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Es ist reizvoll, eine Übersicht über das naturwissenschaftliche Denken und die naturwissenschaftlichen Methoden der Gegenwart zu versuchen - aus der Sicht eines außenstehenden Beobachters, der das Instrumentarium nicht so selbstverständlich und unreflektiert benutzt wie die Insider.

Da der heutige Mensch wegen seiner immensen Vermehrung, die vor etwa 50.000 Jahren begonnen haben dürfte, keine Chance mehr hat, positive Mutationen genetisch mit Erfolg zu verbreiten (sie versinken spurlos in dem riesig gewordenen Genpool), ist die entscheidende Zeit für die Beurteilung und die Entwicklung der Denkfähigkeit des menschlichen Gehirns die Zeit vor ca. 50.000 Jahren. Damals streifte der Mensch in kleinen Gruppen, die nicht größer als Familienverbände gewesen sein dürften, durch Afrika.

Was das menschliche Gehirn damals tun konnte - und demgemäß heute noch genau so tun kann -, wird die Naturwissenschaft nach und nach erforschen. Es gibt bereits zahlreiche Einzelergebnisse dieser Forschung; indessen bleibt das meiste noch dunkel.

Bis die physiologischen Einzelheiten einmal aufgeklärt sein werden (falls das überhaupt jemals vollständig möglich sein sollte), wird man notgedrungen für weitere Überlegungen den Inhalt des Gehirns und seiner Leistungsfähigkeit als black box behandeln müssen.

Die heutigen Menschen sind Bindeglied in der langen Folge der Menschengenerationen. Sie können eine Momentaufnahme geben, eine Art Bilanz der jetzigen Situation, d.h. des jetzigen Standes der Erfahrungen und Kenntnisse, die die Menschheit gesammelt hat, seitdem ihr Fortschritt auf derartigen Sammlungen beruht.

Heutige Menschen in dieser Zeit in der westlichen Welt können in geistiger, persönlicher und materieller Freiheit aufwachsen, also insbesondere frei von weltanschaulich-religiösen Fesseln und Abhängigkeiten. Sie genießen damit Privilegien, wie sie in der Menschheitsgeschichte einmalig sind. Menschen, die derartige Freiheiten nicht genießen und damit gar nicht an den menschlichen Erkenntnissen und Errungenschaften teilhaben können, sind zutiefst zu bedauern.

Das sind nicht nur die materiell Armen in der Dritten Welt, nicht nur die religiös Dressierten (also zB die in Religionsschulen in nahezu autistischer Manier herangezogenen Fundamentalisten), sondern auch alle diejenigen Grottendummen in der westlichen Welt, die - statt nur ein wenig nachzudenken und sich zu informieren -lieber auf den Fußballplatz oder zum Fremdenklatschen gehen, und die, die sich dumm und dämlich verdienen und nicht daran denken, dass sie sich menschlich verpflichten sollten, anderen - auch künftigen - Menschen, die es nötig haben, zu einem menschenwürdigen, d.h. bewußten und kenntnisreichen Leben zu verhelfen.

Das menschliche Gehirn - setzt man es einmal mit den Fähigkeiten, zu denken und das Denken sprachlich darzustellen, vereinfachend gleich - entstand, um die Umwelt besser bewältigen zu können; genauer: nicht um sie besser bewältigen zu können (der Evolution fehlt ja die Finalität): Im Sinne der darwinschen Entwicklung blieben unter sehr vielen Mutationen diejenigen übrig, die den Menschen befähigten, die Umwelt jeweils besser zu bewältigen, sich auch an verschiedene (wechselnde) Umwelten anzupassen. Dafür war eine Vielzahl von Mutationen erforderlich, verbunden mit dem Maß an Zufall, das ein sofortiges Wiederaussterben verhinderte.

Es galt, die gewöhnliche Umwelt des Menschen bestmöglich zu beherrschen, eine Umwelt, die im Empfinden der Menschen weder molekulare (geschweige denn atomare) Komponenten enthielt, noch Weltraummaße aufwies, sondern nichts weiter als Größen und Geschehnisse, die in der Reichweite der menschlichen Sinne liegen.

Was darüber hinausging, brauchte der Mensch damals nicht, um den entscheidenden Vorsprung vor Menschen, die nicht so ausgerüstet waren, zu erreichen. Weder brauchte er atomare, noch Weltraumerkenntnisse zu erreichen, desgl. die sonstigen Grenzen der Reichweite seiner Sinne zu überschreiten.

Alles soll hier nur angerissen werden; fast an jeder Stelle sind Ausführungen, Ergänzungen, Weiterdenken nötig. Das Folgende kann und soll nur eine Art Gerüst sein.

(1) Voraussetzungen
(1.1) Arbeitshypothese

Dreht man den Gedanken der darwinschen Evolution der Lebewesen um, dann hätte der Mensch vor 50.000 Jahren im allergünstigsten Fall auf dem Wege einer Fülle von Mutationen in seinem Gehirn, genetisch fixiert, angesammelt und gespeichert: eine ideal gute Darstellung

- der Gegenstände seiner Umwelt,

- der Regeln der Interaktion dieser Gegenstände in seiner Umwelt.

Diese Annahme der allergünstigsten Ausstattung des menschlichen Gehirns soll die Arbeitshypothese der folgenden Überlegungen sein - wobei sich herausstellen wird, dass jeder unbeeinflußte Zeitgenosse und erst recht jeder heutige Naturwissenschaftler diese Arbeitshypothese (unbemerkt und unbewußt) ständig benutzt. Fingierter Inhalt der black box 'Gehirn' als Ausgangsposition sind danach

- eine komprimierte abstrahierte Liste der Gegenstände der unmittelbaren Umgebung des Menschen (d.h. des mit den körperlichen Sinnen Wahrnehmbaren) in der Zeit vor ca. 50.000 Jahren (mit der Fähigkeit, auch neue Gegenstände entsprechend zu abstrahieren) und

- die Mechanismen der Interaktion dieser Gegenstände,

zum jederzeit schnellen und effektiven Aufruf und Gebrauch genetisch gespeichert.

Diese Annahme als Grundlage eröffnet eine Fülle von Aspekten. Einzelne sollen im folgenden genannt werden - lediglich skizziert.

Die oben - nur nach entwicklungsgeschichtlichen Zweckmäßigkeiten und Notwendigkeiten (Wahrscheinlichkeiten) - angesetzte Aufteilung der statischen (Bündelung) und der dynamischen Eigenschaften des Gehirns wird durch die neuere Gehirnforschung gestützt: für den Hauptsinn, das Sehen, gilt: Seheindrücke werden im Gehirn in zwei verschiedene Areale geleitet:

- einmal über die ventrale (untere) Route in eine Region, die sich vom Hinterhauptlappen bis zu Arealen unten im Schläfenlappen hinzieht; das ist die sogenannte 'Was'-Schiene, in der also wahrgenommene Gegenstände erkannt und klassifiziert wer- den;

- zum andern über die dorsale (obere) Route in eine Region, die von den hinteren visuellen Regionen bis in die Hirnrinde der Scheitellappen reicht; das ist die sogenannte 'Wo-' oder 'Wie'-Schiene, in der Interaktionen vorbereitet werden, die von dem Seheindruck ausgelöst werden (sollen, können).

(1.2) Werkzeug 'Abbildung'

Abbildung ist der Transfer eines Objekts, eines Vorgangs oder eines ganzen Systems aus Objekten und Vorgängen in/auf ein anderes Medium.

Ursprünglich ist, wie das deutsche Wort 'Abbildung' auch zeigt, das Abbild eines dreidimensionalen Objekts auf einem zweidimensionalen Medium gemeint: gegenständliche Malerei, Foto, Konstruktionszeichnung eines Architekten, eines Ingenieurs...

Es gibt gewillkürte Abbildungen: ich stelle (s.o.) ein zweidimensionales Bild eines dreidimensionalen Körpers her.

Ich übersetze einen Text in eine andere Sprache. - Ich benutze in der Mathematik Parameter. - Ich bilde Beispiele; benutze Parallelen; arbeite mit Vergleichen, Metaphern, Symbolen. - Ich erkläre, veranschauliche, löse Verständnis aus.

In der Definitionslogik gehe ich zwei Schritte: ich bestimme den übergeordneten Begriff, stelle also das zu definierende Objekt neben ähnliche andere Objekte, wobei die Ähnlichkeit durch blitzschnelles Hin- und Her-Abbilden festgestellt wird - und bestimme anschließend die differentia specifica, also die Unterschiede zwischen dem zu definierenden Objekt und diesen ähnlichen Objekten, wiederum durch entsprechenden Abgleich.

Wir arbeiten also ständig und ohne lange nachzudenken mit Abbildungen in jeder Gestalt.

Außerdem gibt es feststehende Abbildungen, die also ohne unsere Denktätigkeit bereits bestehen, die wir nur erkennen müssen.

So bilden unsere körperlichen Sinne die Umwelt in unserem Gehirn ab. Die (bereits gesiebte) Abbildung dieser Umwelt im Gehirn ist in ein Medium gelangt, das daraus das Denken macht. - Eine Abbildung des Denkens in das Audio-Medium ist die Sprache. - Abbildung der Sprache in das visuelle Medium ist die Schrift, die weiter in die modernen Speichermedien abgebildet wird.

Eine Sonderstellung bei den feststehenden Abbildungen nimmt das naturwissenschaftliche Grunddenken ein:

Geht man - solange nicht umfassend wissenschaftlich geklärt ist, wie unser Gehirn funktioniert - von der Arbeitshypothese aus, dass die Naturvorgänge in der Reichweite unserer körperlichen Sinne (Stichwort: klassische Physik) genetisch in unserem Gehirn als Handwerkszeug schematisch internalisiert sind, besteht die Tätigkeit eines jeden Naturwissenschaftlers darin, jeweils einen bestimmten außerhalb der Reichweite unserer Sinne liegenden Vorgang/Aspekt auf diesem Schema abzubilden (oder, was auf dasselbe hinauskommt: das Schema auf diesem außerhalb liegenden Vorgang/Aspekt abzubilden) - und dann die Unterschiede zwischen den beiden Bereichen, also den Teilbereich außerhalb ihrer Schnittmenge, durch eine mathematische Formel darzustellen, deren Richtigkeit anchließend durch entsprechende Beobachtungen und Experimente zu bestätigen ist.

Die wenigsten Naturwissenschaftler sind sich offenbar dieser zwingenden Grundeinstellung für ihre Tätigkeit bewußt, also letztenendes der betrüblichen Einsicht, dass wir immer nur den Bereich der Reichweite unserer Sinne verstehen, alle darüberhinaus Existierende aber nur berechnen können.

Auch in den Geisteswissenschaften sind Abbildungen gang und gäbe. Ein Beispiel aus der Sprachwissenschaft:

Die generelle geschichtliche Entwicklung von Sprachen und Sprachgruppen wird immer wieder neben Vorgänge aus anderen Bereichen gestellt, man bildet also zB die Entwicklung der indoeuropäischen Sprachen auf Bildern aus anderen Denkbereichen ab, so auf der Vorstellung menschlicher Verwandtschaften: Latein als Mutter aller romanischen Sprachen, Sprachfamilien, Sprachenverwandtschaft usw - oder auf mathematischen Modellen der Topografie oder der Mengenlehre - und kommt dann sehr schnell an Grenzen, weil sich die verglichenen Bereiche doch durchaus nicht überall gleichen oder auch nur ähneln, die Vergleiche hinken schnell überall.

 

Hier könnte vielleicht in diesem konkreten Fall ein modernerer Ansatz mehr bringen: der Vergleich mit der Darwinschen Entwicklung der Arten. Irgendwann vor ca. 7.000 Jahren hat eine Sprechergruppe nördlich des Schwarzen Meeres einen Dialekt gesprochen, der sich nach und nach von den anderen Dialekten derselben Ausgangssprache immer mehr unterschied und schließlich zu einer eigenen Sprache wurde - die sich ihrerseits nach Teilung der Sprechergruppe und räumlicher Entfernung der einzelnen Teile wieder in neue Sprachen aufgliederte, wobei aber immer wieder diese neuen Sprachen an den Berührungsbereichen in Interaktion traten, Wörter, Strukturen, Klänge usw. austauschten, auch ganze zunächst schon heterogen gewordene Sprachteile wieder vereinigten usw. Den Genen bei der biologischen Ent-wicklung der Arten könnten die Wörter, Strukturen und Sprachmelodien entsprechen...

Was bei einer Abbildung in ein anderes Medium geschieht, ist mannigfaltig:

- Dass eine grundsätzliche Änderung eintritt, dass also Abgebildetes und Abbildung verschieden sind, liegt in der Natur der Sache, eben im Wechsel des Mediums, begründet.

- Eigenschaften des Abgebildeten verschwinden in gewissem Umfang.

- Es treten in gewissem Umfang neue Eigenschaften, neue 'Dimensionen' hinzu.

Es ist stets aufschlußreich, im Einzelfall diese Unterschiede konkret zu erkennen, Verarmung und Bereicherung sind möglich. Oft wird wohl beides eintreten.

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