Herzogs Höhenflug

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Herzogs Höhenflug
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Wolfgang Sréter

Herzogs Höhenflüge


Impressum

eBook-Ausgabe 2021

© lichtung verlag GmbH

94234 Viechtach Bahnhofsplatz 2a

www.lichtung-verlag.de

Fotos Umschlag und innen: Wolfgang Sréter

eBook ISBN 978-3-941306-46-2

Alle Rechte vorbehalten.

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Unbefugte Nutzungen wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übetragung können zivil- und strafrechtlich verfolgt werden.

Die gedruckte Ausgabe ist in der edition lichtung erschienen:

1. Auflage 2021

© lichtung verlag GmbH

ISBN 978-3-941306-44-8

Herausgegeben mit freundlicher Unterstützung des Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds.

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie unter www.lichtung-verlag.de.

Inhalt

Slawische Tänze

Das Tor zum Himmlischen Frieden

Bar oder Karte

Mandarin Oriental

Eldorado

Die Witwe

Die Geliebte

Das unheilige Land

Zu spät

Eine Theaterleiche

Sehnsucht nach Whiskey

Affen und Buddhas

Der Sprung

Gefährliche Schüsse

Dank des Autors

Wir brauchen Retter, die uns helfen, die Reise zu überstehen

Jim Morrison


Slawische Tänze

Herzog war zufrieden. Gerade war er aus der U-Bahn am Odeonsplatz gestiegen. Die Rolltreppe brachte ihn einen Stock höher. Bevor er die nächste Treppe nahm, ging er auf das Schaufenster eines Möbelgeschäfts zu, in dem ein Spiegel hing. Er betrachtete sich.

Können Sie den Mann beschreiben? – Naja. – Das Alter? – Etwa um die dreißig? … vielleicht auch jünger … oder nein, doch ein wenig älter. – Größe? – Ich würde sagen eins fünfundsiebzig … er kann aber auch kleiner sein. – So groß wie Sie? – (zögernd) Ja. – Dick oder dünn? – So mittel. – Haarfarbe? Blond, schwarz, brünett? Grün? – Also ich bitte Sie, grün! Schwarz auf keinen Fall, aber blond auch nicht! Er könnte dunkelblond gewesen sein. – Wie war er denn gekleidet? – Jacke, Hose, unauffällig, ja auf jeden Fall unauffällig! Gedeckte Farben. – Würden Sie den Mann bei einer Gegenüberstellung wiedererkennen? – Ich hoffe. – (mit Ungeduld in der Stimme) Und Sie sind sicher, dass es sich um ein männliches Wesen gehandelt hat? – Meinen Sie, es könnte auch eine Frau mit kurzen Haaren gewesen sein? – Ich war nicht dabei!

So muss man sein, dachte Herzog im Weitergehen, wenn man bei seiner Tätigkeit erfolgreich sein will. Unauffällig! So unauffällig wie nur irgend möglich. Es war ihm gelungen, eine Eigenschaft, unter der er als Teenager gelitten hatte, in seinen Vorteil zu wenden. Er betrat den Hofgarten und ging mit anderen Besucherinnen und Besuchern auf den Herkulessaal zu. Vor dem Eingang unter den Arkaden spielte ein Petersburger Bläserquintett. Herzog ließ wie immer zwei Euro in einen offenen Instrumentenkasten fallen. Er war überzeugt, es würde Glück bringen. Einer der Musiker unterbrach sein Spiel und trat auf ihn zu. Er flüsterte mit einem starken Akzent: „Ich wünsche, dass Ihnen der Tod so fern ist wie die Armut, mein Herr!“

Am Buffet im Foyer der Münchner Residenz holte er sich zwei mit Lachs belegte Brötchen, stellte sich an einen der Bistrotische am Fenster und beobachtete die Menschen. Durchwegs ältere Semester, wie sein Onkel Eugen gesagt hätte, in aufgeräumter Stimmung. Dazwischen Studentinnen der nahen Musikakademie und eine Gruppe Kritiker mit zerfurchter Stirn und ernster Miene. Wahrscheinlich hatten sie Dvořáks Slawische Tänze schon oft gehört und kamen nur wegen der Prager Philharmoniker, die in München selten gastierten. Und wehe, der Dirigent hatte einen schlechten Tag oder erlaubte sich ungewöhnliche Interpretationen. Vernichtende Strenge der Herren mit den Schreibblocks und den Kugelschreibern würde ihn treffen. Herzog las manchmal am nächsten Tag die Kritiken und wunderte sich, was er alles nicht gehört hatte.

Plötzlich wurde seine ganze Aufmerksamkeit von einem Paar angezogen, das mit großem Auftritt angerauscht kam. Der Mann, einen Kopf kleiner als seine Begleiterin und um einige Jahre älter, versuchte mit ihren ausladenden Schritten mitzuhalten. Das war nicht leicht, denn er trug zwei große Tüten mit der Aufschrift einer italienischen Modefirma, die für ihren Hang zu Glamour, Gier und letztlich auch Mord bekannt war. Die Tüten mussten Wertvolles enthalten, da man sie nicht in der Garderobe lassen wollte. Offensichtlich kamen die beiden direkt aus der Maximilianstraße, wo sie sich der schwierigen Aufgabe gestellt hatten, Neues aus der Winterkollektion zu erstehen und, gemäß dem Slogan der Firma, Schönes in die Welt zu bringen. Eine Schönheit, die einzig und allein in der Brieftasche des Betrachters lag. Am Eingang zum Konzertsaal kam es zu einem Disput mit den Ordnern, die Tüten einer solchen Größe in einem Klavierkonzert nicht akzeptieren wollten. Die Dame, mit den Eintrittskarten wedelnd, setzte sich durch, und triumphierend steuerte sie ihren Sitzplatz im Parkett an. „Kreditkartentypen“ dachte Herzog. Uninteressant für einen wie ihn. Er sollte sich täuschen.

Beim zweiten Läuten nahm auch Herzog seinen Platz auf der Empore ein. Diese Plätze hatten den Vorteil, dass man das Parkett beobachten und bei vielen Konzerten ein oder zwei Sitze vom Nachbarn abrücken konnte. Er kam an diesem Abend natürlich nicht wegen der Slawischen Tänze, aber er konnte durchaus die Konzerte genießen, die er besuchte. Schon der erste Tanz riss ihn mit fort. Warum war man im Musikunterricht mit der Schwere Beethovens traktiert worden, wenn es klassische Musik gab, aus der Lebensfreude, Leichtigkeit und Zartheit geradezu heraussprangen? Der Schwung der Komposition schien auch in den Dirigenten in seinem Frack gefahren zu sein, denn er ruderte vor seinem Orchester herum, als müsste er die Geigen, Oboen, Querflöten, Trompeten und Posaunen geradezu vor sich hertreiben. Der zweite Tanz war zunächst schwermütig und getragen, ging aber am Ende in eine hüpfende Walzermelodie über. Der dritte Tanz begann mit den Bläsern, fast wie auf einem der Volksfeste, die Onkel Eugen gern mit ihm besucht hatte und auf denen er ein begehrter Polkatänzer gewesen war.

Das Publikum nahm die Beschwingtheit mit in die Pause. Selbst das Gedränge am Buffet kam Herzog weniger aufgeladen vor als an anderen Abenden. Wie durch Zufall wurde er hinter den Herrn geschoben, der noch immer die beiden Tüten zu bewachen hatte. Seine Begleiterin bestellte gerade. Der Herr ließ die beiden Tüten sinken und holte ein Bündel Banknoten in einer Geldklammer aus der Jackentasche. Herzog hörte:

„Nix da, Schatz! Du hast die Karten bezahlt, der Prosecco geht auf meine Rechnung“, dann um einige Grade schärfer, „und stell mir nix auf den Boden!“

Sofort verschwand das Geld in der Jackentasche und der Schatz nahm die beiden Tüten wieder auf. Er hielt sie vorsichtig ein wenig vom Körper ab, als hätte er Angst, es könnte etwas zerbrechen. Aufgesetzte Jackentaschen ohne Klappen, schon ein wenig ausgebeult, waren wie geeignet für einen schnellen Erfolg. Herzog stellt sich ganz nah an den Mann und hatte im Bruchteil einer Sekunde die Scheine verdeckt in seiner Hand. Freundlich ließ er dem hinter ihm Stehenden den Vortritt und ging auf die Toilette. Er hatte sich wirklich getäuscht, denn er war um siebenhundertdreißig Euro reicher, ohne dass er es darauf angelegt hatte. Er verstaute das Geld in einer versteckten Jackentasche. Nicht nur die Musik war an diesem Abend ausgezeichnet!

Solches Glück hatte er nicht immer. Nun hätte Herzog das Konzert verlassen können. Es wäre allerdings unvorsichtig gewesen, in der Pause an den Garderobenfrauen vorbeizugehen. Nicht aufzufallen war das Wichtigste. Er blieb auch im zweiten Teil des Konzerts auf seinem geschützten Platz auf der Empore und verließ am Schluss das Gebäude durch den Hintereingang, Richtung Residenzstraße. Man musste seine Einnahmequellen schützen. Er wäre nicht erfreut gewesen, wenn er eines Tages am Eingang ein Schild gesehen hätte: Achten Sie bitte auf Ihre Wertsachen!

 

Herzog zahlte das Geld noch am selben Abend an einem Bankautomaten ein. Er besaß drei Konten. Ein offizielles, von dem auch seine Krankenkasse und die Miete abgebucht wurden, ein zweites, von dem er jeden Monat einen bestimmten Geldbetrag auf das offizielle überwies, als würde er ein Gehalt beziehen, und ein drittes, das seine Reserve darstellte und das er nur anrührte, wenn es eine Durststrecke gab. Kontenmäßig war er ein junger Mann mit bürgerlichem Anstrich.


Das Tor zum Himmlischen Frieden

Am nächsten Tag ging Herzog die Treppe zur Wohnung eines ehemaligen Schulkameraden hinauf, vorbei an den vergitterten Fenstern, die ihn an eine Polizeistation erinnerten. Solch ungemütliche Orte erschienen ihm ab und zu, wenn er schlechte Träume hatte. Herzog nahm immer zwei Stufen auf einmal. Er war spät aufgestanden. Sehr spät sogar. Er hatte unter der Dusche das Telefon nicht hören können, aber kurz darauf meldete ihm der Anrufbeantworter, Fliege erwarte ihn zu einem Spaziergang. Was für eine Überraschung! Sie hatten sich lange nicht gesehen. Etwas außer Atem kam er im dritten Stock an. Die Tür zu dem Einzimmerappartement war angelehnt, trotzdem klingelte er, denn Herzog war ein zurückhaltender Mensch.

Nichts rührte sich. Er klingelte noch einmal. Als er die Tür öffnete, spürte er, wie sein Gehirn von einem Moment auf den anderen auf Flucht schaltete. Fliege hing an dem starken Haken, an dem normalerweise sein Punchingball baumelte. Herzog schloss kurz die Augen. Er hatte immer gedacht, nichts könnte ihn aus der Fassung bringen. Allerdings war er noch nie einem Erhängten begegnet. Er sah seinen Schulkameraden von schräg unten. Mit einer schiefen Stellung des Kopfes blickte Fliege auf den entsetzten Besucher herab. Die aufgequollenen Augen hatten in diesem Moment etwas zudringlich Unsympathisches.

Wenn jemand den Kopf in der Schlinge hat, denkt man immer zuerst an ein freiwilliges Ableben. Aber Fliege musste regelrecht liquidiert worden sein. Er schien bis zum letzten Atemzug gekämpft zu haben. Das Hemd war bis zum Gürtel aufgerissen und der Oberkörper war übersät mit lila Flecken. Eine solche Behandlung kannte man normalerweise nur von Geheimdiensten autokratischer Staaten. Ein Gerichtsmediziner würde die Verletzungen bei der Obduktion mit dem neutralen Ausdruck „stumpfe Verletzungen, flächenhaft eingeblutet“ bezeichnen. Fliege hatte offensichtlich versucht, sich mit dem schweren Ledersack, der in einer Ecke lag, zu verteidigen. Soweit Herzog dies von der Tür aus beurteilen konnte, glich die Wohnung dem Zustand nach einem Polterabend, der aus dem Ruder gelaufen war. Kleidung lag vor dem Schrank, die Matratze hatte man aus dem Bett gerissen, Computer und Fernsehapparat lagen auf dem Boden. Sogar Lebensmittel waren verstreut.

Nur keine Polizei, dachte er. Nur jetzt keine Polizei!

Obwohl er am liebsten sofort verschwunden wäre, stand er wie angewurzelt. Er konnte das Missverhältnis von erforderlicher und tatsächlicher Blutversorgung, das durch einen Schock entsteht, spüren. Herzogs Herz raste praktisch im Leerlauf. Seine Gehirnzellen bekamen keinen Treibstoff. Das einzige, was sie zustande brachten, war: Vorsicht Ohnmacht!

Es gibt Momente, in denen einen die Angst geradezu anfällt, in denen Kraftlosigkeit und Übelkeit zunehmen. Diese Angst beeinträchtigt die Beobachtungsgabe und das Reaktionsvermögen und führt geradewegs ins Unglück. Man sendet Signale aus, die das Schicksal einladen zuzuschlagen, und tut gut daran diesen gefährlichen Zustand möglichst schnell in Kälte umzuwandeln. Es hilft, den Thermostat auf schnelles Einfrieren zu stellen. Kälte sichert in diesem Fall das Überleben.

Irgendwann reagierte er instinktiv. Er ging ein paar Schritte rückwärts, tastete mit der Hand nach dem Geländer, drehte sich um und tapste vorsichtig wie ein alter Mann eine Stufe nach der anderen dem Ausgang zu. Am ersten Treppenabsatz blieb er stehen, fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und atmete tief durch. Durch das vergitterte Fenster sah er ratlos hinunter auf die geparkten Autos. Als er ein Geräusch hörte, schaute er unwillkürlich nach oben. Flieges Wohnungstür wurde gerade von innen geschlossen. Herzog spürte seine Nackenhaare und war überzeugt, er würde von der Seite aussehen wie ein Igel.

Auf der Straße lehnte er sich an die Hauswand. Eine Frau blieb in einiger Entfernung stehen und beobachtete ihn, als wäre sie bereit, ihn aufzufangen, wenn er in sich zusammensackte. Als er die Straße überquerte, um zur Trambahnstation zu kommen, übersah er ein Auto. Der Kotflügel streifte seine Hose, aber Herzog reagierte nicht. Er ging einfach weiter, ohne auf den brüllenden Fahrer zu achten, der sich mit dem Zeigefinger an die Stirn tippte. Er ließ drei Trambahnen vorüberfahren. Bei der dritten kam ein Mann angelaufen, als sich gerade die Türen schlossen. „So ein verdammter Scheißtag“, rief er. „Das können Sie laut sagen“, antwortete Herzog. Der Mann sah ihn erstaunt an.

Zuhause sperrte Herzog die Wohnungstür zwei Mal von innen ab und setzt sich vor den Anrufbeantworter. War Flieges Stimme beunruhigt? Eigentlich nicht. Die Stimme war ein wenig gedämpft. „Ein Spaziergang würde mir guttun.“ Dieser Meinung konnte man allerdings auch sein, wenn man die ganze Nacht durchgesoffen oder bei Föhn Kopfweh hatte. Der lapidare Anruf eines alten Freundes, der einen alltäglichen Vorschlag macht. Aber da gab es noch etwas. Herzog hörte es erst, als er die Meldung bis zum Ende laufen ließ. Das Klingeln an der Wohnungstür war seiner Aufmerksamkeit entgangen. Es war fast unhörbar, aber deutlich, je öfter Herzog die Nachricht abhörte. Ganz gewöhnliche Töne, die sich wiederholten. Ding dong. Und noch einmal ding dong. Genauso hätte der Junge läuten können, der immer mit der Werbung unterwegs war. Hätte Fliege das Telefon zur Seite gelegt und aufs Band gesprochen „Moment, es klingelt“, wäre Herzog Zeuge des Überfalls geworden, zumindest akustisch. Offensichtlich hatte keiner der Nachbarn den anschließenden Lärm gehört. Eigenartig, denn als Fliege kurz vor der Scheidung oft lauthals mit seiner Frau gestritten hatte, war immer sofort ein vorwurfsvolles Klopfen zu hören gewesen. Öffnete er immer, ohne durch den Türspion zu sehen? Kannte Fliege diejenigen, die vor der Tür standen, oder hatte er niemanden gesehen und einfach geöffnet?

„Vergessen“, sagte Herzog zu sich selbst, „ich muss das Ganze so schnell wie möglich vergessen!“ Er beschloss, erst einmal schwimmen zu gehen. Nein, er beschloss nicht, er flüchtete, obwohl er sich nur sehr langsam bewegen konnte, langsamer noch als gewöhnlich. Auch die beiden Worte „erst einmal“ waren nicht zutreffend, denn damit schloss er alles Übrige aus. Er konnte nicht nach Verlassen des Schwimmbads einen Rechtsanwalt um Rat fragen oder vielleicht doch die Polizei rufen. Damit war es dann vorbei.

Am meisten schätzte Herzog ein Freibad, das auch im Winter geöffnet hatte. Ein leichter Dunst lag über dem Wasser und verschluckte die neonfarbenen Bademützen. Das Wasser war von unten beleuchtet und das Becken sah aus, als wäre es am Boden mit Schnee bedeckt. Schwimmer tauchten aus Dampfwolken auf und wie immer erinnerten ihn ihre runden dunklen Brillen an Fotos von Kampffliegern aus dem Ersten Weltkrieg.

Er zog seine üblichen Bahnen, aber das beruhigte ihn nicht. Der Flow, den er so liebte, der ihn oft über zweitausend Meter hinaustrug und die Zeit vergessen ließ, wollte und wollte sich nicht einstellen. Er brachte die Atmung nicht unter Kontrolle. Es gelang ihm nicht, Widerstand unter die Hände zu bringen, und er zog sich nicht vorwärts. Die Schultern verkrampften. Er schlug das Wasser mehr, als dass er darin geglitten wäre. Ab und zu pflügten Frauen in dünnen Trikots, die weniger Haut verdeckten als freigaben, an ihm vorüber. In der Spur der Luftblasen, die ihre Füße im Wasser hinterließen, sah er die Augen dieses am Haken hängenden Menschen:

Axel Steigenberger, bis zur zehnten Klasse sein Banknachbar im Comenius-Gymnasium in Deggendorf. Nach der Mittleren Reife Beginn einer Karriere als Boxer im Fliegengewicht. Ein aufstrebendes Talent mit schnellen Beinen, runden, festen Schultern und lockerem Mundwerk. Ein erklärter Liebling der Boulevardpresse, der sich selbst gern mit einem zugeschwollenen Auge in der Zeitung sah. Viel Schweiß und Arbeit am Sandsack, denn Boxen hieß nicht nur Draufhauen. Vor allem musste man lernen, Schläge einzustecken, und zwar so, dass sie einen nicht aus der Bahn warfen. Eine mehrmals gebrochene Nase, zwei zertrümmerte Schlüsselbeine, ein Milzriss und eine Leberquetschung. Ein gewiefter Taktiker. Als Profi ungeschlagen, trotzdem keine Chance gegen die Amerikaner, die den Markt mit allen legalen und illegalen Mitteln beherrschten. Mut und Wut alleine reichten nicht. Der Traum vom großen Geld verflüchtigte sich.

Nach drei Jahren Aufnahmeprüfung bei der Polizei. Vergeblicher Versuch, in einer Sondereinheit, wie der GSG 9, aufgenommen zu werden. Vergeblicher Versuch, wenigstens in der Zentralen Unterstützungsgruppe Zoll zu landen, in der Fitness, Reaktionsschnelligkeit und gute Nerven ein abwechslungsreiches Berufsleben versprachen. Schließlich ein stinknormaler Zollfahnder, mit Schwerpunkt Autobahn Salzburg-München. Geschieden, weil nichts mehr zusammenpasste, wie er sagte. Vater eines Sohnes.

Der Boxer, den sie Fliege nannten, erhängt im Alter von einunddreißig Jahren.

Wenn man aus einer Boxfabrik kommt, muss man an die eigene Kraft glauben, sonst wird das Leben unerträglich, das Training zur Hölle und jeder Schlag sinnlos. Wird man hingegen in diesem Land Polizist, muss man nicht unbedingt von der Existenz Gottes überzeugt sein, obwohl man bei der Vereidigung die rechte Hand auf die Bibel legt. Wahrscheinlich war es sogar hinderlich, zu viele Grundsätze zu haben, wenn man mit der täglichen Arbeit und den Vorgesetzten fertig werden wollte. Herzog hatte nie herausgefunden, wie Fliege mit diesen Widersprüchen zurechtkam.

Es war für Herzog völlig klar, dass mehrere Angreifer über ihn hergefallen sein mussten. Einer alleine hätte keine Chance gehabt. Einen einzelnen Angreifer hätte der platt gemacht, obwohl er längst nicht mehr regelmäßig trainierte.

Im wohltemperierten Wasser des Schwimmbades legte sich Herzog Folgendes zurecht: Er hätte bei den Ermittlungen in keiner Weise hilfreich sein können. Was wusste er letztlich schon von Flieges Leben? Kannte er ihn überhaupt? Kennt man jemanden, nur weil man ihn bei seinem Spitznamen nennen darf und mit ihm lange Zeit die Schulbank in einer Kleinstadt gedrückt hat? Weil es irgendwann einmal in der Oberstufe des Gymnasiums eine gemeinsame Geliebte gegeben hatte, die man im Eiscafé Venezia auf dem Luitpoldplatz traf? Weil man später unter anderem Spaziergänge im Englischen Garten unternahm und sich anschließend am Chinesischen Turm mit einem schlecht eingeschenkten Bier zuprostete? Weil man wusste, dass einer nicht nur Legastheniker, sondern auch Rechtsausleger war, der zwar als Erwachsener noch mit der Rechtschreibung kämpfte, dafür aber blitzschnelle Aufwärtshaken punktgenau auf das Kinn des Gegners setzen konnte?

Herzog war einige Male am Ring gestanden, wenn Fliege kämpfte. Er war hart im Nehmen, und Herzog wurde regelmäßig schlecht. Trotzdem faszinierte ihn dieser konzentrierte Blick des Boxers. In Sekundenbruchteilen konnte er eine Schwäche des Gegners erkennen und in ihn hineingehen. So nannte er es. Nicht selten kam es dann zu dem entscheidenden Punch, der den Kampf beendete und den Kontrahenten zu Boden streckte. Die Gier der Zuschauer ekelte Herzog genauso an wie die entstellten Gesichter. Wenn die Augen zuschwollen und die Haut im Gesicht riss. Wenn sich das Blut der Boxer mit Schweiß mischte und dünnflüssig wurde. Was sein Freund für die große Welt hielt, war für Herzog nicht mehr als Vorstadt. Für Fliege und seinen Anhang erschien glamourös, was für ihn schmierig, bisweilen sogar erbärmlich erschien. Sein bestickter Seidenumhang, mit dem er in den Ring stieg, erinnerte an billige Nylonblousons, denen man einen chinesischen Drachen verpasst hatte. Und Frauen, die bei einem Knockout vor Begeisterung kreischten, konnte Herzog nichts abgewinnen.

Er stieg aus dem Wasser und hastete den Gang entlang zu den heißen Duschen. In Abständen drehte er sich um. Selbst beim Hin- und Herschwimmen hatte er dies getan. Völlig blödsinnig! In der Dusche fühlte er sich eingesperrt. Er vermied es, beim Haarewaschen die Augen zu schließen, und behielt die Tür im Auge.

 

Während er versuchte, den Geruch des Chlorwassers loszuwerden, sah er den Toten vor sich wie eines jener Opfer aus unzähligen Fernsehserien, die man heute selbst in Kneipen auf Großleinwänden überträgt. In denen gerichtsmedizinische Untersuchungsräume immer in kaltes Blau- oder Grünlicht getaucht werden, damit die Schauspieler aussehen, als würden sie sich vor der offenen Leiche übergeben müssen.

Jeder Ermordete, das weiß heute jedes Kind, wird in der Gerichtsmedizin auf seiner Bahre zunächst von außen besichtigt: Ohren, Nase, Mund. Sogar die Augenlider werden mit einer Pinzette angehoben, damit die gelblichen Bindehäute der toten Augen in Großaufnahme noch einmal zum Vorschein kommen. Dann Brust, Rücken, Arme und Beine. Zur inneren Begutachtung setzt man mit dem Skalpell einen Schnitt vom Schambein bis unters Kinn. Wenn das Brustbein entfernt ist, liegen Lunge und Herz offen da. Das Gedärm wird entnommen und auf einem Tisch ausgebreitet. Weist die Leber eine krankhafte Vergrößerung auf, wird ihr besondere Beachtung geschenkt. Damit war allerdings bei Fliege nicht zu rechnen.

Am Ende kommt der Kopf dran. Ein Schnitt von einem Ohr zum anderen quer über den Schädel. Die Kopfhaut, dick wie eine Schwarte, wird nach vorne und nach hinten abgeschoben, das Schädeldach mit der Handsäge entfernt und das Empfindlichste eines Menschen, das Gehirn, herausgelöst. Dort würden die Ärzte bei dem Boxer Blutungen und blauschwarze Verfärbungen finden, die durch gezielte Schläge verursacht worden waren. Wahrscheinlich aber auch alte Verletzungen, die von den vielen Kopftreffern herrührten. Nach getaner Arbeit würde ein Mitarbeiter ein Kühlfach öffnen und Fliege bis zur offiziellen Freigabe der Leiche und der anschließenden Beerdigung in einem der stillen Aquarien des Todes verschwinden lassen, in guter Nachbarschaft mit aufgeblähten Wasserleichen, Teilen von Verkehrstoten und zufriedenen Selbstmördern.

So wie er sich vor etwa einer Stunde nach Wasser gesehnt hatte, in das er eintauchen konnte, als würde es darin eine Möglichkeit geben, die Zeit zurückzudrehen, so sehnte sich Herzog nun nach Wärme. Nach einer möglichst großen Entfernung zwischen Flieges Wohnung und einem Ort, an dem er mit leichtem Gepäck an einem Strand ankommen würde. Er machte sich auf den Heimweg, überquerte die Straße und ging an einer Lottoannahmestelle vorbei. Sechzehn Millionen lockten im Jackpot. Zumindest für die, die den Zufall für einen Freund hielten und an das Glück glaubten. Er beobachtete einen Mann, der vor einem Bankautomaten lässig ein paar Geldscheine zählte und dann achtlos in die Jackentasche stopfte. Er überlegte. Offene Jackentaschen waren für ihn immer eine Einladung. Ein paar Wartende an einer roten Ampel, ein kleines Gedränge und die Scheine hatten den Besitzer gewechselt. Der Mann verschwand im Eingang einer Pension. Die Sache hatte sich also von selbst erledigt.

Herzog war von Natur aus mit flinken Fingern und scharfen Augen ausgestattet. Es wäre seiner Meinung nach eine Schande gewesen, diese Gabe nicht zu vervollkommnen. Schon als kleiner Junge konnte er vom Tisch der Erwachsenen unbemerkt Schokoladestückchen verschwinden lassen. Später dann Zigaretten und die begehrten Virginiazigarren seines Onkels Eugen, bei dem er aufwuchs. Er rauchte sie zusammen mit seinen Freunden, bis ihnen schlecht wurde.

Im Alter von fünf Jahren wünschte er sich zu Weihnachten Handschellen. Er liebte es, wenn sie mit einem Geräusch, das von einer riesigen Grille zu kommen schien, zugeschlossen wurden. Gleichzeitig forderte es ihn heraus. Um sich von Handschellen zu befreien, musste man die Fingerknöchel einer Hand so schmal machen können wie das Handgelenk. Er begann schon unter dem Weihnachtsbaum und später dann vor dem Einschlafen zu trainieren, seine Hände in Längsrichtung einzurollen. Zunächst knetete er seine Hände weich, dann drückte er seinen Daumen so stark in die Handfläche, bis seine Hand aussah wie eine Klopapierrolle. Es dauerte zwei Wochen, bis er sich aus den Handschellen befreien konnte. Er stellte den Trick seinen Freunden vor, die unsinnigerweise vor allem die Handschellen untersuchten. Zur Sicherheit hatte er allerdings immer eine Heftklammer dabei, mit der sich die einfachen Schlösser leicht öffnen ließen.

Dann begann er zu zaubern und trainierte damit nicht nur seine Hände, sondern schärfte auch den Beobachtungssinn. Er wäre allerdings nie auf die Idee gekommen, anderen Menschen das Geld aus der Tasche zu ziehen, wenn er nicht einmal selbst auf primitive Weise bestohlen worden wäre: Gegen drei Uhr morgens war er nicht ganz nüchtern auf dem Heimweg aus einem Club gewesen. In seinem Kopf dröhnten noch die Bässe. Er hüpfte ein wenig, als würde er „Ein Hut, ein Stock, ein Regenschirm“ spielen. Für ein paar Stunden hatte er seine Seele losgelassen, hatte das wechselnde Licht genossen, die zuckenden Bewegungen der Tänzerinnen. An einer Bushaltestelle kam eine junge Frau auf ihn zu, gut gekleidet, mit einem Lächeln auf dem Gesicht. Sie fasste entschlossen in seinen Schritt und bot sich für einen lächerlichen Betrag an. Während er immer wieder versuchte, die unangenehme Berührung loszuwerden, wanderte sie unverfroren mit der anderen Hand zuerst in seine Gesäßtasche und dann in die rechte Vordertasche. Nicht die vierzig Euro schmerzten ihn, die er dabei einbüßte, sondern die Dreistigkeit, mit der die Frau vorgegangen war und ihm immer wieder das Wort „Ficken“ ins Ohr geflüstert hatte. Es klang für Herzog keineswegs verführerisch, sondern zudringlich und ekelhaft. Seit dieser Nacht interessierte ihn, wie die Menschen mit ihrem Geld umgingen. Ziemlich sorglos, wie er fand, und eines Tages war es soweit. Seine Fingerfertigkeit wurde zu einer einträglichen Tätigkeit, die seine finanziellen Sorgen nach dem Tod Onkel Eugens auf ein Minimum reduzierten.

Am Abend nach Flieges Ermordung ging Herzog früh zu Bett. Er träumte, er würde in dem chinesischen Restaurant „Tor zum Himmlischen Frieden“ essen. In seinem Traum gab es keine weiteren Gäste. Man kannte ihn und seine Eigenheiten und respektierte sie mit chinesischer Diskretion. Es mochte für andere Menschen befremdlich sein, allein in ein Restaurant zu gehen, aber nach mehreren Jahren in einem Internat, in dem man weder in seinem Zimmer noch beim Essen, nicht einmal unter der Dusche seine Ruhe hatte, stand ihm dieser Tick zu. Vor ihm stand im Traum eine Flasche Wein, die er vom ersten bis zum letzten Glas alleine trinken würde.

Er bestellte Fisch mit frischem Ingwer, dazu Reis und Gemüse. Es passierte, als er fast mit seiner Portion fertig war. Der Kopf des Fisches wurde plötzlich größer und wechselte die Farbe. Rote Streifen schossen in das blasse Grau, quer über die weißlich toten Augen, die zu glänzen begannen. Grün schillernde Punkte verteilten sich über jene Hautfetzen, die er fein säuberlich vom Fisch getrennt und auf einem separaten Teller abgelegt hatte. Der Kopf schnappte nach seiner Hand. Er versuchte, den Fisch mit der Gabel zu bändigen, aber es gelang ihm nicht.

Der Kopf mit dem aufgerissenen Maul, in dem die Zähne immer länger wurden, sprang zurück auf die blauweiße Porzellanplatte, auf der ein lächelnder Ober das Gericht serviert hatte. Der Schwanz kroch langsam über den Tellerrand auf ihn zu. Er hielt sein Messer wie ein Schwert, nein, er hielt sein Messer für ein Schwert, das ihn retten konnte. Sein Magen krampfte und gab den Schmerz an die umliegenden Organe weiter.

Die Ober bliesen ihre Köpfe auf und begannen an die Decke zu schweben. Ihre schmächtigen Körper in den schwarzen Tang-Suits unterschieden sich nicht von den Quasten der chinesischen Lampions. Herzog hätte lachen können, aber der Atem fehlte ihm. Er brachte nur ein Ziehen zustande wie jemand, der an Asthma leidet. Er presste die Hände gegen die Tischplatte. Nicht nur die Hose, sein ganzer Körper klebte am Stuhl. Wenn er es nicht schaffte sofort zu verschwinden, würde er an diesem unheimlichen Fischkopf zugrunde gehen. In sitzender Haltung hüpfte er zum Ausgang des Restaurants.

Vor dem „Tor zum Himmlischen Frieden“ hielt er ein Taxi an. Rote Streifen und grüne Punkte verfolgten ihn. Aufgeblasene Kellnerköpfe wackelten vor der Windschutzscheibe. Der Fahrer gab Gas, er wurde in den Rücksitz gedrückt. Das Taxi raste mit quietschenden Reifen durch Flieges Treppenhaus mit den vergitterten Fenstern und prallte gegen die geschlossene Wohnungstür.

In einem Zustand zwischen Schlaf und Erwachen versuchte er den Traum loszuwerden. Es gelang ihm nicht. Er saß immer noch eingeklemmt im Auto und spürte, der Traum würde sich fortsetzen, sobald der Schlaf zurückkam. Schließlich erwachte er in der Küche. Zwei leere Milchflaschen lagen auf dem Boden. Seine Zunge klebte am Gaumen und der Geschmack in seinem Mund erinnerte ihn sofort wieder an den Fisch, den er im Traum bestellt hatte.

Unter der Dusche flackerten die Bilder der Nacht in seinem Kopf. Auch mit eiskaltem Wasser waren sie nicht zu vertreiben. Der Fisch, die Kellner, das Taxi, die Milchflaschen, das Treppenhaus. Alles ging durcheinander. Dazwischen der tote Fliege. Normalerweise war sein Leben unkompliziert, es sei denn, er war unterwegs, um Geld zu verdienen. Und natürlich ausgenommen seine Treffen mit Margret, aber das war etwas völlig anderes. Eine Leidenschaft ist kein Albtraum, auch wenn manche Menschen das Gegenteil behaupten.