Herzogs Höhenflug

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Wenn er alles heil überstanden hatte und die Erinnerung an den erhängten Fliege langsam blasser geworden war, würde er das „ Tor zum Himmlischen Frieden“, in dem er tatsächlich manchmal zu Gast war, wieder einmal aufsuchen. Niemand würde den Satz und seine entschiedene Handbewegung verstehen: „Heute keinen Fisch!“

Zwei Tage später läutete das Telefon. Er hoffte auf einen Anruf von Margret, aber das Display zeigte eine unbekannte Nummer. Er zögerte kurz, dann nahm er das Gespräch an. Er erkannte die Stimme, wusste aber nicht sofort, wem sie gehörte.

„Hier Alina. Ich muss mit dir reden.“

Herzog war völlig überrumpelt. „Ich bin im Moment …“

Sie ließ ihn nicht ausreden. „Ich stehe vor deiner Haustür.“

Es war Flieges geschiedene Frau. Herzog hatte ihr gegenüber ein schlechtes Gewissen. Sie waren früher oft am Wochenende zusammen unterwegs gewesen, aber seit der Trennung war der Kontakt abgebrochen. Eigentlich schon seit der Schwangerschaft, die für sie in einem schwarzen Loch geendet hatte, mit dem ihr Mann absolut nichts hatte anfangen können. Er war völlig aus dem Häuschen über seinen Sohn gewesen und hatte nicht verstehen können, warum die Frau das Kind abgelehnt hatte.

Wie sollte er sich nun in dieser Situation verhalten? Er konnte ihr schlecht sagen, dass er Fliege gefunden hatte und vor dessen Mördern geflüchtet war, ohne die Polizei zu verständigen.

Alina trat entschlossen in seine Wohnung, als Herzog öffnete. Sie hatte ihre Krise entweder gut im Griff oder überwunden.

„Axel ist tot. Hast du schon davon erfahren?“

Er versuchte, sie entsetzt anzusehen. „Um Gottes Willen, seit wann?“

„Vorgestern. Er ist umgebracht worden, aber sie wollen einen Selbstmord daraus machen.“

Sollte er ihr Auskunft geben? Er entschloss sich abzuwarten.

„Ich musste ihn heute Morgen identifizieren. Sie haben ihn gut wieder hergerichtet, aber mich können sie nicht täuschen. Ich hab den Gerichtsmediziner gebeten, mich kurz mit meinem Mann alleine zu lassen.“

Herzog stellte sich die Situation vor. Ihn gruselte. Sie sah ihm aufmerksam ins Gesicht.

„Du weißt, dass ich als Arzthelferin gearbeitet habe, bevor das Kind kam. In dem Bericht, den sie mir zeigten, stand nichts von Blutungen in der Schädelschwarte, in den Augenbindehäuten, in der Gesichtshaut und in den Lymphknoten. Alles das wären Folgen eines Selbstmordes durch Erhängen gewesen.“

„Wer sollte so etwas machen?“

„Meinst du umbringen oder vertuschen?

„Vielleicht beides.“

„Ich weiß es nicht.“

Sie öffnete ihre Handtasche und legte ein schwarzes Notizbuch auf den Tisch.

„Vor einer Woche war Axel bei mir, um mir das zu bringen. Ich sollte es eine Weile für ihn aufbewahren. Er sagte: ‚Steck es ins Kühlfach, da ist es sicher.‘ Er machte einen fahrigen Eindruck und seine Hände zitterten. Weißt du, was los war?“

„Wir haben uns länger nicht gesehen“, wich Herzog aus.

„Er hat zu mir gesagt, er würde dich anrufen.“

Nun musste er sich entscheiden: Lüge oder Wahrheit. „Hat er aber nicht.“

Sie dachte nach. „Ein Selbstmord hat meist eine private Geschichte. Das wirbelt keinen Staub auf. Oder höchstens ein paar Tage. Aber einen Polizistenmord, das können sie vielleicht im Moment nicht brauchen.“

„Du meinst, er war in irgendetwas verwickelt?“

„Jeder von denen macht Geschäfte nebenher. Dafür ist der Zoll zu verführerisch. Warum sollte ein Polizist einen besseren Charakter haben als andere Menschen? Geschmuggelte Ware, Rauschgift, Menschenhandel. Bevor das Kind kam …“

Ihr Leben ist eingeteilt in vor der Geburt und nach der Geburt, schoss es Herzog durch den Kopf. Nach der Geburt war anscheinend alles anders.

„… bevor das Kind kam, sind wir oft am Wochenende losgezogen und haben vorher etwas eingeworfen. Harmlose Sachen, ein paar Pillen, die gute Laune machten. Etwas anderes wollte ich nicht. Axel nannte sie im Spaß immer Mother’s little helpers.“

Herzog erinnerte sich. Er hatte das Zeug nie vertragen, vor allem wenn Alkohol dazukam. Es machte ihn nervös und völlig hibbelig. Und er mochte es nicht, wenn er die Übersicht verlor. Die Mischung aus Speed und Wodka ruinierte zudem meist auch noch den nächsten Tag.

„Ein Kollege hat damit sein Gehalt aufgebessert.“

„Und du meinst, Axel …“

„Nein, wegen ein paar Pillen, die man heute auf jedem Schulhof bekommt, veranstaltet man keinen solchen Zirkus.“

Herzog musste schlucken. Sie sagte tatsächlich Zirkus.

„Er war in letzter Zeit oft in Vietnam. Ich finde, zu oft. Hat er dir nie davon erzählt?“

Nein, Fliege hatte tatsächlich nicht davon erzählt.

„Männer“, sagte sie und zog dabei die Mundwinkel nach unten, „ihr wart doch befreundet, verdammt noch mal.“

Na ja, dachte Herzog, befreundet nicht gerade, aber offensichtlich lagen sie in ihren Tätigkeiten nicht weit auseinander.

„Es ist nicht zu glauben. Über was redet ihr eigentlich, wenn ihr zusammen seid?“ Dann verächtlich: „Weiber, Autos und Fußball! Wahrscheinlich in dieser Reihenfolge.“

„Du meinst Boxen.“

„Red keinen Blödsinn. Du weißt genau, was ich meine.“ Sie nahm seine Hand. „Du musst mir helfen.“

Herzog war so überrascht, dass ihm keine Antwort einfiel und er nicht einmal seine Hand zurückzog. Sie entwickelte einen detaillierten Plan, wie er ihr bei der Aufklärung des Mordes helfen sollte. Am Ende sah sie sich um und fragte:

„Hast du was zu trinken? Ein kleiner Schluck würde mir guttun.“ Sie stand auf, ging zum Kühlschrank, holte eine angebrochene Flasche Weißwein heraus, nahm zwei Gläser aus dem Regal, schenkte ein und sagte: „Cin cin!“

„Auf dein Wohl“, antwortete Herzog und hob zögernd sein Glas. Dann fügte er zweifelnd hinzu, „… ich weiß nicht.“

„Sei kein Frosch! Axel würde es dir danken. Da bin ich sicher!“ Sie tätschelte ihm die Wange.

Ihr Telefon läutete. „Ja? Ich kann jetzt nicht. Nein, wirklich nicht.“ Sie hängte an den letzten Satz noch einen Namen, den Herzog nicht richtig verstand, und legte auf. Es klang so ähnlich wie Oldie.

„Kann ich heute Nacht bei dir bleiben?“

„Nein!“ Die Abfuhr kam so schnell, dass es Herzog peinlich war.

„Feigling.“

An der Tür drehte sich Alina noch einmal zu ihm um.

„Vielleicht hilft dir das bei deiner Entscheidung: Axel hatte eine gute Nase. Er ahnte, womit du dein Geld verdienst. Seit Langem! Ich ruf dich an! Morgen um sechs Uhr.“ Mit diesem Satz war sie im Treppenhaus.

Herzog starrte auf den Abdruck, den Alinas Lippenstift am Glas hinterlassen hatte. Das Wort Feigling brannte wie ein Streichholz an der Fingerkuppe. Es beunruhigte ihn, dass der Zollfahnder ihn verdächtigt hatte. War er von ihm beobachtet worden? Oder gar verfolgt? Er konnte sich an keine Situation erinnern, die ihn verraten hätte. Auch wenn Fliege vielleicht nur Andeutungen gemacht hatte, Alina war sicher nicht grundlos gerade zu ihm gekommen. Sie war durchaus in der Lage, ihn zu erpressen, wenn er nicht zusagte, und er fürchtete nach ihrem forschen Auftreten, dass sie bereit war, Daumenschrauben bis zur Schmerzgrenze einzusetzen.

In dieser Nacht lief er ruhelos in seiner Wohnung auf und ab und traf alle zehn Minuten eine andere Entscheidung. Autos auf der Straße erschreckten ihn, der Kneipenlärm von gegenüber machte ihn nervös und in seinem Bauch krochen Millionen von Würmern durcheinander.

Auf die Minute genau kam der Anruf am nächsten Tag. „Hallo?“

„Lass die Formalitäten. Sie sind unnötig. Hast du dich entschieden?“

Herzog sagte zu. Er fühlte sich gedemütigt und es gab nicht nur eine warnende Stimme in seinem Inneren.

„Du findest Geld in deinem Briefkasten. Denk daran, was wir ausgemacht haben: Nicht du erreichst mich, ich erreiche dich.“

„Ich wollte dir noch etwas sagen …“ Weiter kam er nicht.

„Später, wenn alles erledigt ist.“

Damit war das Gespräch beendet.


Bar oder Karte

Wäre Margret da gewesen, er hätte sich bei ihr verkrochen, sich von ihr zudecken lassen und ihr vielleicht alles erzählt. Vielleicht umständlich, weil er selbst nicht alles auf die Reihe brachte, aber er hätte sicher einen Rat bekommen. Nur, mit der jungen Frau aus New York hatte es eine besondere Bewandtnis. Sie hatte einen festen Partner, bei dem sie nicht lebte, einen Seitensprung, von dem sie sich ab und zu höchst dramatisch trennte, und mit ihm war sie eine – sie benützte dafür das altmodische Wort – Affäre eingegangen.

Sie nannte ihn nie bei seinem Vornamen. Er war sogar überzeugt, dass sie ihn nicht einmal kannte. Sie sagte einfach Buddy, als wäre er mit dieser Bezeichnung auf die Welt gekommen.

Seit ihrem ersten Zusammentreffen vor einer Bäckerei am Marienplatz nannte sie ihn so. An jenem Tag hatte es geregnet. Es war kurz vor elf gewesen. Touristen warteten auf das Glockenspiel und wollten schnell an der zum Platz hin offenen Theke einer Bäckerei eine Breze oder ein Stück Kuchen kaufen. Die ersten betrunkenen Fußballfans waren mit ihren kindischen Schals unterwegs. Natogegner demonstrierten gegen irgendeinen Krieg. Afghanistan, Irak, Gaza, er konnte sich nicht mehr erinnern. Es gab ein Gedränge wie auf dem Oktoberfest, vor allem auch deshalb, weil Sondereinsatzkräfte der Polizei versuchten, einer Gruppe von Punks in schwarzen Springerstiefeln, grün-roten Haaren und silbernen Ketten das Laufen beizubringen. In einem solchen Durcheinander waren die Menschen unaufmerksam und verhakten sich ineinander mit ihren Schirmen in der unwirtlichen Innenstadt.

 

Margret, die er zu diesem Zeitpunkt noch nicht kannte, fischte nach ihrer Kreditkarte und steckte den Geldbeutel zurück in die rechte Außentasche ihrer Windjacke. Der Reißverschluss blieb offen. Herzog stand direkt hinter ihr. Gerade als er sie anrempeln wollte, drehte sie sich um. Er sah in ein Gesicht mit tausend Sommersprossen, das zwei senkrechte Falten über der Nase hatte. Irgendwelche Erlebnisse mussten diese Spuren hinterlassen haben. Das Gesicht erinnerte ihn an einen Satz aus einem Roman: „Ein Gesicht, für das man seine Jugend verlieren, von dem man im Alter träumen möchte und …“ Es gab noch eine dritte Eigenschaft, die ihm in dem Moment nicht einfallen wollte. Margrets Haut war wie durchscheinendes Wachs. Später stellte er fest, dass sie weich wie Seide war. Sie hat schöne Augen, dachte er und sah ihr ins Gesicht, hätte aber nie gewagt auszusprechen, was er in diesem Moment dachte. Später hatte er damit keine Probleme mehr, ja, er besuchte sogar mit seinen Lippen alle Stellen, die er besonders schön fand. Er zog seine Hand zurück, blieb aber hinter ihr stehen.

Als sie sich ein viertes Mal umsah und ihn anlächelte, nahm er allen Mut zusammen und lud sie auf eine Tasse Kaffee ein. Margret war erfreut, einen echten Münchner getroffen zu haben. Sie schauten vom Café Glockenspiel auf die nassen Demonstranten und sie ließ sich von ihm bayerische Redewendungen erklären. Warum sagten die Bayern Knödel statt Kloß zu einem Dumpling? Warum war eine Maß auf dem Oktoberfest das Maß aller Dinge? Für das Wort Obatzter konnte er eine fachgerechte Erklärung liefern, kannte sogar das Rezept dieser Speise, zu der unbedingt Brezn und Bier gehörten, aber warum das Wort „Kruzifix“ auch als Fluch verwendet wurde, wusste er nicht. Er versprach sich kundig zu machen. Natürlich mit dem Hintergedanken an ein neuerliches Treffen.

Am Ende sagte sie: „Heute ist ein Glückstag! Ich lade dich ein. Ist das klar, Buddy?“

So nannten Taucher ihre Partner, von denen sie sich in gefährlichen Situationen absolute Zuverlässigkeit erhofften. Auch wenn ein Hai mit aufgerissenem Maul auf einen zuschwamm, der Buddy musste Ruhe bewahren. Der Buddy musste die Flasche mit einem teilen, wenn der eigene Sauerstoff verbraucht war und musste einen bei der Hand nehmen, wenn das Meer einstürzte.

Wäre Margret erreichbar gewesen, hätte sich vielleicht alles anders entwickelt, aber wenn sie mit ihren Männern zu tun hatte, war ihr Telefon ausgeschaltet.

Nachdem er das Geld aus dem Briefkasten genommen hatte, buchte er in einem Reisebüro einen Flug nach Hué. Eine Anweisung Alinas, denn Kreditkarten und Internet waren leicht zu überprüfen und damit verräterisch. Außerdem sollte er im Green Hotel ein Zimmer reservieren lassen. Dort würde ihn Alina erreichen, wenn es nötig war.

Das Schaufenster des Reisebüros war gepflastert mit Last-Minute-Glücksversprechen aus der Südsee. Ein blaues, glitzerndes Meer, weiße leere Strände, Kokospalmen und Hütten aus Palmwedeln, die dem Kunden suggerieren, dort und nur dort wird dein Glück jeden Morgen hinter dir am reichhaltigen Frühstücksbuffet stehen und dich in einen traumhaften Tag entführen. Perfekte Illusionen für gestresste Großstadtmenschen. Eifrig und ungefragt gab der junge Mann hinter dem Schreibtisch Auskunft. Er sprach ein wenig zu laut, wie jemand, der sich in der Kindheit immer durchsetzen hatte müssen.

Der Angestellte selbst war vor Kurzem drei Tage in Rio gewesen, fand die Brasilianerinnen, offensichtlich in Anspielung auf den Zuckerhut, zuckersüß, erhob sich dafür extra von seinem Bürostuhl und wackelte mit dem Hintern. Super! In seiner gelben Weste mit dem Firmenlogo erinnerte er Herzog an eine dieser XXL-Popcorntüten, die hippe junge Menschen in den Foyers von Filmtheatern verkaufen, damit man im Kino nicht nur sehen, sondern auch riechen kann. Herzog stellte sich die jungen Mädchen vor, wie sie an der Copacabana vor Lachen umfielen. Acapulco kannte eine Kollegin, plapperte der junge Mann weiter, die dort einmal im Jahr zum Relaxen hinflog, für fünf Tage. Total genial! Madagaskar war seiner Meinung nach zwar etwas weit vom Schuss, aber mit den langen Stränden und seinen Ökotouris relativ sexy. Außerdem waren die Beaches, wie er sie nannte, voll leer. Er sah Herzog aufmunternd an wie einen Patienten, der vor allem Ruhe braucht.

„Wenn man auf so was abfährt …“

„Einen Flug nach Hué, morgen“, unterbrach ihn Herzog, bevor der Traumstrandverkäufer vielleicht noch die Gewürzinseln anbot.

„Hué? Okay. Ausgezeichnet, Vietnam ist schwer im Kommen.“

Es dauerte eine Weile, bis er die verschiedenen Fluggesellschaften auf seinem Computer aufgerufen hatte.

„Außerdem eine Zimmerreservierung im Green Hotel.“

„Ah, vier Sterne plus. Sehr gut. Ich sage immer, darunter sollte man es heute einfach nicht mehr machen. Gebongt. Oh shit, das darf nicht wahr sein! Ich sehe gerade, kein Weiterflug von Bangkok nach Hué an diesem Tag!“

Die Popcorntüte machte ein betrübtes Gesicht.

„Geben Sie mir drei Sekunden und ich mache Sie glücklich! Da haben wir’s: Drei für zwei. Mandarin Oriental zu einem unschlagbaren Preis. Sie zahlen zwei Nächte und bleiben drei, im puren Luxus. Und ich besorge Ihnen einen Fahrer vom Flughafen und zurück. Geht aufs Haus. Okay?“

Was sollte Herzog machen? Später fliegen und dann vielleicht trotzdem hängen bleiben? Er war froh, wenn er abreisen konnte.

„Also gut.“

„Ich sehe gerade, in der Maschine ist noch ein Platz frei. Wenn Sie also einen Kumpel haben …“

Herzogs Gesicht sagte ihm: Kein Kumpel!

Der Angestellte begann die Unterlagen zusammenzusuchen. „Bar oder Karte?“

Herzog blätterte die Scheine auf den Tresen und ging.

Als er am nächsten Tag gegen Abend seine Wohnung verließ, drehte er den Schlüssel zwei Mal im Schloss. Sollte irgendjemand seinem Zuhause in seiner Abwesenheit einen Besuch abstatten und seine geliebte Ordnung durcheinanderbringen, er würde nichts finden.

In seinem Rückzugsgebiet gab es einen Schrank mit guter, aber unauffälliger Kleidung, zehn Paar Schuhe, da er viel zu Fuß unterwegs war, ein Bett, einen Tisch und, seit er Margret kannte, zwei Stühle. Es gab einen Laptop, aber weder eine Stereoanlage noch einen Fernseher, auch kein Regal oder ein Buch. Wenn er lesen wollte, ging er um die Ecke in die Stadtbibliothek. Er wählte dicke Bücher, damit er nicht so oft gehen musste. Sein Lieblingsbuch war „Der Mann ohne Eigenschaften“, denn es hatte über tausendzweihundert Seiten. Auch die „Hundert Jahre Einsamkeit“ von Márquez kamen nahe an den „Mann ohne Eigenschaften“ heran. Wollte er Musik hören oder einen Film ansehen, benutzte er seinen Computer.

In seiner Kochnische stand seit einiger Zeit eine Flasche Whiskey. Ein Geschenk von Margret, das aber aus irgendeinem Grund ungeöffnet blieb. Den einzigen Blumentopf, den er jemals besaß, hatte ihm eine Nachbarin zum Einzug überreicht. Er war am selben Nachmittag in einem Mülleimer gelandet.

Zum ersten Mal fiel ihm beim Gang durchs Treppenhaus auf, dass die anderen Wohnungen zwei Sicherheitsschlösser hatten.

Von seiner Straße aus konnte Herzog in fünfundvierzig Minuten den Flughafen erreichen. Innerhalb einer weiteren Viertelstunde war er im Besitz einer Bordkarte. Er entschied sich, die Reisetasche mit an Bord zu nehmen. Eine Mitarbeiterin von Thai Air lächelte ihn an und wünschte ihm einen angenehmen Flug.

Bei der Passkontrolle wurden seine Handflächen feucht. Wenn ihn jemand vor Flieges Wohnungstür beobachtet hatte, war der Ausflug zu Ende, bevor er begann. Der Beamte fixierte ihn über seiner halben Brille. Es fiel ihm leicht, dem Blick standzuhalten. Halbe Brillen geben den Menschen ein freundliches, unter Umständen sogar ein einfältiges Aussehen, besonders wenn ihnen dabei der Mund offen steht und sie die Augen zusammenkneifen, als hätte sich unvermittelt die Dioptrienzahl ihrer Brillengläser verringert. Der Beamte legte mit einer ruhigen Handbewegung den Ausweis auf das Lesegerät. Nach ein paar Sekunden teilte es ihm mit, dass der deutsche Staatsbürger Konstantin Herzog, im Gegensatz zu vielen anderen, unbescholten war und mit einer weißen Weste durchs Leben ging. Er ließ ihn mit einem Kopfnicken ziehen.

Heute musste jeder seinen Geldbeutel, Mobiltelefone, Schmuck und den Gürtel abgeben, um den Metalldetektor passieren zu können, auch wenn dabei die Hose rutschte. Dies gehörte seit Nine Eleven zu den Pflichten eines jeden Reisenden. Außerdem musste man die Schuhe ausziehen. Herzog beobachtete, dass ungeputzte Stiefel in Kombination mit dunkler Haut offensichtlich besonders verdächtig waren. Auch lange Haare erregten immer noch Aufmerksamkeit. Es war nicht zu glauben! Als er den Apparat sah, der das Innere des Handgepäcks für neugierige Augen sichtbar machte und in verschiedene Farben einteilte, wusste er, er hatte den Fotoapparat vergessen. Er konnte also die Bilder dieser Reise in kein Album kleben, sondern musste ihnen einen festen Platz in seiner Erinnerung zuweisen. Er konnte sich allerdings in Bangkok eine Kamera besorgen oder einfach sein Mobiltelefon benützen.

Im Flugzeug sah er sich die Menschen an, die zusammen mit ihm den ersten Teil dieser unfreiwilligen Reise antraten. Der Airbus war bis auf den letzten Platz besetzt mit Urlaubern, Geschäftsleuten und deutsch-thailändischen Familien, die zusammen mit den Kindern die Heimat der Frauen besuchten. Dazu eine Anzahl testosterongeladener Männer mit eindeutigem Ziel. Bei den Männern vor allem Übergewicht. Manchmal wunderte man sich, dass die Passagiere in den zugeteilten Sitzen überhaupt noch Platz nehmen konnten und die Maschinen in der Lage waren abzuheben.

Jedes Mal, wenn Herzog in einem Flugzeug saß, verursachte ihm die Beschleunigung beim Start und die weite Schleife, die der Pilot über die angrenzenden Wohngebiete zog, ein ungutes Gefühl im Magen. Die Erde war noch zu nah. Er sah zum Fenster hinaus. Unter ihm lagen die Speicherseen des Münchner Nordens, aber bald darauf war die Maschine in einer Höhe angekommen, in der es nur noch schönes Wetter gab. Reiseflughöhe bei strahlender Sonne, minus fünfundfünfzig Grad Außentemperatur und einem tiefblauen Himmel, in den Fliege nun eingegangen war. Wahrscheinlich wartete er gerade auf seine Klassifizierung. Soweit Herzog sich erinnern konnte, war sein Schulkamerad katholisch gewesen. Für ihn hieß es also Himmel, Fegefeuer oder Hölle. Vielleicht hatte er Glück und es gab eine spezielle Abteilung für Boxer, dort konnte er zusammen mit Max Schmeling und Bubi Scholz auf sein großes Vorbild Muhammad Ali warten.

Herzogs Sitznachbar blätterte im Bordmagazin. Auf dem Klapptisch standen drei Dosen Carlsberg. Eine zum Trinken, zwei als Reserve. Er gehörte zu einer Männergruppe, die ihm durch ihre Rudelbildung und das bellende Lachen schon in der Abflughalle aufgefallen war. Ein großer Geldbeutel, wie ihn Kellner benützen, blitzte aus der Innentasche seiner Lederweste, die ein speckiger Kragen als Lieblingskleidungsstück auswies.

Nach den vergangenen Tagen fühlte sich Herzog wie zerschlagen. Er schloss die Augen. Er hatte mehr als acht Stunden Zeit. Das Geld seines Nachbarn, der gerade eine Dose Bier nachbestellte, würde ihm irgendwann während des Fluges oder nach der Landung in die Hände fallen, wenn das Gedränge im Flugzeug wie immer am größten war.

Er versorgte sich mit Ohropax, um dem quäkenden Ton der Ansagen zu entkommen. Vielleicht konnte er, entgegen ihrer Abmachung, von Bangkok aus Kontakt mit Margret aufnehmen. Sie musste ihn über die Ermittlungen, vor allem aber über Zeitungsartikel auf dem Laufenden halten. In diesem Moment machte sich in den hinteren Reihen der Maschine unter den Passagieren die typische Unruhe breit, die entsteht, wenn kostenloses Essen ausgeteilt wird. Sein Nachbar drückte die leeren Bierdosen mit einer Hand und einem hellen Knacken flach. Er ließ sie unter dem Sitz verschwinden. Herzog beschloss, ihm seine Glasnudeln mit Huhn und asiatischem Gemüse anzubieten. Er nahm es mit einem Brummen zur Kenntnis. Von beiden Portionen waren nach kurzer Zeit nur noch leere Plastikbehälter übrig.

Noch während die Stewardessen in ihren lila Kostümen Kaffee und Tee anboten, fiel Herzog in einen unruhigen Schlaf und unterschied sich darin wahrscheinlich von anderen männlichen Passagieren, die der reichliche Bierkonsum hinübergeschwemmt hatte in Träume, in denen zierliche Mädchen im Rotlichtmilieu Bangkoks die Hauptrolle spielten. In seinem Unterbewusstsein brodelte es wie in einer Hexenküche und sein Körper suchte in Abständen vergeblich eine halbwegs annehmbare Stellung. Sein Nacken schmerzte nach kurzer Zeit und ein scharfer Ton im rechten Ohr machte sich bemerkbar.

 

Dankbar registrierte er, dass die Nachtbeleuchtung eingeschaltet wurde, aber kurz darauf flimmerte ein Film des Bordprogramms über die Bildschirme und löste selbst hinter geschlossenen Augenlidern unangenehme Reize aus. Ein unbeholfener Polizist, der einem gerupften Hühnchen gleichsah, jagte gerissene Ganoven, die offensichtlich nur mit Sonnenbrillen scharf sehen konnten. Natürlich war der Gesetzeshüter nach gut eineinhalb Stunden und vielen Niederlagen erfolgreich. Damit hatte er nicht nur gegen das Böse gewonnen, sondern auch das Gute, in Gestalt einer Blondine mit tiefem Dekolleté, auf seine Seite gezogen.

Fliege war aus einem anderen Holz geschnitzt gewesen, aber sein Lebensende war kein Happyend à la Hollywood. Seine Frau hatte mit ihrer Annahme seiner Ermordung sehr wohl den richtigen Riecher, und er, Herzog, hätte mit drei oder vier Sätzen ihre Vermutungen bestätigen können. Was trieb sie, die Wahrheit ans Licht zu bringen? Ging es ihr um die Wahrheit allein oder steckte noch etwas anderes dahinter? Wer hatte sie angerufen und warum wollte sie in seinem Beisein nicht mit demjenigen sprechen?

Sie schien Geld zu haben, sonst hätte sie seine Reise nicht so großzügig bezahlen können. Und sie hoffte, er würde in Hué etwas über den Mord erfahren und damit zur Aufklärung der Todesumstände beitragen.

Der Nachbar hatte sich in seinem Sessel so weit wie möglich zurückgelehnt. Der Geldbeutel bot sich förmlich an. Herzog sah sich um. Die meisten Passagiere hatten inzwischen die Augen geschlossen und die Münder offen. Manche wickelten sich in lila Decken, die Farbe der Fluggesellschaft.

Auch bei Herzogs Nachbar hatte der Alkohol seine Wirkung getan. Er begann zu schnarchen. Man meint immer, Betrunkene hätten ab einer bestimmten Anzahl von Promille einen todesähnlichen Schlaf. Herzog wusste allerdings, dass sie absolut panisch reagieren konnten, wenn etwas Unvorhergesehenes passierte und sie sich bedroht fühlten. Ein Flugzeug war dann wie eine Falle, in die eine zu gefräßige Ratte geraten war. Deshalb ließ er die Finger von seinem Nachbarn, auch als der aufwachte, seine Lederweste in die Ablage über den Sitzen stopfte und der Geldbeutel auf den Boden fiel. Herzog hob ihn auf. Seiner Erfahrung nach war es gut, zunächst Vertrauen aufzubauen.

Eine Nacht in einem Flugzeug ist kein Vergnügen und wird gegen Morgen, wenn der Nacken völlig steif ist, die Beine taub werden und die Füße beginnen in den Schuhen anzuschwellen, zur Tortur, selbst wenn die Fluggesellschaft mit dem Slogan wirbt: „Smooth as Silk“. Auch das Frühstück ging an den Nachbarn. Diesmal grinste er kurz und Herzog sah, dass ihm rechts oben ein Zahn fehlte. Er war offenbar aus einem gesunden Schlaf erwacht und aß mit gutem Appetit.

Nach der Landung fiel Herzog der Geldbeutel dann wirklich so gut wie in die Hände. Kurz hintereinander waren drei Maschinen gelandet. Die Passagiere, übernächtig, aufgeregt und ungeduldig, stauten sich vor der Passkontrolle. Nachdem er seinen Ausweis aus dem Handgepäck genommen hatte, warf Herzogs Sitznachbar sein speckiges Lederteil lässig über die Schulter.

Ein Griff genügte. Im Fußball hieß so etwas Standardsituation! Man konnte es auch ein Geschenk nennen. Herzog wechselte zu einem Schalter, an dem weniger Menschen warteten. Plötzlich waren seine Bedenken, irgendjemand könnte bei der Passkontrolle Probleme machen, wie weggeblasen, und tatsächlich stand er kurze Zeit später mit seiner Reisetasche im Suvarnabhumi Flughafen, der mit seinen Boutiquen jede amerikanische Mall in den Schatten gestellt hätte. Die ankommenden Gäste wurden von einem goldenen, dreiköpfigen Drachen begrüßt, getragen von acht bunten Fabelwesen. Direkt am Ausgang stand ein Mann mit einem Schild, „Constantin Herzog, Munich“. Auch wenn sein Name falsch geschrieben war, nur er konnte gemeint sein. Bravo!