Herr Feller. Das wissen Sie eben nicht!", unterbrach der Kommissar hart. "Sie spielen mit dem Feuer! Verbrennen Sie sich nicht!"

"Keine Sorge!", zischte Feller.

39

Barbara Wolf war etwas erstaunt, als Kommissar Moeller am nächsten Tag vor ihrer Wohnungstür stand. Moeller hatte heute seinen Tag des guten Benehmens. Er nahm die San Jose-Sharks-Mütze ab, was gar nicht so einfach war, weil er seinen Zopf nicht aus der hinteren Öffnung herausbekam. Ein paar Haare hatten sich irgendwie verheddert. Moeller stöhnte auf, als es ziepte.

Barbara Wolf lächelte freundlich, wenn auch etwas matt.

"Sind Sie schon weitergekommen?", fragte sie.

Moeller schüttelte den Kopf.

"Nee", meinte er. "Deswegen bin ich auch hier."

"Ich habe alles auf den Tisch gelegt, was ich..."

"Darf ich hereinkommen?", unterbrach er sie.

"Ja, sicher."

Moeller folgte ihr ins Wohnzimmer. "Haben Sie was dagegen, wenn ich mich in den Sachen Ihres Mannes ein bisschen umsehe?"

"Suchen Sie etwas Bestimmtes?"

"Wenn ich es gefunden habe, weiß ich es!"

"Soll ich Ihnen einen Kaffee machen?"

"Schwarz."

Sie nickte. "In Ordnung."

"Geht es hier zum Schlafzimmer?", fragte Moeller und deutete den Flur entlang. Barbara war etwas irritiert.

"Ja, schon, aber..."

"Ich will mir die Kleidung ihres Mannes ansehen."

"Die ist doch...", sie schluckte, "...bei Ihnen!"

"Ich meine nicht die Sachen, die er trug, als er ermordet wurde", erwiderte Moeller. "Ich meine alle seine Sachen!"

40

Moeller nahm sich den gesamten Kleiderschrank vor. Jedes Jackett, jede Hose, jeden Kittel. Er durchsuchte alle Taschen, eine nach der anderen. Leider kam nicht viel dabei heraus.

Moeller untersuchte auch den Nachttisch.

Irgendwann erschien Barbara in der Tür. "Kommen Sie, der Kaffee wird kalt."

Moeller seufzte.

"Etwas gefunden?" fragte Barbara.

"Nein." Er zuckte die Achseln. "Es war so eine Idee. Ich dachte, dass er vielleicht einen dieser Briefe, die er bekommen hat, in die Tasche gesteckt hat... Absurd!" Moeller kratzte sich am Kinn. "Sehen Sie, ich frage mich noch immer, warum Feller Ihrem Mann regelmäßig diese Summen gezahlt hat!"

"Und?", fragte Barbara. "Haben Sie schon mit Martin - Herrn Feller - darüber gesprochen?"

Moeller verzog das Gesicht. "Ich mit ihm schon - aber er nicht mit mir. Ich dachte, Sie könnten mir vielleicht helfen."

"Ich?"

Sie drehte sich um. Moeller ging hinter ihr her. Im Wohnzimmer hatte sie den Kaffee auf den niedrigen Tisch gestellt. Moeller setzte sich und trank. Dann stöhnte er auf, weil er sich die Zunge verbrannt hatte. Nicht so gierig, Moeller!, ermahnte er sich. Oder sei mit deinen Gedanken nicht dauernd woanders!

"Tut mir leid", sagte Barbara Wolf.

"Ja, man sollte Kaffee kalt kochen", erwiderte Moeller nachdenklich. "Ich habe dafür auch noch keine Methode gefunden." Er sah Barbara an. "Wissen Sie, was ich glaube? Ihr Mann hatte Feller in der Hand. Er hat ihn erpresst!"

"Sie werden lachen, aber der Gedanke ist mir auch gekommen! Leider habe ich nicht den geringsten Schimmer, worum es dabei gehen könnte..."

"Hat Ihr Mann nie irgendwelche Andeutungen gemacht? Überlegen Sie!"

"Was glauben Sie, worüber ich mir die ganze Zeit den Kopf zerbreche!"

In diesem Moment klingelte Moellers Handy. Er kramte ihn aus der Jackentasche heraus, klappte den Apparat auf und nahm ins Ohr. Dreimal kurz hintereinander sagte er: "Ja."

Dann erhob er sich.

"Ich muss weg", sagte er.

41

Der Regen hatte aufgehört, aber der graue Himmel verhieß keine Besserung.

Carola setzte ihren Golf auf den Hof, stieg aus und ging eilig zur Haustür. Unter dem Arm trug sie eine Plastiktüte vom Supermarkt. Die Tragelaschen waren gerissen und unten hatte sich bereits die scharfe Kante eines Joghurtbechers durch das weiche Plastik geschnitten.

Carola fingerte mit einiger Mühe einhändig den Haustürschlüssel ins Schloss und bekam am Ende sogar die Tür auf, die man beim Aufschließen anziehen musste.

Sie trat ein, trat mit der Hacke die Tür zu und hatte auf einmal das Gefühl, dass schon jemand in der Wohnung war.

Irgend ein Geräusch hatte sie stutzen lassen - nur einen Sekundenbruchteil lang, aber es reichte aus.

"Martin?", rief sie und blickte dabei auf den Fußabdruck auf dem Teppich. Ja, das sah ihm ähnlich! "Bist du schon zurück? Ich bin heute etwas früher!"

Sie bekam keine Antwort und ging in die Küche, wo sie die Tüte auf dem Tisch abstellte.

"Martin?", fragte sie noch einmal.

Sie hörte Schritte und wirbelte herum.

In der Küchentür stand eine Gestalt, deren Gesicht von einem Motorradhelm verdeckt wurde. Es musste der Kerl sein, den Carola durch das Küchenfenster hatte davonfahren sehen, als auf Feller geschossen worden war.

"Keine Bewegung", zischte eine dumpfe, sonore Stimme und Carola blickte in den blanken Lauf einer Pistole. "Kommen Sie!", forderte er.

"Was haben Sie vor?"

"Tun Sie einfach, was ich sage! Kommen Sie mit ins Wohnzimmer! Gehen Sie langsam vor mir her!"

Carola gehorchte. Der Puls schlug ihr bis zum Hals. Sie schluckte und fühlte einen Kloß im Hals.

"Setzten Sie sich ganz ruhig in den Sessel dort!", wies der Mann sie an, als sie das Wohnzimmer betraten.

Sie setzten sich.

Der Mann legte einen Fuß auf den niedrigen Wohnzimmertisch, während Carola die schweißnassen Hände zwischen die Beine presste.

Sie atmete einal heftig und hörte sich dann fragen: "Wer sind Sie?"

Sie blickte zu ihrem gesichtslosen Gegenüber auf.

"Was soll ich Ihnen darauf antworten? Auf jeden Fall ein recht guter Schütze - wenn auch vielleicht nicht ganz so gut, wie Ihr Mann! Aber ich kann mit diesem Ding hier umgehen, darauf können Sie sich verlassen!

Carolas Gedanken ordneten sich wieder einigermaßen. Den ersten Schock hatte sie hinter sich.

"Sie... wollen meinen Mann töten?", erkannte sie glasklar.

Sie rutschte auf dem Sessel nach vorn.

"Ich habe gesagt, Sie sollen sich setzen und mir nicht noch dumme Fragen stellen!"

Carola sah, dass er die Pistole angehoben hatte und lehnte sich wieder zurück. Er schien ziemlich nervös zu sein.

"Zufrieden?", fragte sie.

Er nickte.

"Ja, so ist es gut."

"Warum machen Sie das? Sie haben Norbert Wolf getötet, nicht wahr? Warum haben Sie auf meinen Mann geschossen und uns diese Fotos geschickt? Das waren doch Sie, oder?"

"Hat Ihr Mann Ihnen das nicht erklärt?"

"Ich... Ich weiß jetzt nicht so recht, was Sie meinen..."

Ein heiseres Lachen kam dumpf unter dem Helm hervor.

"Dachte ich es mir doch."

"Was dachten Sie sich?"

"Er ist ein feiger Hund."

"Martin?"

"Ja, Ihr Martin."

Es entstand eine Pause. Im Hintergrund tickte die Wohnzimmeruhr vor sich hin. Tick, tack... Carola machte das rasend.

Nur ruhig bleiben!, sagte sie sich. Ruhig bleiben und nicht den Kopf verlieren.

Tick, tack...

Zeit gewinnen! Irgendwie musste sie Zeit gewinnen. Er schien sich noch nicht im Klaren darüber zu sein, was er mit ihr anfangen sollte. Er hatte wohl nur mit ihrem Mann gerechnet und eigentlich wäre sie jetzt ja auch noch nicht zu Hause gewesen.

Wenn er Martin umbringt, dann wird er mich kaum am Leben lassen können, überlegte sie.

Sie fragte sich, warum er es dann noch nicht getan hatte.

Vielleicht wollte er einfach nicht, dass man jetzt schon ein Schussgeräusch hören konnte.

"Haben Sie die Männer auf den Fotos auch... umgebracht?", fragte sie mit zitternder Stimme, die aber mit jedem Wort sicherer wurde.

"Halten Sie einfach den Mund, ja?"

"...und wenn Martin gleich zurückkommt, dann soll ich in aller Ruhe mit ansehen, wie er eine Kugel von Ihnen bekommt? Das haben Sie doch vor, oder?"

Er zuckte die Achseln.

Schließlich sagte er nach kurzer Pause: "Es tut mir leid, dass ich Sie da hineinziehen musste. Es tut mir leid, aber ich kann nichts dafür. Normalerweise sind Sie um diese Zeit nicht zu Hause!"

"Ich weiß...Wie sind Sie überhaupt hier hereingekommen?"

"Durchs Klofenster. Es war abgeklappt."

"Ja, das war Sven. Er müsste eigentlich schon längst hier sein..."

"Ihr Sohn ist noch mindestens zwei Stunden weg. Handballtraining..."

Carola atmete tief durch.

"Sie wissen sehr gut Bescheid..."

"Ja, ich habe mich informiert! Und Feller - also ich meine Ihr Mann - hat Ihnen bestimmt nichts gesagt? Über die Fotos zum Beispiel?"

"Er hat mir gesagt, dass er für die Stasi... Aufträge ausgeführt hat. Früher, meine ich. Schon lange her..."

Sie sah, wie der Motorradhelm sich hob und senkte.

"Ja, richtig."

"Hören Sie, mein Mann hat wirklich nicht vor, Ihnen irgendwie zu schaden! Ihnen oder Ihrem Auftraggeber!"

"Was Sie nicht sagen!"

"Für ihn sind die alten Zeiten vorbei - aus und vergessen. Und er will nichts, als sein Geschäft betreiben und ein ganz normales Leben führen..."

"Ein ganz normales Leben", unterbrach er sie mit einem zynischen Unterton. "Schön haben Sie das gesagt! Wirklich schön!"

 

Carola hob die Arme und beugte sich erneut etwas vor, worauf der Mann mit dem Helm diesmal allerdings nicht weiter reagierte.

"Sie müssen mir glauben!", rief sie.

Wieder ein heiseres Lachen.

"Ich kann mir gut vorstellen, dass er die alten Zeiten gerne vergessen würde. Oder vielleicht sogar schon vergessen hat."

Carola begriff nicht.

"Na, dann ist doch alles in Ordnung oder?", meinte sie. "Er verlangt auch kein Geld oder so..."

Jetzt war er es, der sich vorbeugte. Er nahm den Fuß vom Tisch und auf einmal war ein seltsames Vibrieren in seiner Stimme.

"Hören Sie, Ihr Mann mag alles vergessen haben, aber ich, ich kann es nicht vergessen!", zischte er. "Niemals!"

"Ach, so ist das", murmelte Carola, so als ob sie verstanden hätte, was er meinte.

Er nickte leicht.

"Ja, so ist das!", fauchte er.

Sie nahm einen erneuten Anlauf. Um keinen Preis wollte sie das Gespräch abreißen lassen. Aus den Augenwinkeln heraus blickte sie zur Uhr. Ihr Mann musste jeden Moment kommen.

"Sie sind ein Ossi, nicht wahr?", fragte sie. "Ich meine, ich wollte sagen, also... Ein Bürger aus den fünf neuen Bundesländern?"

Kopfschütteln.

"Nein. Ich war noch nie dort."

"Was?"

"Ihr Mann scheint Ihnen nicht alles gesagt zu haben."

"Sind Sie kein Ex-Stasi-Mann?"

"Ich?"

"Ja, sicher!"

Er lachte. "Nein, ich bestimmt nicht", murmelte er dann kopfschüttelnd.

Carola war wie vor den Kopf gestoßen.

"Aber..."

"Ich möchte, dass Sie sich folgendes vorstellen!", forderte er und wieder vibrierte seine Stimme. Er atmete schneller, als er leise fortfuhr: "Ein kleiner Junge, vielleicht vier Jahre alt, betritt die Wohnung seiner Eltern. Er kommt vom spielen, den Ball hat er noch unter dem Arm. Er ist hingefallen und hat das Knie blutig und nur deshalb ist er jetzt hier." Er schnappte nach Luft und machte eine Pause. Dann schluckte er. "Können Sie mir folgen?"

"Ja", sagte Carola fast tonlos. "Erzählen Sie mir, wie es weitergeht..."

"Der Junge kommt in die Wohnung. Die Tür steht auf. Er sieht seine Eltern, beide liegen auf dem Boden - tot. Und daneben steht ein großer Mann mit einer sehr langen Pistole. Er sieht den Jungen an und der Junge sieht ihn an. Und dann ist da noch ein zweiter Mann, der gerade den Schreibtisch durchsucht. Er trägt Handschuhe. 'Komm!', sagt der Mann mit der Pistole. Dann gehen sie an dem Jungen vorbei, verlassen die Wohnung und verschwinden."

Das Schweigen, das dann den Raum erfüllte war unangenehm und drückend. Und im Hintergrund ging immer noch die Uhr.

Unablässig ging das Pendel hin und her. Carola dachte unwillkürlich an ein Fallbeil.

"Der Junge - das waren Sie?", fragte sie.

Er nickte.

"Sie dürfen dreimal raten, wer der Mann mit der Pistole war!"

Carola hob die Augenbrauen.

"Martin?

"Ja."

"Und der zweite Mann?"

"Norbert Wolf."

"Sie... Sie täuschen sich bestimmt!"

"Nein, ich täusche mich nicht", erklärte er. "Ich habe Jahre gebraucht, um herauszufinden, was damals geschehen ist. Aber seit es die Mauer nicht mehr gibt, ist alles etwas leichter geworden... Der Mann auf dem ersten Foto, das war der Stasi-Offizier, von dem Ihr Mann seine Aufträge erhielt!"

"Aufträge?", erkundigte sie sich, und ihre Augen wurden schmal dabei.

"Ja, insgesamt sieben", bestätigte er. "Sieben Menschen, die Ihr Mann und Norbert Wolf umgebracht haben. Politische Gegner, die in den Westen geflohen waren, Überläufer, was weiß ich... Missliebige eben."

Carola hatte das Gefühl, einen Schlag vor den Kopf zu bekommen. Alles drehte sich vor ihren Augen. Ein Schwindelgefühl erfasste sie.

"Das wusste ich nicht."

"Sie haben geglaubt, dass Ihr Mann nur ein paar Panzer fotografiert hat, was? Nein, er hatte ganz spezielle Aufgaben. Aber er wird dafür bezahlen!"

"Mein Gott... Können wir uns nicht irgendwie einigen? Ich meine..."

Der Helm hob sich ein wenig. Carola blickte in ihr eigenes Spiegelbild.

"Einigen?", fragte er höhnisch.

"Geld, vielleicht. Unsere Firma geht gut, da..."

"Vergessen Sie's!"

"Wie, bitte?"

"So etwas lässt sich nicht mit Geld regeln. Das ist ausgeschlossen. Ich sehe jede Nacht diesen Mann vor mir, mit seiner Pistole... Können Sie sich vorstellen, wie das ist? Können Sie das?"

"Wahrscheinlich nicht", gab Carola zu und dachte gleichzeitig fieberhaft nach. "Wenn Sie so sehr von der Schuld meines Mannes überzeugt sind - weshalb gehen Sie dann nicht zur Polizei, anstatt hier mit einer Pistole aufzutauchen."

Er schüttelte den Kopf.

Sein Ton wurde bitter.

"Das ich nicht lache! Wissen Sie, wie viel man auf die Erinnerung eines Vierjährigen gibt? Nein, das würde nur im Sande verlaufen. Ihr Mann war Profi. Er hat seine Sache gut gemacht. Es dürfte schwer sein, heute noch Beweise beizubringen, die ein Gericht akzeptieren könnte!" Er machte eine Pause. Dann fragte er unvermittelt: "Ist Ihr Mann eigentlich bewaffnet?"

"Nein", sagte Carola.

"Soll ich das glauben?"

"Glauben Sie, was Sie wollen! Er hat eine Pistole. Aber nicht bei sich. Soll ich sie Ihnen zeigen?"

Der Mann zögerte und schien einen Moment lang nachdenken zu müssen.

Dann nickte er schließlich langsam, aber bestimmt.

"Ja."

Er fuchtelte mit der Pistole hin und her. Carola erhob sich vorsichtig.

"Seien Sie ja vorsichtig mit dem Ding, hören Sie?", murmelte sie.

"Lassen Sie das ruhig meine Sorge sein! Wo ist die Waffe?"

"In der Küche."

"Versuchen Sie keine Tricks, ja? Es würde Ihnen schlecht bekommen!"

Er ließ Carola vor sich her gehen.

"Werden Sie mich nicht ohnehin töten?", fragte sie, als sie die Küche erreicht hatten.

"Warum sollte ich?"

Plötzlich klang Carolas Stimme sehr stark und bestimmt.

"Das sagen Sie nur, um mir Hoffnung zu machen!", stellte sie kühl fest.

"Ich sage es, weil es die Wahrheit ist. Außerdem habe ich einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit. Ihr Mann hat den Tod verdient, sogar mehr als das! Aber sie haben damit nichts zu tun."

"Aber ich wäre eine Zeugin."

"Wirklich?" Er lachte. "Was wissen Sie von mir? Nichts. Ihr Mann war Profi, aber ich werde nicht weniger geschickt vorgehen. Wo ist jetzt die verdammte Pistole?"

Carola öffnete eine Schublade. "Hier!", sagte sie.

"Finger weg!", fauchte er. "Das ist ein ziemlich altes Ding, was?"

Da klang so etwas wie Zweifel mit und deshalb beeilte sich Carola zu sagen: "Er hat sie auch ziemlich lange nicht mehr gebraucht!"

Er wandte den Kopf zu ihr. Vielleicht musterte er sie.

Carola sah den blicklosen Helm fest an und hoffte, dass man ihr glaubte.

"Sie wollen mich wohl für dumm verkaufen, was?", kam es ihr kalt entgegen.

"Das würde ich nie wagen!"

"Ach, nein?"

"Nicht solange Sie mit Ihrer Waffe vor meinem Gesicht herumfuchteln!"

Er nahm die Waffe in die Linke und hielt sie Carola entgegen.

"Das ist eine Sportpistole!", stellte er fest. "Ich will ja nicht bestreiten, dass man damit nicht auch jemanden umbringen kann, aber..."

Er richtete den Lauf auf Carola und bohrte ihn dann schmerzhaft in ihren Hals. Vielleicht fünf volle Sekunden lang machte er das. Carola wagte nicht einmal zu schlucken.

Dann nahm er das Eisen wieder weg und schüttelte den Kopf.

"Sie haben gefragt, ob mein Mann eine Waffe bei sich hat", sagte sie dann so ruhig sie eben konnte. "Und ich habe Sie Ihnen jetzt gezeigt. Mehr kann ich dazu nicht sagen."

"Ja, ja... Die Rolle des Unschuldslamms, die steht Ihnen prächtig!", versetzte er zynisch.

"Mein Gott, was erwarten Sie denn von mir?"

"Schon gut. Gehen wir wieder ins Wohnzimmer."

Er wandte ein wenig den Kopf und dann ging alles sehr schnell.

Ein Ruck ging durch seinen Körper. Er wollte die Rechte hochreißen, aber es war zu spät.

Zwei Schüsse kurz hintereinander abgefeuert trafen ihn im Oberkörper, rissen ihn nach hinten und ließen ihn dann der Länge nach zu Boden schlagen. Blut sickerte auf den kalten Kachelboden in der Küche.

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