Die besten 12 Strand Krimis Juni 2021

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9

Ein dunkelblauer BMW parkte gegenüber dem Hochhaus in der Krummen Straße. Der Mann, der hinter dem Steuer saß, musterte wachsam seine Umgebung, verfolgte jedes vorüberfahrende Fahrzeug und die wenigen Passanten. Immer wieder blickte er auf die Uhr am Armaturenbrett. Sein Komplize befand sich bereits mehr als zehn Minuten in dem Haus. War etwas schiefgelaufen? Er verwarf den Gedanken sofort wieder. Nichts in der Umgebung wirkte in irgendeiner Weise verdächtig. Er konnte auch nirgendwo einen Polizisten entdecken.

Vielleicht versuchte die Detektivin, den Preis herunterzudrücken, damit sie vor ihrem Auftraggeber glänzen konnte, dachte er. Seine Augen verengten sich plötzlich zu schmalen Schlitzen, als er im Rückspiegel bemerkte, wie ein Taxi heranfuhr und dicht hinter ihm stoppte. Er sah, wie der Fahrgast ausstieg. Das Taxi blieb stehen. Und dieser Umstand erregte das Misstrauen des Mannes in dem BMW. Wer ein Taxi warten lässt, sagte er sich, will meistens nur einen kurzen Besuch machen. Irgendetwas an dieser Sache kam ihm ungewöhnlich vor.

Er musterte das Taxi und dachte an eine Falle. Vielleicht war es gar kein echtes Taxi, sondern ein getarnter Polizeieinsatz. Als der untersetzte Mann auf das Haus zuging, in dem sich sein Komplize befand, stand für ihn fest, dass es sich bei dem Mann nur um einen Polizisten in Zivil handeln konnte. Dass er eine schwere Tasche bei sich trug, hielt er für Tarnung. Rasch stieg er aus dem BMW und lief hinter dem anderen her. Er holte Thielke in dem Moment ein, als er den Türgriff berühren wollte.

Rudolf Thielke beging einen Fehler, als er den Verfolger bemerkte. Er hielt ihn für einen Straßenräuber und fürchtete um die fünfhunderttausend D-Mark, die er bei sich trug. Er wirbelte herum, presste die Aktentasche an sich und verpasste dem Mann einen kräftigen Fußtritt gegen das linke Schienbein. Dieser stieß einen lauten Schmerzensschrei aus. Gleichzeitig zog er eine Waffe aus seinem Schulterhalfter und drückte ab.

Rudolf Thielke riss erschrocken die Augen auf und taumelte gegen die Wand. Die Tasche fiel ihm aus der Hand. Während er langsam an der Wand herunterrutsche, hinterließ er eine Blutspur. Hastig blickte sich der Erpresser um. Die Straße war menschenleer. Niemand schien den Schuss gehört zu haben. Er sah die Tasche neben dem reglos daliegenden Mann. Sofort bückte er sich, ließ den Verschluss aufschnappen und starrte auf die Geldbündel. Erst jetzt kam ihm zu Bewusstsein, dass er es nicht mit einem Polizisten zu tun hatte.

Aber er gehörte auch nicht zu den Menschen, die irgendwelche Skrupel kannten. Er klemmte sich die Tasche unter den Arm und lief zu dem BMW hinüber. Eines stand fest; auf seinen Komplizen konnte er nicht mehr warten. Er setzte sich hinter das Lenkrad, gab Gas und raste die Straße entlang. Wenig später bog er in eine Seitenstraße ein.

10

Sie hörten den Knall des Schusses unten auf der Straße.

„Was hat das zu bedeuten?“, stieß der Mann hervor.

Katharina erhob sich und ging zum Fenster. Sie sah den dunkelblauen BMW davonrasen. Als sie sich wieder umwandte, stürmte der Mann aus der Wohnung und schlug die Tür hinter sich zu. Sofort nahm sie die Verfolgung auf. Als sie die Wohnungstür öffnete, hörte sie zwar noch die Geräusche seiner hastigen Schritte auf den Treppenstufen, sehen konnte sie ihn jedoch nicht mehr. Katharina lief hinter ihm her. Nach wenigen Minuten erreichte sie das Erdgeschoss und jagte ins Freie. Suchend sah sie sich um, doch der Mann war verschwunden.

Rechts neben dem Hauseingang hatte sich eine Menschenmenge versammelt. Sie blickten auf den Verletzten, der dort am Boden lag. Katharina drängte sich zwischen ihnen hindurch und kniete sich neben Rudolf Thielke. Besorgt blickte sie in das fahle Gesicht des Mannes. Seine Augen waren geschlossen. In der Ferne ertönte das Geräusch von Polizeisirenen, das sich rasch näherte. Thielke schlug die Augen auf und erkannte Katharina.

„Ein … Mann …“, brachte der Verletzte mühsam hervor. „Er … hat … das Geld …“

„Wie sah er aus?“, wollte Katharina wissen.

„Weiß nicht … Ging alles … zu schnell …“

An der Bordsteinkante stoppten zwei Fahrzeuge. Kommandos ertönten, und die Neugierigen traten zurück, um den Polizisten Platz zu machen. Hinter dem Polizeiauto hielt der Rettungswagen. Die Ladetürhälften klappten auf. Ein Arzt sprang aus dem Wagen. Die Polizisten deuteten auf den Verletzten, der blutend am Boden lag. Der Arzt schrie nach den Sanitätern, die sofort aus dem Führerhaus sprangen. Alle drei entwickelten eine fieberhafte Tätigkeit. Man konnte sehen, dass es wirklich um Sekunden ging, wenn sie das Leben des Mannes noch retten wollten.

Katharina konnte nichts tun. Nur noch hoffen. Thielke hing inzwischen am Tropf. Die beiden Sanitäter holte eine Bahre aus dem Rettungswagen und hoben den Schwerverletzten vorsichtig hoch. Thielke hatte inzwischen das Bewusstsein verloren. Die Sanitäter schoben den Verletzten in den Wagen, dann klappten die Türen zu, und das Fahrzeug setzte sich mit heulender Sirene in Bewegung. Katharina wandte sich den beiden Polizisten zu.

„Sie kennen den Verletzten?“, fragte einer der Beamten.

Sie nickte und erzählte, was geschehen war.

„In Ordnung“, sagte er. „Alles Weitere müssen Sie mit Kommissar Steinhauf klären. Er ist bereits informiert und wird bald hier eintreffen.“

Eine Viertelstunde später erschienen die Leute von der Spurensicherung und nahmen ihre Arbeit auf. Der Tatort wurde aus mehreren Blickwinkeln fotografiert und Beweismittel sichergestellt. Nach einer weiteren Viertelstunde erschien ein dritter Polizeiwagen. Verschlafen rieb sich der Mann auf dem Rücksitz die Augen. Er lehnte sich noch einmal zurück und gähnte ausgiebig, ohne dem Polizisten sonderliche Beachtung zu schenken, der ihm respektvoll wartend die Wagentür aufhielt.

„Eine Schießerei auf offener Straße?“, murmelte er und blinzelte den Beamten an.

„So hieß es zumindest in der Meldung“, erwiderte der Angesprochene.

„Und dann ausgerechnet hier?“ Er schüttelte den Kopf. „Was sind das bloß für Zeiten?“

Der Mann stieg aus dem Wagen, reckte sich ächzend und füllte seine Lungen mit der kühlen Luft, die ein stetiger Wind über die Krumme Straße wehte. Der Mann war hochgewachsen, hatte eine Halbglatze und einen gepflegten Bauch, den er würdevoll unter seinem dunklen Anzug vor sich herzutragen wusste. Er ging zu einem der Polizisten, die als erste am Tatort eingetroffen waren, und ließ sich von ihm berichten, was sich ereignet hatte. Dabei zeigte der Beamte mehrmals auf Katharina, die abseits an einer Hauswand lehnte.

„Interessant“, sagte der Mann, während er eine Pfeife hervorholte und in den Mund steckte. „Wirklich sehr interessant.“

Er ging zu Katharina hinüber und begrüßte sie mit Handschlag. „Ich bin Kommissar Steinhauf. Die Sache sieht verdammt ernst aus. Können Sie mir in wenigen Sätzen erklären, um was es hier eigentlich geht?“

Katharina berichtete noch einmal, was sich während der letzten Tage ereignet hatte, angefangen bei dem Diebstahl der Filmrollen, über den Anruf des Erpressers bis hin zu seinem Auftauchen in ihrer Wohnung. Steinhauf hörte geduldig zu. Er verzog seine Miene nur ganz geringfügig und grub in seinem kriminalistischen Gedächtnis nach einem ähnlichen Fall, aber er kam zu keinem Ergebnis.

„Eine merkwürdige Geschichte“, meinte er schließlich. „Wer kommt bloß auf die Idee, Negative zu klauen, um dann Lösegeld zu erpressen?“

Steinhauf schob das Mundstück seiner Pfeife von einem Mundwinkel in den anderen. Sie brannte nicht. Seit seiner Woche versuchte er, sich das Rauchen abzugewöhnen.

„Ich weiß es nicht“, gab Katharina zu.

„Haben Sie den Schützen gesehen, der den Mann angeschossen hat?“

„Nein, nur sein Komplize war bei mir in der Wohnung.“

Steinhauf holte den Tabaksbeutel, den er ständig mit sich führte, aus seinem Mantel und begann die Pfeife zu stopfen.

„Können Sie ihn irgendwie beschreiben?“

„Nein.“

„Und es gibt nichts, an dem Sie ihn vielleicht wiedererkennen würden?“

„Nein, leider nicht.“

Dicke Rauchwolken stiegen aus Steinhaufs Pfeife. „Schade“, murmelte er. „Wirklich sehr schade.“

„Was ist eigentlich mit den Filmdosen?“, fragte Katharina. „Meine Auftraggeber warten darauf.“

„Sie können sie mitnehmen“, erwiderte Steinhauf. „Die Tasche müssen wir allerdings sicherstellen. Und Ihre Wohnung wird versiegelt, bis die Untersuchungen abgeschlossen sind. Können Sie vorläufig bei jemandem unterkommen?“

„Ja, ich bleibe so lange bei meinem Lebensgefährten.“ Sie nannte dem Kommissar die Adresse von Robert Tillmann.

„In Ordnung. Morgen müssen Sie allerdings noch aufs Revier kommen und das Protokoll unterschreiben.“

„Gut, mache ich.“

Katharina kehrte in ihre Wohnung zurück, holte die Filmdosen, packte ein paar Sachen zusammen und fuhr zu Roberts Wohnung in der Pestalozzistraße. Von dort rief sie Eckard Joswig an.

„Den Göttern sei Dank“, sagte der Produzent, als er hörte, dass sich die Filmdosen in Katharinas Besitz befanden. „Ich dachte schon, es sei schiefgegangen. Können Sie mir die Filme sofort vorbeibringen?“

„Ja, mache ich.“

11

Eckard Joswig empfing die Detektivin unter dem Vordach seines Hauses. Er trug einen weinroten Hausmantel und dunkelblaue Pantoffeln.

„Kommen Sie herein“, rief er. „Brankov wird auch gleich kommen. Er ist ebenfalls froh, dass Sie es geschafft haben.“

 

Sie betraten die Halle und gingen ins Wohnzimmer. Katharina stellte die Tasche neben einem Sessel ab, setzte sich und ließ sich ein Glas Sherry geben. Joswig nahm ihr gegenüber Platz und leerte sein Glas in einem Zug.

„Das ist ein Gefühl wie bei einer Filmpremiere“, sagte er und füllte die Gläser nach. „Brankov kann die Negative morgen entwickeln lassen. Dann geht es an den Schnitt und an die Synchronisation. Ich bin nur froh, dass …“

Die Türklingel ertönte. Joswig sprang auf und kehrte mit Brankov zurück.

„Ich kann mich nicht lange aufhalten“, verkündete er. „Habe morgen ein paar wichtige Termine.“ Er deutete auf die Ledertasche. „Haben Sie die Filme da drin?“

Katharina nickte. „Die Tasche, in der sie zuvor waren, hat die Polizei zur Untersuchung mitgenommen.“

„Gut“, sagte Brankov. „Leihen Sie mir die Tasche bis morgen? Ich nehme sie gleich mit, damit wir sofort mit der Arbeit beginnen können.“

Katharina hatte nichts dagegen. Sie verabschiedete sich von Brankov und fuhr nach Hause. Dort ließ sie sich ein Bad ein, das ihre Müdigkeit vertrieb. Aber während der ganzen Zeit, die sie mit Nagelbürste und Schwamm Schiffchen spielte, wälzte sie in ihrem Kopf die Ereignisse der vergangenen Stunden hin und her. Es bedrückte sie, dass sie im Grunde genommen noch keinen Schritt weitergekommen war. Das größte Fragezeichen bildete für sie immer noch der Diebstahl der Negative. Insgeheim musste sie Kommissar Steinhauf recht geben. Wer kam bloß auf die Idee, Filme zu klauen, um dann Lösegeld zu erpressen?

Welche Rolle spielte der Produzent in dieser Geschichte? War er wirklich nur das unfreiwillige Opfer, wie er Katharina glauben machen wollte? Die Detektivin hoffte, in den nächsten Tagen wenigstens einen Teil dieses Geheimnisses lüften zu können. Sie wollte die Wahrheit herausfinden.

12

Am darauffolgenden Morgen fuhr Katharina zum Kommissariat, um das Protokoll zu unterschreiben.

„Haben Sie schon eine Spur von den Tätern?“, fragte sie beiläufig.

Kommissar Steinhauf schüttelte den Kopf. „Leider nicht. Die ganze Angelegenheit ist sehr seltsam. Ich habe schon erlebt, dass Kinder entführt wurden, Männer, Frauen … mir sind sogar einige Fälle bekannt, in denen es die Täter auf Haustiere abgesehen hatten … aber Filme … hm … sehr eigenartig.“

„Ja, da gebe ich Ihnen recht“, sagte Katharina, während sie ihm das unterschriebene Protokoll gab.

Er warf einen kurzen Blick darauf und legte es dann zur Seite. „Wir haben inzwischen einige Nachforschungen über die Leute angestellt, die in diesen Fall verwickelt sind. Wie ich hörte, waren Sie früher selber einmal bei der Mordkommission.“

„Ja.“

„Und dann wurden Sie entlassen, weil …“

„Nein“, widersprach Katharina. „Ich wurde nicht entlassen. Ich habe gekündigt, weil mir die Methoden einiger Kollegen gegen den Strich gingen.“

„Natürlich“, sagte Kommissar Steinhauf gedehnt. „Und seitdem arbeiten Sie als Privatdetektivin. Mal mehr, mal weniger erfolgreich.“

„Wollen Sie damit etwa andeuten, dass ich etwas mit der Erpressung zu tun habe?“

„Nein, dieser Gedanke ist mir überhaupt nicht gekommen. Er wäre auch ziemlich abwegig. Aber wie verhält es sich mit Ihrem Auftraggeber?“

„Joswig?“

Steinhauf nickte.

„Ich arbeite nicht für Joswig, sondern für die Versicherung.“

„O ja, natürlich. Ich vergaß. Nichtsdestotrotz könnte er darin verwickelt sein.“

„Wie kommen Sie darauf?“, wollte Katharina wissen.

„Wir haben einige Nachforschungen angestellt“, wiederholte Steinhauf. „Dieser Herr Joswig ist kein unbeschriebenes Blatt.“

„Was heißt das?“

„Eigentlich dürfte ich Ihnen diese Information gar nicht geben, denn schließlich handelt es sich um eine laufende Ermittlung.“

„Warum tun Sie es dann?“

„Na, sagen wir mal, weil ich mir davon eine Gegenleistung erhoffe.“

„Was für eine Gegenleistung?“

Steinhauf lächelte. „Falls Ihnen etwas zu Ohren kommen sollte, das für unsere Ermittlungen von Bedeutung ist, dann wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mich informieren würden.“

„Das hätte ich sowieso getan.“

„Ja, davon bin ich überzeugt.“

„Also, was ist nun mit Joswig?“

Steinhauf zögerte einen Moment, bevor er antwortete. „Wussten Sie, dass er vorbestraft ist?“

„Nein“, antwortete Katharina sichtlich überrascht. „Weswegen?“

„Steuerhinterziehung. Er saß ein Jahr im Gefängnis.“

„Aber es besteht doch ein ziemlich großer Unterschied zwischen einer Steuerhinterziehung und einer Erpressung.“

„Ach, so groß ist der Unterschied gar nicht. Wer einmal kriminelle Pfade betreten hat, verlässt sie nur selten.“

Katharina musste lächeln. Der Satz klang beinahe wie ein Kalenderspruch. Vielleicht steckte in Steinhauf ein verhinderter Philosoph. „Trotzdem glaube ich nicht, dass Joswig etwas mit der Erpressung zu tun hat.“

„Nun ja, wir werden sehen.“

„Ich informiere Sie, sobald ich etwas Wichtiges in Erfahrung bringe.“

„Gut.“

Katharina verabschiedete sich von Kommissar Steinhauf und verließ das Büro. Ihr nächster Besuch galt Kurt Brankov, um ihre Tasche abzuholen. Als sie das Büro betrat, merkte sie sofort, dass etwas nicht stimmte. Der Besitzer des Kopierwerks und der ebenfalls anwesende Eckard Joswig machten Gesichter, als hätten sie eben ihre eigene Todesanzeige in der Zeitung gelesen.

„Was ist passiert?“, fragte die Detektivin.

„Die Filmrollen sind unbrauchbar gemacht worden“, antwortete Joswig.

Katharina runzelte die Stirn. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass die Erpresser mit den beschädigten Filmrollen bei ihr aufgetaucht waren, um das Lösegeld zu kassieren. Sie mussten doch damit rechnen, dass die Verschlüsse vor der Übergabe eingehend überprüft wurden.

„Sind Sie sicher, dass es sich um Ihren Film handelt? Vielleicht haben sie die Rollen vertauscht, um einen neuen Erpressungsversuch zu starten.“

„Nein, ausgeschlossen“, erwiderte der Produzent. „Wir haben die Filme nach der Entwicklung überprüft. Einige Szenen waren noch zu erkennen. Es ist mein Film. Am besten nehme ich mir einen Strick und melde Konkurs an.“

„Blödsinn“, schaltete sich Brankov ein. „Die Versicherung wird die gesamte Summe ersetzen, dann lässt sich die erste Hälfte des Films noch einmal drehen.“

„Ja“, sagte Joswig. „Wenn Jannick Wolfe verfügbar wäre, dann könnte ich das gesamte Team in ein paar Stunden zusammentrommeln.“

„Wo ist das Problem?“, wollte Katharina wissen.

„Ich habe Wolfe sofort angerufen, aber er hat schon einen Vertrag bei einer anderen Produktion.“

„Wie viele Tage würde der Nachdreh dauern?“, fragte Katharina.

Der Produzent überlegte einen Moment. „Inklusive Hin- und Rückflug Rom – Berlin ungefähr zehn Tage. Sämtliche Einstellungen stehen fest, die Schauspieler dürften ihren Text noch im Kopf haben, und die Kulissen stehen auch in Cinecittà. Wenn ich es schaffe, Wolfe davon zu überzeugen, dass wir ihn dringend brauchen, dann könnte es vielleicht klappen.“

„Aber wird er sich auch überzeugen lassen?“, fragte Brankov.

„Warum nicht?“, meinte Joswig. „Es geht schließlich auch um seine Karriere.“

13

Nachdem sich die Versicherung bereit erklärt hatte, den gesamten Schaden zu bezahlen, setzte sich Eckhard Joswig in sein Büro und telefonierte. Verabredungen wurden getroffen und Verträge geschlossen. Die Vorbereitungen liefen auf Hochtouren. Jannick Wolfe zögerte zwar, bevor er seine Zustimmung gab, doch schließlich willigte er ein. Die Versicherungsgesellschaft hatte allerdings eine Bedingung an ihre Zahlung geknüpft. Katharina Ledermacher sollte das Filmteam nach Italien begleiten und dafür sorgen, dass es keine weiteren Zwischenfälle gab.

Am Nachmittag des nächsten Tages besuchte die Detektivin Eckard Joswig in seinem Büro, um mit ihm das weitere Vorgehen zu besprechen.

„Ich habe mir die ganze Sache noch einmal durch den Kopf gehen lassen“, sagte sie. „Irgendjemand hat offenbar ein großes Interesse daran, dass der Film nie ins Kino kommt. Ich frage mich nur, weshalb? Vielleicht war die ganze Erpressungsgeschichte nur ein Vorwand. Sie müssen einen Gegner haben, der Ihnen schaden will. Hat es etwas mit dem Inhalt des Films zu tun?“

Joswig schüttelte energisch den Kopf. „Unsinn“, sagte er. „Das ist ein ganz normaler Actionfilm ohne politische oder anderweitige Botschaft. Es gibt ‘ne Menge Explosionen, Verfolgungsjagden und Schießereien. Das ist auch schon alles.“

„Aber es muss doch einen Grund dafür geben, dass man den Film sabotieren will.“

„Vielleicht will man mich ruinieren“, murmelte Joswig.

„Was ist mit den Schauspielern?“

„Ich verstehe nicht.“

„Könnte einer von ihnen der Grund sein?“

„Das halte ich für ausgeschlossen. Jannick Wolfe interessiert sich nur für seine Arbeit. Andere Ambitionen hat er nicht.“

Katharina kannte Wolfe aus einer Reihe von Filmen. Der blendend aussehende Schauspieler trat vorwiegend in anspruchslosen Actionfilmen auf. Wegen seiner verwegenen Art hatte er eine große Fangemeinde. Trotz seiner fünfzig Jahre machte er die meistens Stunts selber. Zumindest behauptete er das. Doch Katharina musste bald feststellen, dass nicht jede Behauptung der Wahrheit entsprach. Während sie sich noch mit Joswig unterhielt, wurde die Tür geöffnet, und ein Mann trat ein, den sie im ersten Moment für Jannick Wolfe hielt. Nur wirkte er bedeutend jünger als fünfzig. Aber er trug das gleiche unbekümmerte Lächeln zur Schau, das Wolfe berühmt gemacht hatte.

„Ist das wahr?“, fragte der Mann. „Sind wir jetzt alle arbeitslos?“

„Hallo, Simon“, sagte Joswig. „Keine Sorge, ihr seid nicht arbeitslos.“ Er wandte sich wieder an Katharina. „Das ist übrigens Simon Struck, Wolfes Stuntman in sämtlichen Action-Szenen. Er bricht sich für Wolfe mindestens drei Mal jährlich die Knochen.“

„Freut mich, Sie kennenzulernen“, sagte Katharina.

Struck nickte ihr zu.

„Ich habe gehört, dass Jannick bereits ein anderes Angebot hat“, meinte Struck. „Wenn er nicht verfügbar ist, kann ich seine Rolle spielen. Was hältst du davon?“

„Überhaupt nichts“, erwiderte Joswig. „Jannick spielt in der zweiten Hälfte, also muss er auch in den restlichen Szenen auftreten. Das Publikum würde den Unterschied sofort merken. Vor allem in den Großaufnahmen.“

„Na und?“, fragte Struck. „Die Maskenbildner haben schon ganz andere Kunststücke vollbracht. Die werden mich so schminken, das niemand etwas merkt. In den Actionszenen trete ich ohnehin auf.“

„Nichts gegen deine Fähigkeiten, Simon“, lenkte Joswig ein. „Du bist ein ausgezeichneter Stuntman, aber deine Stimme klingt vollkommen anders als die von Jannick.“

„Ich könnte sie imitieren.“

„Vergiss es. Was glaubst du, wird Jannicks Agent mir erzählen, wenn du in der ersten Hälfte für seinen Star einspringst? Der würde eine einstweilige Verfügung erwirken und …“

Das Läuten des Telefons unterbrach ihn. Er nahm den Hörer ab und meldete sich. Sofort veränderte sich sein Gesichtsausdruck. „Okay“, sagte er und legte wieder auf. Ein Lächeln umspielte seinen Mund. „Jannick hat mir soeben mitgeteilt, dass er für die zehn Tage zur Verfügung steht.“ Er rieb die Handflächen aneinander. „Gut, dann wollen wir mal an die Arbeit gehen. Morgen fliegen wir nach Italien.“

Katharina verabschiedete sich von Eckard Joswig, stieg in ihren Wagen, startete den Motor und fuhr zur Charité, um ihren Lebensgefährten Robert Tillmann zu besuchen. Er war während einer Unterrichtsstunde zusammengebrochen. Bisher hatten es die Ärzte nicht geschafft, die Ursache herauszufinden.

„Na, wie geht es dir?“, fragte er, als sie das Zimmer betrat.

„Ich liege nicht im Krankenhaus“, erwiderte Katharina. „Dreh den Spieß nicht um, Robert. Ich sollte dir diese Frage stellen. Was haben sie heute alles mit dir gemacht?“

„Sie waren wie immer sehr nett und freundlich zu mir“, sagt er lächelnd. „Und sie haben mich durch den Wolfe gedreht. Nichts ließen sie aus. EKG, EEG, Blutsenkung, Harntest, Zuckerbelastung, Ultraschall, Scanner … Sie waren wirklich sehr gründlich, gaben mir alles mögliche Zeug zu trinken, durchleuchteten mich von allen Seiten, und testeten meine Reaktion auf dies und jenes.“

 

„Und?“

„Sie haben nichts gefunden. Nach Ansicht der Mediziner ist es offenbar geradezu eine Beleidigung ihres Berufsstandes, wie gesund ich bin.“

„Aber dein Schwächeanfall muss doch eine Ursache haben.“

„Der Ansicht waren die Ärzte auch. Wenn einer so gesund ist wie ich, muss er wohl krank sein. Deshalb haben sie immer schlauere Spielchen mit mir getrieben, doch meine Werte waren völlig normal.“

„Und woher kamen deine Beschwerden?“

Robert zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Vermutlich Überanstrengung. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.“

„Ich mache mir aber welche. Das weißt du doch.“

„Vielleicht werde ich morgen schon entlassen. Oder ich rücke bei Nacht und Nebel aus.“

„Das solltest du nicht tun. Warte lieber so lange, bis der Chefarzt dir grünes Licht gibt.“

„Ich habe das Gefühl, er sieht sich in meinem Fall überfordert“, sagte Robert. „Er hat sich‘s ein bisschen einfacher vorgestellt, und ich wette, er ist mit seinem Latein bald am Ende. Aber reden wir nicht mehr über mich. Was ist mit dir? Hast du einen neuen Fall?“

„Ja, seit gestern.“

„Etwas Interessantes?“

„Diebstahl und Erpressung.“

„Ja“, meinte er. „Das klingt sehr interessant.“

„Deshalb muss ich morgen auch nach Rom.“

„Rom?“, fragte Robert erstaunt. „Aber wieso?“

Katharina berichtete ihm, was sich in den vergangenen Stunden ereignet hatte. Zwanzig Minuten lang erzählte sie, ohne dass er sie ein einziges Mal unterbrach. Als sie fertig war, dachte er lange schweigend nach.

„Eine seltsame Geschichte“, war alles, was er schließlich dazu bemerkte. „Und wie du es erzählst, klingt es höchstens noch seltsamer.“

„Schon möglich“, gab Katharina zu. „Aber – wie denkst du darüber?“

„Du bist die Expertin.“

„Ist das alles, was du dazu zu sagen hast?“

Robert nickte. „Alles. Trotzdem solltest du vorsichtig sein.“

„Das bin ich doch immer.“

„Am liebsten würde ich dich begleiten. Aber stattdessen liege ich hier herum und spiele Versuchskaninchen. Lange mache ich das nicht mehr mit. Wenn ich gesund bin, habe ich nicht das Recht, einem Kranken das Bett wegzunehmen.“

„Du bleibst hier“, sagte Katharina entschieden. „Denk ja nicht an eine Nacht- und-Nebel-Flucht, sonst lasse ich dich vom Chefarzt ans Bett fesseln.“

„He, das hört sich nach einer handfesten Verschwörung an“, gab er störrisch zurück.

In diesem Moment wurde die Tür geöffnet, und ein Arzt betrat das Zimmer. Er mochte so um die vierzig Jahre alt sein, hatte schwarze, dichte Haare, eine schmale Nase und braune Augen.

„Aha, Doktor Hulke“, sagte Robert.

Der Mann schloss die Tür hinter sich, kam auf die beiden zu und gab Katharina die Hand. „Frau Ledermacher, nehme ich an?“

„Ja, stimmt. Woher …“

„Er spricht von niemand anderen, seit er hier ist. Sie müssen etwas ganz Besonderes sein.“

„Das ist sie auch“, bestätigte Robert. „Wie sieht es denn nun aus? Haben Sie alle Ihre Geräte an mir ausprobiert?“

„Wie fühlen Sie sich heute, Herr Tillmann?“, fragte Doktor Hulke.

„Großartig“, antwortete er. „Das gefällt Ihnen nicht, wie?“

„Sie sind nicht hier, weil es Ihnen noch nie besser ging“, sagte der Arzt, „sondern weil Sie irgendeinen Krankheitsherd in sich haben.“

„Den Sie nicht finden können.“

„Sie müssen bedenken, dass wir uns die größte Mühe geben.“

„Ich bin für Sie und Ihre Kollegen ein medizinisches Rätsel, nicht wahr?“

„Nun, ich gestehe, es würde mir besser gefallen, wenn ich wüsste, woher ihr merkwürdiger Zustand kommt. Die Symptome sind uns fremd. Das erschwert natürlich die Diagnose. Organisch scheinen Sie völlig in Ordnung zu sein. Als dieser Anfall kam, hatten Sie da Schmerzen?“

„Nein.“

„Und dieser Blackout kündigte sich auch nicht irgendwie an?“

„Nein, er kam ganz plötzlich.“

Nachdenklich massierte der Arzt sein Kinn. „Merkwürdig. Höchst merkwürdig.“

„Wie geht es nun weiter?“, wollte Robert wissen.

„Mein Ehrgeiz lässt nicht zu, dass ich aufgebe“, beharrte Doktor Hulke. „Wir werden einige Tests wiederholen. Heutzutage ist der Körper eines Menschen kein Geheimnis mehr für uns Mediziner. Wir können in die Patienten hineinsehen, ohne sie aufschneiden zu müssen.“

„Ich bin froh, dass ich in diesem Jahrhundert lebe“, erwiderte Robert grinsend.

„Ich schlage vor, dass Sie für den Rest der Woche zur Beobachtung dableiben.“

„Was versprechen Sie sich davon?“

„Vielleicht haben wir Glück, und Sie kriegen diesen Blackout bei uns wieder. Unter Umständen können wir dann herausfinden, wodurch er ausgelöst wurde.“

„Aber Sie sind sich nicht sicher.“

„In Ihrem Fall befinden wir uns auf medizinischem Neuland, Herr Tillmann. Wir haben keine Erfahrungswerte, auf die wir zurückgreifen können. Wie gesagt, wir können die Tests nur wiederholen und auf ein positives Ergebnis hoffen.“

Robert schüttelte den Kopf. „Ich werde nicht zur Beobachtung hierbleiben, Doktor“, sagte er entschieden.

„Sie nehmen uns die Möglichkeit, doch noch darauf zu kommen, was Ihnen fehlt“, sagte der Arzt sichtlich enttäuscht. „Ich kann Sie natürlich nicht zurückhalten. Wenn Sie gehen wollen, muss ich Sie gehen lassen. Aber das würde ich mir an Ihrer Stelle noch einmal reiflich überlegen. Stellen Sie sich vor, Sie fahren mit Ihrem Wagen, und dieses Unwohlsein überkommt Sie. Damit gefährden Sie nicht nur Ihr eigenes Leben, sondern unter Umständen auch das anderer Menschen.“

„Trotzdem werde ich nicht zur Beobachtung hierbleiben“, wiederholte Robert.

Doktor Hulke zuckte mit den Schultern. „Sie müssen wissen, was Sie tun“, sagte er ernst.

„Wenn es mir besser passt, stelle ich mich Ihnen und Ihrem Team gerne noch einmal zur Verfügung.“

Doktor Hulke gab sich damit zufrieden. Er verabschiedete sich und verließ aus Zimmer. Kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen, sprang Robert aus dem Bett. Katharina sah ihn mit großen Augen an.

„Hältst du wirklich für eine gute Idee?“, fragte sie.

„Natürlich, du hast es doch gehört. Doktor Hulke hat mir bescheinigt, dass es keinen gesünderen Menschen als mich gibt. Das heißt, dass ich wieder nach Hause kann.“

„Aber dieser Blackout …“

„Vielleicht kehrt er nie mehr wieder.“

Er öffnete den Schrank und zog sich an. Wenige Minuten später verließen sie das Krankenhaus.

„Versprich mir trotzdem, dass du während meiner Abwesenheit vorsichtig bist“, sagte Katharina, während sie in den Wagen stieg.

„Natürlich bin ich das. Du kennst mich doch.“

„Eben.“