In der Fremde sprechen die Bäume arabisch

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In der Fremde sprechen die Bäume arabisch
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Über dieses Buch

Usama Al Shahmani steckt mitten im Asylverfahren, ohne Geld, ohne Arbeit, als in Bagdad sein Bruder Ali spurlos ­verschwindet. In den sicheren Süden wollte er nicht gehen, wenn er Bagdad verlassen soll, dann möge ihn Usama ­bitte herausholen aus dem Irak. Aber wie soll dieser die zweitausend Dollar für die Flucht nach Beirut aufbringen? Da kommt auch schon die Nachricht von dessen Verschwinden.

Während Usama mit Ankommen mehr als beschäftigt ist, treffen laufend Nachrichten aus dem Irak ein. Bilder aus dem Leichenschauhaus, von denen doch keines Ali zeigt. Windige Typen aus der Hochsicherheitszone in Bagdad, die bestochen werden wollen für angeb­liches Wissen. Vorwürfe der Mutter, es wäre nicht passiert, wenn er nicht ge­flüchtet wäre.

Diese persönliche Geschichte und ein im Exil entdecktes, neues Verhältnis zur Natur formt Usama Al Shahmani zu einem vielschichtigen Roman über den Spagat eines Lebens zwischen alter und neuer Heimat.


Foto Ayșe Yavaș

Usama Al Shahmani, geboren 1971 in ­Bagdad und auf­gewachsen in Qalat Sukar (Al Nassirija), hat arabische Sprache und moderne arabische Literatur studiert, er publizierte drei Bücher über arabische Literatur, bevor er 2002 wegen eines regimekritischen Theaterstücks fliehen musste. Er arbeitet heute als Dolmetscher und Kulturvermittler und übersetzt ins Arabische, u. a. Werke von ­Thomas ­Hürlimann oder Friedrich Schleiermacher. Usama Al Shahmani lebt mit seiner ­Familie in Frauenfeld. Im Limmat Verlag ist von ihm (zusammen mit ­Bernadette Conrad) «Die Fremde – ein seltsamer Lehrmeister. Eine Begegnung zwischen Bagdad, Frauenfeld und ­Berlin» lieferbar.

Usama Al Shahmani

In der Fremde sprechen die Bäume arabisch

Roman

Limmat Verlag

Zürich

Der Baum der Liebe

Zum ersten Mal hörte ich das Wort «Wandern» im Jahr 2002. Es war im Mai, kurz nach meinem ersten Geburtstag in der Schweiz, als ich Frau Wunderlin kennenlernte, die Tante meines Mitbewohners Bilal im Asylantenheim. Sie kam vorbei, um ihren Neffen zu besuchen, einen jungen Iraker, der Ende 2001 – sechs Monate vor mir – in die Schweiz gekommen war. Die Frau, Mitte fünfzig, glich den Schweizerinnen, sie war schlank, zurückhaltend geschminkt, schlicht gekleidet, fähig, die Sachen, die sie liebte, als bedeutsam und reizvoll darzustellen. Sie war aber durch und durch Irakerin mit ihrer verborgenen Traurigkeit in den schwarzen Augen, wenn sie über ihre verschwommenen Erinnerungen und ihre verlorene Kindheit zwischen Bagdad und Qurna, der kleinen Stadt im Südirak, sprach. «Ich bin dort geboren, wo sich Euphrat und Tigris treffen, um sich ewig zu verbinden», sagte sie stolz. Auch ihre irakische Sprache hatte sich in den vier Jahrzehnten, die sie weit weg von ihrer Heimat verbrachte, hörbar verändert. Sie hatte ihre alte Heimat nie mehr besucht.

Es war für mich unbegreiflich zu hören, dass die Leute in der Schweiz einfach so zu Fuß gehen – in den Wäldern, Bergen, Tälern, auf schwierigen Wegen, um einfach nur zu wandern. Ich dachte, sie erzähle uns einen Witz, als sie uns berichtete, dass sie mit ihrem Mann fast jedes Wochenende wandern gehe.

«Machst du das, weil dein Mann Schweizer ist?», fragte ihr Neffe.

Sie hob ihre Sporttasche auf ihren Schoß und lachte: «Nein, im Gegenteil, ich mache es, weil ich es liebe und brauche.»

Ich war misstrauisch und fand keine nachvollziehbaren Gründe, wozu dieses Wandern gut sein sollte.

«Wollt ihr uns nicht einmal begleiten? Ich könnte irakisches Essen mitnehmen, denn das Beste am Wandern ist das Picknick.»

Ich lehnte ab, ohne zu überlegen. Bilal sagte ebenfalls, dass das Spazieren in den Wäldern nichts für ihn sei. «Du, Tante, glaubst du, dass ich verrückt geworden bin? Verlangst du von mir, dass ich mein Bett an einem Sonntagmorgen um sieben Uhr verlasse, um in irgendeinem Wald herumzulaufen? Ich liebe irakisches Essen, aber das essen wir lieber gemütlich hier vor dem Fernseher.»

Ich verstand gar nicht richtig, was Frau Wunderlin mit dem Wort «wandern» gemeint hatte. Ich fragte sie, ob das ein Sport oder ein Hobby sei und suchte nach einem vergleichbaren Wort in Arabisch. Aber ich fand nichts.

«Bist du sicher?», fragte sie mich mit einem skeptischen Blick.

«Ja. Wir wandern nicht. Wir gehen, laufen, spazieren und bummeln. Das sind die alltäglichen Dinge, die wir Iraker außerdem alle nicht gerne tun. Aber wandern, das können wir nicht. Vielleicht im Sinne der Religion. Es gibt Muslime, die nach Mekka pilgern. Sie marschieren einfach, entweder, weil sie dieses Ritual wie zur Zeit des Propheten gestalten wollen oder weil sie kein Geld haben. Lange Strecken zu Fuß geht sonst keiner.»

«Schade», sagte sie. «Da hat diese Kultur wirklich etwas verpasst.»

Ihre Antwort erstaunte mich, konnte es sein, dass sie das nicht wusste? Wie konnte sie ihre alte Heimat derart vergessen?, fragte ich mich.

Am Abend kam Bilal immer wieder auf das Thema zu­rück. «Stell dir vor, Usama, was würde meine Mutter im Irak sagen, wenn ich ihr erzählte, dass ihre einzige Schwester das Wandern gelernt und dafür die irakische Sprache fast verloren hat?»

«Du warst doch eine Woche bei ihr, wie war das denn?», fragte ich Bilal.

«Das war gut. Sie hat für mich gekocht, und wir waren im Kino. Sie war emotional nicht ganz so eingefroren wie letzten Monat. Ich habe mich aber trotzdem gelangweilt, vor allem, wenn sie über die Situation im Irak redete.»

«Wieso?», fragte ich.

«Sie spricht, als ob sie alles besser verstehen würde, und gibt irgendwelche Behauptungen oder Lügen als ihre Meinung aus. In ihren Augen sind die Iraker ver­ant­wortlich für das, was geschehen ist. ‹Wir sind Opfer eines selbst verschuldeten Zustandes›», meinte sie.

«Wann ist sie denn geflüchtet?»

«Ich weiß es nicht genau. Ich glaube 1975, als die meisten Kommunisten das Land verlassen haben. Ich war ein Jahr alt, sagte mir meine Mutter einmal.»

«Sie hat also das Regime unter Saddam nicht erlebt, sondern durch die Medien erfahren», stellte ich fest. Wir selbst sind wegen der Diktatur und des religiösen Terrors geflüchtet.

«Weißt du, was mich an ihr auch irritiert? Sie redet über Sachen, die gar nicht wichtig sind. Beispielsweise fragte sie mich nach Kakerlaken im Irak und ob sie immer noch groß und in allen Toiletten zu finden sind. Sie habe die Kakerlaken im Irak immer gefürchtet. ‹Glaub mir, Bilal, die Kakerlaken in der Schweiz sind klein und greifen mich nie an!› Ich erwiderte nur: ‹Ja klar. Die hier sind anders.› Ihr Mann, der mich nicht mag und ich ihn auch nicht, schwieg die ganze Zeit, doch bei den Kakerlaken hat er laut herausgelacht. Trotz seines Lachens war für mich noch deutlich zu spüren, was für eine Ruine seine Seele war.»

«Bilal, sei nicht gemein. Er hilft dir, die Sprache zu lernen», unterbrach ich ihn mit verstecktem Neid und offener Ironie.

«Ja, er hat auch die ganze Zeit von der Kraft der Sprache gepredigt. Weißt du, Usama, du darfst mich nicht falsch verstehen, ich habe meine Tante lieb, manchmal sehe ich sie wie meine Mutter. Sie hat auch äußerlich viel von meiner Mutter, aber um ehrlich zu sein, das nervt mich auch. Vor allem wenn sie zu Hause halb nackt herumläuft oder wenn sie ihren versteinerten Ehemann am Tisch küsst.»

«Bilal, das ist normal hier, wir sind doch nicht mehr im Irak. Du musst viele Gewohnheiten wegräumen und für neue Platz schaffen.»

«Trotzdem. Für mich als Iraker gibt es gewisse Sa­chen, die nicht zu ändern sind.»

«Ja, natürlich. Das gehört zur Liebe zu unserem Land. Für mich lebt meine Heimat in mir. Ich bin vor ihr geflohen, sie aber nicht vor mir.»

Einige Zeit später fiel mir dieses Umherlaufen wieder ein. Warum probierte ich die Sache nicht selbst aus? Ich war deprimiert, der Platz war eng, fast alles knapp. Jeder Bewohner des Heims verursachte bei den anderen einen Stau, alle schimpften darüber. Aber zu Fuß gehen durfte ich ja, sagte ich mir.

Ich war nicht gut ausgerüstet, um in einen Wald hineinzuspazieren. Mein einziges Paar Schuhe waren sogenannte Freizeitschuhe. Diesen Begriff habe ich erst später gelernt. Ich wusste zu jenem Zeitpunkt nicht, dass in der Schweiz jedes Paar Schuhe einer Kategorie angehört. Mein Weg aus dem Dorf nach Baden führte durch einen Wald. Unterwegs, in der Nähe einer kleinen Hütte, stand ein Baum mit einem gebrochenen Stamm. Ich sagte mir: Schau, sein Stamm ist bereits gebrochen, und trotzdem steht er stolz da, und seine grüne Farbe feiert ihre Schönheit. Woher nahm er eigentlich diese Fähigkeit, stehen zu bleiben und sich wieder zu verästeln?, fragte ich mich. Lag das an seinen Wurzeln oder an der Erde, in der er wuchs? Was waren denn Wurzeln? Haben wir Menschen auch welche? Konnte ich verbindlich behaupten, dass ich ein Iraker war? Und was würde sich ändern, wenn ich kein Iraker wäre? Ich freute mich über den schönen Baum, und es war mir egal, ob seine Wurzeln in Europa oder Asien lagen.

Der Wald in der irakischen Kultur verbindet sich mit Ungewissheit und mit Geschichten über böse Geister und Dämonen. Im Wald kann man sich verlieren und nicht mehr herausfinden. Palmwälder sind ein Ort, dem es an Sicherheit und Klarheit mangelt. Wir lieben Bäume, aber verabscheuen den Wald.

Mir waren alle diese Bäume in dem Wald fremd bis auf einige wenige, die in einer schönen Reihe dastanden wie ein arabisches Gedicht aus sieben Worten. Sie waren mir gleich vertraut, als seien wir alte Bekannte. Sie formten eine Gemeinschaft, wie eine wahre Liebe.

Ich weiß nicht, was mich dazu bewog, diese Bäume mit lauter Stimme anzusprechen. War es ihre beeindruckende Erscheinung? Eine große Linde in der Mitte war für mich wie eine Mutter, und ich sagte in der Stille unter den Bäumen zu ihr auf Arabisch: hub. Das Echo kam nicht als «Liebe» zurück, sondern auf Arabisch. Ich war verblüfft und fuhr fort: semah – schager, Himmel – Bäume.

 

Hub – semah – schager – Das arabische Echo kam anders aus dem Wald zurück; es hörte sich schlanker an, schärfer.

Es war ein schönes Gefühl, Arabisch zu hören im Wald. Es war also gar nicht so, dass die Natur stumm war, man musste sie nur ansprechen und ihr zuhören. Und die Bäume in der Fremde sprachen sogar arabisch, sagte ich mir und öffnete meine Arme. Ich saugte den Duft der Bäume in mich auf, betrachtete die Zweige und Knospen und spürte, dass mich der Wald annahm. Ich bekam das Gefühl, dass ich die Wege kannte, pfiff auf die Wegweiser – und verirrte mich. Angst, nicht mehr herauszufinden, hatte ich trotzdem nicht.

Im Irak war ich nie im Wald. Die Bilder von Bäumen und Wäldern in meinem Kopf stammen aus Geschichten, die mir meine Großmutter erzählte. Ich wuchs in Städten auf, in denen nur wenig Grünflächen anzutreffen sind. Abgesehen von privaten Gärten sieht man Bäume nur auf den Feldern außerhalb der Stadt.

Unsere einheimischen Bäume, die Dattel-, Oliven-, Granatapfel- und Zitronenbäume, werden von Menschenhand gepflanzt und gepflegt. Bäume in freier Natur wachsen anders, das hatte meine Professorin, die uns damals in moderner arabischer Lyrik unterrichtete, immer wieder betont. Ihre Liebe zur Natur und zu Bäumen war so leidenschaftlich wie die für kurze Texte. Sie war körperlich und geistig fit, und wenn sie von Poeten und Dichtern sprach, war sie sich ihrer Sache so sicher, als hätte sie täglich Umgang mit ihnen.

«Die schönsten Verse der Poesie sind jene, die die Na­tur widerspiegeln, und ein gutes Gedicht muss man auswendig gelernt haben, um seine Seele lebendig zu halten», sagte sie.

Ihr Einfluss auf die Klasse war groß, viele Studenten waren in sie verliebt, mich eingeschlossen. Sie war schön, offen, liberal, ledig und hatte eine starke Persönlichkeit. Vor so einer Persönlichkeit hatten viele irakische Männer nicht nur Respekt, sondern waren ihr gegenüber sogar achtsam. Bei den Professoren war sie unbeliebt mit ihrem Selbstbewusstsein, starke Frauen sieht man in unserer Gesellschaft, egal in welcher Schicht, nicht gern, man hat lieber schwache, die ohne Mann nicht zurechtkommen. Der Krieg hat die Position der Frau zusätzlich geschwächt und ihr weitere Freiheiten genommen.

Diese Professorin war das genaue Gegenteil solcher Vorstellungen. Einmal sagte sie uns: «Wenn ich mich als Kind zu Hause unterdrückt fühlte, ging ich barfuß in unseren Garten. Ich brach kleine Äste des Granatapfelbaumes ab und begann, mit ihnen zu spielen. Heute noch tue ich dasselbe, denn das beste Mittel gegen die Bitterkeit ist für mich die Nähe zu Bäumen, aber anstatt mit Ästen zu spielen, schreibe ich heute damit ein kurzes Gedicht auf die Erde.»

«Wieso Granatäpfel, haben Sie keine anderen Bäume?», fragte sie eine Studentin.

«Doch, wir haben andere Bäume, aber der Granat­apfelbaum ist in unserer Kultur der Baum der Liebe, das müssten Sie eigentlich wissen», sagte sie und begann, ihre Bücher zusammenzuräumen.

Ich wusste, was sie meinte, meine Großmutter hatte es mir einmal erzählt. An jedem Granatapfelbaum hängen viele Granatäpfel, doch nur einer, ein einziger von ihnen trägt einen ganz besonderen Kern. Dieser Kern gehört dem Paradies, und wer diesen Kern gekostet hat, dem soll Liebe, Freude und Glück im Leben widerfahren.

«Teile nie eine Granatapfelfrucht mit jemandem, mein Sohn, denn du weißt nicht, ob du nicht deine Liebe weitergibst», hatte mir meine Großmutter eingeschärft.

«Und du? Du isst ja gerne Granatäpfel. Hast du den Kern in deinem Leben gefunden?», fragte ich sie.

Sie lachte: «Als ich blutjung war, habe ich mit allen Mädchen aus meinem Dorf über die Liebe gesprochen. Wir lachten und kicherten, flüsterten einander aber nur die Hälfte unserer Geheimnisse zu.»

«Ja, aber sag mir jetzt, ob du diesen Kern gefunden hast? Erzähl mir, wie hast du meinen Großvater kennengelernt?»

Meine Großmutter erzählte mir, dass sie ihren Mann bei ihrer eigenen Hochzeit zum ersten Mal getroffen hatte. Es war für die Mädchen damals nicht möglich, ihren Bräutigam vor der Hochzeit kennenzulernen. «Ich konnte ihn durch das Fenster sehen, als sein Vater mit ihm in unser Haus kam. Sie haben um meine Hand an­gehalten», erzählte sie, es war ein sonniger Wintertag, sie hatte meine kleine Schwester auf dem Schoß, streichelte sanft über ihr Haar und fuhr fort: «Ich habe in der gleichen Nacht geweint. Ich hatte Angst, denn er sah aus wie der Stamm einer Dattelpalme, ich wollte ihn nicht heiraten. Meine Mutter versuchte, mich davon zu überzeugen, dass ein kräftiger, starker Mann Glück im Leben bringe. Sie sagte mir, ich solle in der Hochzeitsnacht meinen Fuß mit etwas Druck auf den rechten Fuß meines Bräutigams legen. Dadurch würde ich das letzte Wort im Hause haben.»

«Aber das hast du ja wirklich! Hast du fest gedrückt?», fragte ich verwundert.

«Nein, ich kam gar nicht dazu.»

«Und bist du durch diese Heirat glücklich geworden?»

Nachdenklich faltete sie ihre Hände und schaute mich einen Moment an.

«Ob ich glücklich bin, das weiß ich nicht, mein Junge. Ich habe einfach geheiratet.»

Sie kannte das Glück nicht, und trotzdem strahlte sie stets Liebe und Licht aus und trug ein sanftes Lächeln. Sie war wie eine Sonnenblume: Sie benötigte keinen Kompass, um sich der Sonne zuzuwenden. Jede Begegnung mit ihr war für mich wie ein neuer Anfang, um das Leben im Irak zu ertragen. Sie hat für die Familie viel Gutes getan, trotzdem ist von ihr nicht viel geblieben. Das Haus, in dem sie mit meinem Großvater und ihren acht Kindern ein halbes Jahrhundert lebte, wurde verkauft und vom neuen Besitzer abgerissen, um Platz zu schaffen für eine Autowaschanlage. Auf meiner letzten Reise in den Irak musste ich feststellen, dass keines der über vierzig Enkelkinder etwas von ihr erzählen oder eine persönliche Erinnerung mit mir teilen konnte. Wie kann es sein, dass von einem Menschen, den alle geliebt haben, nichts bleibt, nicht einmal ein Foto?

Dass kein Granatapfelbaum in diesem Wald zu finden war, hatte mich nicht daran gehindert, dasselbe zu tun. Ich versuchte, wie meine Professorin meine Worte mit Ästen auf den Boden zu schreiben. Ich wischte das Laub zur Seite und schrieb ein kleines Gedicht:

Ich bin der Fremde.

Ich habe Hoffnung

und einen Koffer voller Geheimnisse.

Beides trage ich und gehe,

wie ein Sufi, der geduldig

zu blühen versucht, wo immer

der Herr ihn hingepflanzt hat.

Als ich die Zeilen auf dem Waldboden hinterließ, beruhigte mich der Gedanke, dass sich ein Leser wohl auch etwas fremd vorkommen würde, wenn er meine arabischen Zeichen antraf. Kann man sich in der Natur fremd fühlen?, fragte ich mich. In jenem Moment empfand ich absolute Liebe und Zugehörigkeit.

Der Baum der Hoffnung

«Ich könnte dir jetzt eine Arbeit geben, aber ich kann dir nicht garantieren, dich in diesem Restaurant auf längere Zeit zu beschäftigen», sagte mir Delschad, der kurdische Syrer, der hier in der Schweiz geboren wurde.

Vom Äußeren her merkte man nicht, dass er ausländische Wurzeln hatte. Seine grünen Augen, seine schmale, spitze Nase und seine blasse Haut ließen eher auf einen Einheimischen schließen. Seine Pizzeria sah aus der Ferne aus wie viele Legosteine, die ein Kind zusammengesteckt hatte: kompakt und farbig. Während er mit mir sprach, verarbeitete er den Teig. Er war ein Profi, rollte den kugelrunden Teig zu einem flachen Vollmond aus, nahm gleichzeitig jeden Anruf entgegen und Bestellungen auf, klemmte dabei das Telefon zwischen Ohr und Schulter ein, während er mit dem Pizzateig hantierte.

Wenn er arabisch redete, verstand man ihn nur, wenn man selbst Deutsch konnte, weil er das Arabisch mit deutschem Satzbau sprach. Er verdrehte die Satzstellungen und sagte zum Beispiel kabira pizza anstatt pizza kabira für «große Pizza». Und seine Sätze begann er nie mit einem Verb, wie es in der arabischen Sprache üblich ist. Verstanden habe ich ihn trotzdem.

«Aber dein Freund Bilal meinte, du suchst eine Person für eine Festanstellung?»

«Na ja, du könntest in den nächsten Wochen bei mir anfangen, ich erkläre dir deine Aufgaben später. Gib mir deinen Ausweis, ich muss eine Kopie davon an die Fremdenpolizei schicken, um eine Bewilligung zu erhalten. Was hast du für einen Status?»

«Ich habe N.»

«Darfst du damit arbeiten?»

«Ja, ich habe meinen Chef im Asylantenheim gefragt. Ich darf mich damit bewerben, bekomme jedoch nur Absagen. Soll ich mich bei dir auch bewerben?»

«Nein, nein, ich mach nur eine Kopie von deinem Dings. Ich muss dir aber sagen, dass ich dir nur die Hälfte des Stundenlohns geben kann, bis ich die Zulassung für dich bekomme. Einverstanden?»

«Ja, ich bin damit einverstanden, aber wieso nur die Hälfte?»

«Weil du auf die Genehmigung wartest, und dieses Verfahren kostet mich auch Geld.»

«Sag mir, was ist meine Arbeit?»

«Du verteilst Pizzaflyer in Briefkästen von Bremgarten und Umgebung, das heißt rund zehn Kilometer. Eine Karte mit den Orten, wo du verteilen sollst, drucke ich dir aus. Die Fahrkosten übernehme ich, hast du Halbtax?»

«Ja.»

«Gut, dann gebe ich dir zehn Franken in der Stunde. Ich ruf dich an, wenn der Druck die neuen Flyer fertiggestellt hat, also vielleicht Ende Monat.»

Auf dem Weg zum Asylheim betrachtete ich den Musterflyer, den er mir schon mal in die Hand gedrückt hatte, von allen Seiten. Die Pizzas sahen unappetitlich aus, die rote Farbe erinnerte eher an ein Massaker.

Im Zimmer fragte mich Bilal, weshalb ich aufgeregt sei.

«Nichts, es ist alles in Ordnung», entgegnete ich und kaute weiter an meinen Fingernägeln.

Normalerweise tue ich das nicht und mag es auch nicht, wenn andere Menschen an Nägeln kauen. Das Kauen an etwas war mir aber nicht ganz fremd. Als wir klein waren, hatten wir nicht so viele Kleider. Manche verloren ihre Farbintensität, weil sie so oft gewaschen wurden, vor allem jene, welche zu Hause getragen wurden, das heißt die Pyjamas und das bodenlange weiße Hemd, das im Irakischen dischdascha genannt wird. Wir hatten immer den Saum weggekaut, auch ich habe das oft gemacht, vor allem, wenn ich neben meinem Vater saß. Er hat immer geschimpft: «Wenn du dein Hemd kaputt machst, bekommst du kein neues.»

Zum Glück wuchsen meine Nägel wieder nach.

Bilal selbst war dabei, einen Brief zu schreiben. Er wollte seinen Bruder im Libanon daran hindern, die riskante Flucht über das Meer zu wagen.

«Was schreibst du da?», fragte ich ihn ungeduldig, er war schon seit gestern Abend mit diesem Schriftstück beschäftigt.

«Ich muss ihn unbedingt davon überzeugen, dass das Leben im Westen komplizierter ist, als er es sich vorstellt. Er muss warten und gut überlegen, bevor er sein eigenes Leben dafür riskiert. Er soll dort bleiben, auch wenn er sich von Abfall ernähren muss», sagte er und betonte jedes Wort.

«Ich glaube, du solltest ihm nicht auf diese Art schreiben, denn du bist doch seine einzige Hoffnung», sagte ich, obwohl ich mir nur zu gut vorstellen konnte, wie groß Bilals Verzweiflung war und was ihn antrieb. Wir konnten nichts anbieten, was wir selbst nicht hatten. Wir hatten keine Arbeit, kein Geld und waren mit unserem eigenen Leben überfordert.

«Weißt du, manchmal wünsche ich mir, dass sich das Ganze als Albtraum entpuppt. Ich will auf keinen Fall, dass mein Bruder diesen Kummer hier auch erlebt, verstehst du?»

«Ich weiß. Aber was würdest du an seiner Stelle tun? Du bist doch auch geflüchtet?»

Ich bekam keine Antwort. Nach einigen Minuten bemerkte ich, dass wir beide in dieselbe Richtung schauten, aus dem Fenster, wo die Fassade einer alten Kirche zu sehen war.

«Gemäß der Logik meiner Großmutter soll Glückseligkeit ansteckend sein. Sie meinte, dass man mit glücklichen Menschen befreundet sein soll, wenn man glücklich sein will», sagte ich zu Bilal.

«Willst du deine Freundschaft mit mir beenden?», antwortete er lachend.

«Nein, bestimmt nicht. Wir hatten beide Glück, weil uns die Flucht gelungen ist. Wir sind auch voller Hoffnung, unserem Leben in diesem Land einen Wert zu geben. Schau, was deine Tante erreicht hat. Sie konnte über den Zaun der Fremde springen. Sie kann für uns ein Vorbild sein», erwiderte ich.

 

«Schon wieder das Wort Vorbild, ich kann es nicht mehr hören. Ja, sie ist gesprungen. Die Frage aber ist: um welchen Preis?», sagte er und zog seine Augenbrauen hoch.

«Was meinst du damit?», entgegnete ich.

«Ich meine ihr ‹Schweizerisch-sein-Wollen› widerspricht permanent ihrer Identität als Araberin.»

«Ja, sie nimmt keinen Zucker in den Tee und geht Skifahren», sagte ich mit ironischem Ton, um seine Wut abzumildern.

«Nein, du musst nicht so blöd reden. Ich meine einfach, dass sie anders tickt. Sie ist schon nett, verhält sich aber komisch. Ihr Herz schlägt nicht mehr wie unseres. Sie will keine Kinder, keinen Kontakt mit ihrer Familie im Irak, selbst mit meiner Mutter telefoniert sie nicht viel. Und als ich ihr erzählte, dass meine Mutter Rückenprobleme hat, fragte sie mich mit einer kalten Stimme, warum meine Mutter denn nicht regelmäßig ins Schwimmbad ginge. Ich schwieg. Was für eine Dummheit! Macht sie sich absichtlich darüber lustig oder weiß sie wirklich nicht, wie die Situation für die Frauen im Irak ist? Ist das für dich ein Vorbild?», fragte er mich mit großen Augen. «Und als mein Großvater, also ihr Vater, starb, kam sie nicht zur Beerdigung. Stattdessen hat sie der Familie eine Karte geschickt», fügte er hinzu und drehte seinen Kopf weg, um anzudeuten, dass er darüber nicht mehr diskutieren wollte.

Ich war überrascht, wie er seine Tante wahrnahm. Sie ging doch bewusst ihren Weg, und die Fremde hatte sie nicht verbittert wie viele ihrer Generation, die aus dem Irak fliehen konnten. Sie tragen die Bitterkeit der Fremde im Gesicht wie die Spuren von Hautkrebs.

Bilal und ich wohnten in einer kleinen Holzbaracke in der Nähe von Baden. Auch die weite Wiese neben unserer Baracke, die wir aus dem Fenster betrachten konnten, half uns nicht, die Enge der Unterkunft zu er­tragen. Die Baracke war für uns ein Raum voller Leid, insbesondere im Winter. Bilals Situation war immerhin besser als meine. Seine Tante half ihm hier und dort, und er konnte immer wieder einige Tage bei ihr bleiben. Ich hatte niemanden.

Auch bei der Arbeitssuche war ich auf mich allein ge­stellt. Der Anruf von Delschad kam nicht. «Die Flyer seien noch nicht fertig, und ich solle nicht mehr anrufen», ließ er mir über Bilal ausrichten.

In einem Augenblick der Niedergeschlagenheit beschloss ich, nie mehr eine Bewerbung zu schreiben. Jede Bewerbung entzog mir so viel Energie, und obwohl mir auch geholfen wurde, führte ich einen elenden Kampf mit Formalitäten in einer Sprache, die mir fremd war. Eine Arbeit von zwei Wochen holte mich innerhalb von drei Tagen in Form einer Absage wieder ein, wenn überhaupt eine Reaktion kam.

Ich versuchte mein Glück am Anschlagbrett von Coop, wo ich mich als helfende Hand für alles anbot. Eine Woche später, mein Inserat hatte ich schon beinahe wieder vergessen, klingelte mein Telefon. Eine ernsthafte Stimme begrüßte mich mit meinem Namen: «Sie haben im Inserat geschrieben, dass Sie nach Arbeit suchen?»

Genauso verlaufen Telefonate in der Schweiz, und ganz eigenartig finde ich, dass sie nach ein paar Sekunden fragen: «Sind Sie noch da?» Im Irak nennen wir un­seren Namen und den Grund unseres Telefonats nicht direkt nach der Begrüßung. Ein irakisches Telefonat beginnt mit einem einfachen Gespräch über irgendetwas, das Wetter oder den Stau unterwegs, egal was, Hauptsache, man sagt vor dem eigentlichen Grund des Anrufs etwas anderes.

«Sind Sie immer noch auf der Suche nach einer provisorischen Stelle als Hilfsarbeiter?»

«Ja», antwortete ich, ohne zu überlegen.

«Könnten Sie sich vorstellen, dass Sie diesen Samstag in meinem Garten und Haus arbeiten würden?»

«Aber natürlich!», erwiderte ich begeistert.

«Samstagmorgen, passt Ihnen neun Uhr?»

«Ja, das ist sehr gut».

Er nannte mir seine Adresse und beschrieb ausführlich den Weg dahin.

Die Arbeit war nicht schwierig, obwohl der Garten verwildert war. Am Anfang ließ mich der über siebzig­jährige Mann nie alleine, er wich mir nicht von der Seite. Er drückte sich in einem so deutlichen und einfachen Deutsch aus, dass ich ihn fast problemlos verstand. Ach, wie schön es wäre, wenn alle mit den Fremden so Deutsch sprechen könnten, dachte ich.

«Stört es Sie, dass der Hund hier ist?», fragte er mich.

«Überhaupt nicht, im Gegenteil, ich mag Hunde. Sie sind uns Menschen sehr nahe, auch in unseren Gefühlen.» Ich wollte ihm weiter erzählen, dass ich eine kleine Geschichte auf Arabisch geschrieben hatte, in der ein Hund die Hauptrolle spielte. «Alltag eines fremden Hundes» hieß die Geschichte. Sie musste noch immer in irgendeiner Schublade in Bagdad liegen. Ich hätte dem Mann gerne mitgeteilt, wie sich das Fremdsein aus der Perspektive eines Hundes anfühlte, aber mein Deutsch reichte nicht aus. Der Mann wollte sich sogar gerne mit mir austauschen, doch er spürte, dass mir meine be­schei­denen Sprachkenntnisse im Weg waren.

Er fragte mich nicht, weshalb ich in die Schweiz ge­kommen war. Diese Ausnahme hat mich außerordentlich gefreut. Die Frage, was ich in der Schweiz mache, überforderte mich. Womit beginnen? Was ich hier mache, klang manchmal wie eine Einladung zu erzählen, weshalb ich meine Heimat verließ.

Der Mann zeigte mir, wie man Altpapier bündelte. «Sehen Sie, wie ich es gemacht habe?»

Ich tat es ihm gleich.

«Sie müssen es nicht genau wie ich machen, Hauptsache das Bündel fliegt nicht auseinander.»

Ich wollte es unbedingt genauso schaffen wie er.

«Wissen Sie, bei uns im Irak werfen wir das alte Papier entweder in den Abfall, oder man verkauft es den Straßenverkäufern. Auf der Straße kauft man Kuchen, Süßig­keiten und andere Esswaren in diesen alten Zeitungen. Man kauft zwei Stücke Baklawa und bekommt sie auf einem Brief oder einem Ausschnitt irgendeiner Geschichte oder eines Romans, den man gerne weiterlesen würde.»

«Und wenn sie die Geschichte gerne weiterlesen möchten, müssen sie zum Händler zurückkehren und eine weitere Seite kaufen», sagte er lachend.

Wir haben in Bagdad eine Straße namens «Al Mu­tanabbi», auf der Leute ihre Bücher auf die Straße legen, um sie zu verkaufen. In der Zeit des Embargos hatten viele Menschen ihre Büchersammlungen verkauft, was die Straße zu einer fortwährenden Buchmesse gemacht hat. Ein guter Freund von mir schrieb einmal: «Herzlichen Dank, lieber Shakespeare, Tolstoi, Dostojewski und Ali Al Wardi. Dank euch konnte ich Mehl, Öl und Zucker für diesen Monat kaufen. Meine Frau, die an Rheuma leidet, braucht einen neuen Ofen. Ich weiß nicht, ob Balzac und Márquez fähig sind, das alleine zu leisten, oder ob ich die schöne Sammlung von Hafis Schirasi hinzufügen soll.»

Viele meiner Freunde haben auf dieser Straße ge­arbeitet, auch ich. Ein paar Bücherhändler haben uns während des Studiums geholfen, Bücher gratis zu lesen und als Quellen unserer Arbeiten zu benutzen, unter der Bedingung, dass wir keine Spuren in ihnen hinterließen. Als Gegenleistung haben wir den Händlern beim täg­lichen Büchertransport geholfen.

«Aber Sie binden das Papier nun besser als ich.»

«Danke. Erlauben Sie mir zu fragen, weshalb Sie so viele Zeitungen behalten?»

«Ich bewahre sie nicht auf, sie stapeln sich bei mir. Seit ich alleine in diesem Haus lebe, wurde es für mich immer schwieriger, sie zu bündeln.»

Ich dachte mir, dass dieses schöne Haus ziemlich groß war für einen allein. Viele leere Flaschen und ein dickes, in der Mitte aufgeschlagenes Buch lagen auf dem Balkontisch. Gegenüber stand ein Baum, Tauben gurrten.

«Wie heißt dieser Baum auf Deutsch?», fragte ich ihn.

«Fichte», antwortete er.

«Er sieht wie eine Pyramide aus, auf Arabisch heißt er tanub.»

«Hat er eine Bedeutung?», fragte er.

«Ja, man nennt ihn im Nordirak den Baum der Rückkehr», antwortete ich.

«Der Rückkehr, wieso denn das?», wunderte er sich.