In der Fremde sprechen die Bäume arabisch

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«Man sagt, dass die kleinen Vögel immer wieder zu jenem Baum zurückkehren, wo sie das Fliegen gelernt haben. Viele irakische Mütter binden deshalb die Nabelschnur ihrer neugeborenen Söhne an einen Ast. Egal, wohin er einmal ginge, er würde immer zurückkehren.»

«Haben Sie eine Festanstellung?», fragte er mich ab­rupt.

«Ich habe keine Arbeit, ich bin auf der Suche.»

«Was möchten Sie arbeiten?»

«Ich habe keine Ahnung, vielleicht eine Arbeit mit den Händen, weil ich nicht gut Deutsch kann.»

«Überhaupt nicht, Sie sprechen sehr gut! Besuchen Sie einen Kurs?»

«Nein, ich lerne im Moment alleine. Soll ich die Bündel wieder in den Schrank räumen?»

«Nein, ich zeige Ihnen gleich, wo sie hinkommen.»

So trugen wir sie gemeinsam in den Keller. Überall stapelten und türmten sich Gerümpel, Gitter und Bü­cher, sodass wir kaum einen Platz für das Altpapier fanden.

«Vielleicht rufe ich Sie nochmals an, um diesen Keller in Ordnung zu bringen», meinte er und blickte mich fragend an.

«Ja, sehr gerne, ich würde auch Ihren Rasen mähen.»

«Was haben Sie früher gearbeitet?»

«Ich bin Literaturwissenschaftler. Ich war einmal Assistent an der Uni im Irak und habe gleichzeitig meine Doktorarbeit vorbereitet.»

Ohne auf meine Antwort einzugehen, sagte er: «So, das wärs, ich würde mich freuen, wenn ich Sie noch zu einem Kaffee einladen dürfte.»

Ich hatte mehr Arbeit erwartet und nahm seine Einladung dankend an.

«Ja, ich habe Zeit, danke.»

In seinem Wohnzimmer hingen drei Gemälde. Ein Klavier hatte den besten Platz im Raum. Seine Bibliothek enthielt Bücher in mindestens fünf Sprachen. Die meisten Möbel waren aus massivem Holz.

Im Irak empfängt man Gäste im Wohnzimmer. Die meisten Familien reservieren das größte Zimmer in ihrem Haus nur für ihre Gäste. Sie richten es mit den schönsten Dingen ein, die der Familie zur Verfügung stehen. Die Kinder dürfen das Zimmer nicht betreten, und das Zimmer bleibt ein ganzes Jahr verschlossen, wenn keine Gäste kommen.

Warum isolieren wir unsere Gäste von unserem tatsächlichen Leben zu Hause? Das weiß ich nicht. Die Schweizer machen das nicht, sie lassen dich mit ihnen in die Küche gehen. Der Gast darf bei der Zubereitung des Essens mithelfen. Es steht dir sogar frei, ob du den Tisch mit ihnen abräumen möchtest.

Seine Wohnung vermittelte eine einladende Wärme. Er ließ mich im Raum stehen und ging seine Kleider wechseln. Ich blieb allein, mein Blick wandte sich dahin, wo die Sonne ein warmes Licht auf ein Gemälde an der Wand warf. Zwischen den Büchern gab es viele kleine Gegenstände, Tierfiguren, Kristalle, Couverts. Sie brachten meine Gedanken zurück in den Irak.

Zwischen den Büchern hatte ich immer Zigaretten versteckt, um in schlimmen Zeiten noch eine zu finden. Jedes Mal, wenn ich zufällig auf eine schon längst vergessene Zigarette gestoßen war, erfüllte mich das mit Glück.

Warum vertraute dieser Mann einem Fremden? Er hatte mich während der Arbeit immer wieder alleine gelassen und ließ mich auch jetzt zwischen seinen ­wertvollen Gegenständen alleine. Es gefällt mir immer wieder in der Schweiz, dass die Menschen einander vertrauen. Im Irak wäre es undenkbar, dass der reiche Besitzer einer Villa einem Hilfsarbeiter, den er kaum kennt, so viel Vertrauen schenkt. Der Krieg und die Diktatur säten ein großes Misstrauen unter den Menschen. Der Raum des Vertrauens wurde immer kleiner, der Verdacht wurde zur Regel. Ich lebte in zwei verschiedenen Welten, denn außerhalb meines Zuhauses dachte man über alle schlecht, auch über diejenigen, die Gutes taten.

Das Vertrauen und die Hilfsbereitschaft haben mich beschäftigt. Sogar als ich unsicher und mit zitternden Händen versucht habe, das Altpapier bestmöglich zu binden, fühlte ich mich wie ein Gast und nicht wie ein Hilfsarbeiter behandelt.

«Wenn Sie das WC benutzen wollen, es befindet sich auf der rechten Seite. Ich muss nur noch meine Schuhe binden, in ein paar Minuten können wir los.»

Er kam in schwarzer Hose, weißem Hemd und einem Mantel. Seine Schuhe glänzten wie ein Spiegel. Glänzende Schuhe haben mich immer fasziniert. Man sieht sie selten in Bagdad. Der Staub macht bei uns alle Schuhe blind, egal von welcher Qualität sie sind. Auch im Winter, wenn es regnet, sind sie nicht sauber. An der Uni haben einige wohlhabende Studenten zwei Paare, eines für draußen und eines für drinnen.

«Ich habe mich verspätet, entschuldigen Sie, wir kön­­nen jetzt gehen.»

Er zog eine Schublade aus seiner Wohnwand. Ich sah mehrere Hunderter- und Fünfzigernoten. Er zog zwei Scheine heraus und übergab mir zweihundert Franken mit den Worten: «Herzlichen Dank für Ihre Arbeit. Sie haben das sehr gut gemacht.»

«Das ist zu viel. Ich habe nur vier Stunden gearbeitet. Das kann ich nicht annehmen.»

«Das ist in Ordnung, heute ist Samstag, nehmen Sie es an.»

Er wandte sich zur Tür, um anzudeuten, dass die Sache mit dem Geld abgeschlossen war, und ich steckte es glücklich in meine Tasche. Bevor ich den Raum verließ, habe ich einen letzten Blick auf das Gemälde ge­worfen: Eine Frau stand alleine auf einem Feld. Hinter ihr sah man ein Alpenpanorama. Die Sonne zeigte sich kaum hinter den Bergen, und der Schatten, der auf das Tal geworfen wurde, ließ den Wald dichter wirken.

«Ich habe es von meiner Mutter geschenkt bekommen, kurz bevor sie starb», sagte er. Seine Aufmerksamkeit gefiel mir. «Von mir aus können wir uns duzen.»

«Ja», entgegnete ich.

«Sollen wir den Bus nehmen oder zu Fuß gehen, es sind kaum zehn Minuten bis ins Zentrum.»

«Ich würde sehr gerne zu Fuß gehen. Es ist der beste Weg, eine Stadt kennenzulernen.»

«Da hast du recht. Ich habe vor vielen Jahren im Ausland gelebt, und viele Städte habe ich mir durch Spaziergänge erschlossen. Es hat mich aber manchmal gestört, wie die Leute mich dabei unverhohlen neugierig an­geschaut haben. Hast du auch solche Erfahrungen ge­macht?»

«Ja, ab und zu schon», sagte ich lachend. «Es gibt Blicke, die Fremde nicht in Ruhe lassen wollen. Manchmal merke ich, dass es eine Mauer zwischen mir und den an­deren gibt. Ich sage mir dann, dass es in diesen Mauern glücklicherweise auch Fenster und Lücken gibt.»

«Wie viele solche Fenster hast du bis jetzt gefunden?», fragte er weiter. Seine Augen waren offen und aufmerksam.

«Die erste Lücke war die Aare. An ihrem dahinfließenden Wasser fühle ich mich immer angekommen. Die zweite ist die Natur. Manchmal stecke ich meine Hände in meine Hosentaschen und gehe im Wald spazieren. Mal hebe ich meinen Blick ganz hoch und betrachte die Baumkronen, mal schaue ich mir die Baumstämme an und versuche herauszufinden, welcher der älteste ist. Ich berühre die Rinde und versuche, sie kennenzulernen. Dabei spüre ich, wie meine Angst vor dem Fremdsein mich verlässt. Je tiefer ich in den Wald spaziere, desto deutlicher höre ich mein Inneres. Die Bäume sind für mich nicht nur eine Sauerstofffabrik, sie geben mir auch Hoffnung. Und es gibt natürlich Orte, an denen ich mich wohlfühle, wie zum Beispiel dieses Café in der Altstadt.»

«Welches Café meinst du? Kennst du den Namen?»

«Nein, leider nicht, aber ich kann dich dort hinbringen, ich kenne den Weg.»

«Ja, gerne. Wieso gerade dieses Café?»

«Dieses Café ist wie ein Stück Bagdad für mich, klein, traditionell und mit vielen Menschen verschiedenen Alters und unterschiedlicher Herkunft. Viele reden auch mit den Händen wie ich. Und die Servierdame, die aus Afrika stammt, lacht ehrlich.»

Im Café tranken wir Schwarztee und sprachen über den Irak. Er lehnte den Krieg im Irak ab und zeigte Sympathien für die Menschen, die ihr Land aufgrund des Krieges verlassen mussten. Er schilderte das Leben im Exil als so schwierig, dass ich das Gefühl bekam, in einer Katastrophe zu leben, ohne sie zu bemerken. Später be­griff ich, wie recht er hatte.

«Meine Frau war auch gegen den Krieg», sagte er, «sie hat sich engagiert und Unterschriften gesammelt, um dagegen zu demonstrieren. Leider erfolglos. Sie konnte den Krieg nicht verhindern, wie sie auch ihren Krebs nicht abwehren konnte. Er hat ihren Körper zerfressen, bis sie starb.»

«Es tut mir leid», sagte ich. In diesem Moment wünschte ich mir, er verstünde Arabisch, da ich die passenden, tröstenden Worte auf Deutsch nicht kannte.

Er hatte noch immer nicht gefragt, warum ich den Irak verlassen musste. Bei manchen Menschen, die mich nach meiner Flucht fragten, schien die Flucht an sich eine Art Faszination auszulösen, während sich in mir selbst eine Leere auszubreiten begann. Ich lernte, meine Antworten zu dosieren, ein klares Bild zu hinterlassen, das keinen Raum für Spekulationen offenhielt, und mich trotzdem nicht ausgestellt zu fühlen.

«Dieses Lokal ist wirklich schön. Du kennst dich aber gut aus in der Stadt.»

«Danke.»

«Was wissen die Iraker über die Schweiz? Welche Vorstellungen haben sie von diesem Land?», wollte er dann wissen.

«Im Irak sagt man, das Gericht in der Schweiz öffne seine Türen zweimal im Jahr, weil es kaum Angeklagte gebe.»

«Das wäre eine schöne Vorstellung, aber wie kommt ihr zu diesem Bild?»

«Ich weiß es nicht, vielleicht kommt es von der Tatsache, dass in der Schweiz immer Frieden war. Sie hat nie versucht, andere Länder zu erobern und hat sich nie an einem Krieg beteiligt. Der Krieg hat bei uns die Vorstellung entstehen lassen, dass ein Land ohne Diktatur oder bewaffneten Konflikt ein Märchenland sein muss. Am Anfang konnte ich kaum glauben, dass Politiker wie andere Menschen auf der Straße anzutreffen sind. Bei uns glauben Politiker zu wissen, dass alles, was zwischen Himmel und Erde erschaffen wurde, allein für sie bestimmt sei. Ich musste mir die Augen reiben, als ich hier eine bekannte Parlamentarierin mit dem Velo zur Arbeit fahren sah. Wo sind die Polizei und der Sicherheitsdienst?, fragte ich mich. Im Allgemeinen ist das Wissen über den Westen durch die Kolonialzeit geprägt beziehungsweise militärisch begründet. Keine vertrauenswürdigen Quellen. Was die amerikanischen Soldaten in Bagdad anrichten, darf ja nicht dem amerikanischen Volk angelastet werden.»

 

«Und was ist mit dir? Willst du nach Kriegsende hierbleiben, oder zieht es dich zurück in deine Heimat?»

«Ich weiß es nicht. Wenn man im Irak geboren wird, hat man zwei Möglichkeiten: fliehen oder sterben. Doch die allergrößte Tragödie, die einem im Irak widerfahren kann, ist, weder getötet zu werden noch fliehen zu können. Ich konnte fliehen, trotzdem holen mich dieselben zwei Möglichkeiten wieder ein.

Bleibe ich in der Fremde, wo ich mich in der Zerrissenheit zwischen innen und außen ständig ändere, aber so oder so immer zu den anderen gehören werde? Ich wäre dann wie ein Käfer, der auf den Rücken gefallen ist; ich bewegte mich ständig, ohne voranzukommen. Oder kehre ich in die Heimat zurück, wo an jeder Ecke ein Trau­­ma lauert? Der Krieg hat Grenzen zwischen uns Irakern gezogen, und der Hass unter den Religionen und Ethnien löste sich nach Saddams Sturz nicht auf, sondern verstärkte sich noch.

In der Fremde zu leben ist für mich ein Zustand, der mir wie eine Abwesenheit der Seele vorkommt. Nicht nur in meinem Alltag, sondern auch in meinem Kopf, in meinem eigenen Denken fühle ich mich manchmal fremd. – Ich kann mich erinnern, wie ich zu Beginn ei­nen Mann mit einem Stück Wassermelone an der Kasse der Migros stehen sah. Ich sagte mir: Oh, eine Wassermelone wird hier in Stücken verkauft? In diesem Land werde ich mit Sicherheit verhungern.»

Mein großzügiger Arbeitgeber lachte auch, als ich ihm erklärte, dass im Irak niemand glauben würde, dass man in der Schweiz den Kellner um Erlaubnis bittet, die Rechnung bezahlen zu dürfen.

«Ja, das stimmt, diese Art der Kommunikation ist ein wenig speziell. – Kann ich dich nochmals anrufen, falls ich dich für eine Arbeit bräuchte oder auch einfach, um einen Kaffee zu trinken? Ich kenne auch gute Lokale, die dir gefallen könnten.»

Während er die Rechnung bezahlte, redete er mit der Servierdame auf Schweizerdeutsch. Sie lachten über etwas, was ich nicht verstand. Ich lachte trotzdem mit.

Was für ein merkwürdiger Zufall, dass der erste Schweizer, für den ich gearbeitet habe, ebenfalls die Fremde erlebt hat. Er verabschiedete sich von mir und gab mir seine Hand. Er schaute mir in die Augen und sagte: «Ich weiß, dass der Übergang von der Heimat in die Fremde schwer ist. Er erfordert viel Energie. Ich bin mir aber sicher, dass du diese Energie hast und es schaffen wirst. Und eines darfst du nicht vergessen: Es ist nicht schlimm, anders zu sein.»

Mit raumgreifenden Schritten und umgeben von einer schwer definierbaren Magie verließ er das Café. Ich sah ihn von hinten: groß, schlank, mit Mantel und Hut, wie eine Figur, die aus einem Roman von Nagib Machfus in die Realität herübergesprungen war.

Im Zimmer betrachtete ich das Papier, auf das er seine Adresse und Telefonnummer geschrieben hatte. Er hatte eine schöne Handschrift. Seine Worte in dunkler, schwarzer Tinte sahen aus wie ein Vogelschwarm. Wie oft habe ich den Flug der Vögel am winterlichen irakischen Himmel betrachtet, wenn sie nach Süden zogen. Die Schwärme gaben den einheimischen Bauern ein Gefühl von Hoffnung, sie glaubten, dass sie das Zeichen für einen ertragreichen Sommer seien. Mit diesem Gefühl faltete ich das Papier sorgfältig zusammen, ließ es stolz in meine Tasche gleiten und war froh, das Vertrauen eines Menschen gewonnen zu haben.

Es war das zweite Mal, dass ich in der Schweiz ein Ge­fühl des Vertrauens genoss. Das erste Mal war kurz nach meiner Ankunft gewesen. Ich wusste nicht, wann in Zürich der letzte Zug nach Baden fuhr. Ich hatte mich verspätet, weil ich auf einer interkulturellen Veranstaltung gelesen hatte. An der Tramhaltestelle fragte mich eine Schweizerin, warum ich hier stehen würde. Sie konnte ein bisschen Arabisch und war an der Lesung gewesen. Sie fragte, ob sie mir behilflich sein könne.

«Ich möchte zum Hauptbahnhof, ich muss auf den Zug.»

«Es gibt aber keine Züge um diese Zeit, kann ich Sie irgendwo hinfahren in Zürich?»

Ich zögerte und sagte dann: «Vielen Dank, ich lebe nicht in Zürich, sondern im Aargau.»

Sie schwieg einen Moment, ich sagte: «Vielen Dank, ich werde schon eine Unterkunft finden.»

«Ich könnte Sie nach Hause fahren, wo wohnen Sie?»

«Das bringt leider nichts, ich habe vergessen, dass das Haus die Türen um zehn Uhr schließt.»

«In welchem Haus leben Sie?»

«Im Asylantenheim.»

Ich versuchte, die Situation aufzulockern. «Wissen Sie, es ist kein Problem. Sehen Sie den Garten da? Es ist eine angenehme Nacht, und ich warte hier, bis der Tag anbricht.»

«Aber das ist doch kein Garten, wollen Sie die Nacht wirklich auf einem Friedhof verbringen?»

Unterwegs zu ihrem Haus war das Autoradio an, ein Programm mit klassischer Musik lief. Von der Moderatorin verstand ich kein Wort, nur «Bach» und «Musik» kannte ich.

«Es war eine schöne Veranstaltung.»

«Ja», erwiderte ich mit einem vorsichtigen Lächeln.

«Ich kann nur wenig Arabisch, deswegen konnte ich Ihre Texte leider nicht ganz verstehen, doch die Melodie Ihrer Sprache hat mir sehr gefallen.»

«Ja, ich habe eigene arabische Gedichte vorgetragen.»

Jedes Mal, wenn ich ihr eine Antwort gab, rutschte ich auf meinem Sitz hin und her und versuchte, Halt am Sicherheitsgurt zu finden.

«Stört Sie etwas?», fragte sie mich und sah zu mir.

«Nein, nein. Ich fühle mich ganz wohl», antwortete ich mit derselben Bewegung. Ich fühlte mich alles andere als wohl, ich war äußerst nervös. Ich fragte mich un­unterbrochen, ob diese junge Dame verheiratet war. Lebte sie mit ihrem Mann, oder wohnte sie noch bei ihren Eltern? Wie wird sie ihnen erklären, wer dieser Fremde ist, den sie nach Mitternacht nach Hause bringt?

Ihre kleine Wohnung lag im dritten Stock eines alten Gebäudes. Der Eingang war vollgehängt mit Fotopor­träts verschiedener Künstler, Schauspieler und Musiker. Der Gang war so eng, dass keine zwei Personen gleichzeitig die Schuhe anziehen konnten. Ich habe ihren Atem gespürt, als ich die Schuhe auszog.

«Das ist der Schrank, in den Sie Ihre Schuhe stellen können. Bitte entschuldigen Sie die Unordnung. Ich emp­fange selten Gäste.» Sie bedeutete mir mit einer Geste, dass ich eintreten durfte. «Bitte schön, Sie können es sich im Wohnzimmer bequem machen, ich komme gleich.»

Ich war irritiert. Sollte ich mich hinsetzen? Sollte ich stehen bleiben?

«Wünschen Sie etwas zu trinken?», hörte ich sie aus einem Nebenzimmer rufen.

«Ja, gerne ein Glas Wasser, wenn es Ihnen nichts aus­­macht.»

Nur ein Sofa, zwei Bilder, ein Bücherregal und ein Tisch mit einem alten Plattenspieler waren im Wohnzim­mer zu sehen. Das alte Gerät hatte meine Aufmerksamkeit erregt. Ob sie Musikerin war? Lebte sie hier alleine? Ich erinnerte mich an viele Szenen aus bekannten arabischen Liebesromanen.

Sie kam mit einem Glas Wasser zurück, stellte es auf den Tisch und sagte: «Es tut mir leid, ich habe weder ein Gästezimmer noch einen Herrenpyjama.»

«Das ist kein Grund, sich zu entschuldigen, ich bin es gewohnt, in meiner Jeans zu schlafen.»

«Ich könnte Ihnen ein T-Shirt anbieten.»

«Nein danke, ich kann in meinen Kleidern schlafen.»

Sie ging schweigend, und fünf Minuten später brachte sie mir ein Kissen und einen Krug Wasser, welchen sie neben das bereits leere Glas stellte. «Brauchen Sie noch etwas, bevor ich schlafen gehe?»

«Nein, danke schön, nur, wo sich der Lichtschalter befindet, könnten Sie mir noch sagen.»

«Gleich hinter Ihnen.»

Sie schenkte mir ein Lächeln und wünschte Gute Nacht. Als sie gegangen war, blieb ich eine Sekunde still auf dem Sofa sitzen. Seltsam, sagte ich mir und fragte mich, ob ich die Socken zum Schlafen ausziehen sollte.

Sie kam zurück: «Entschuldigung, das WC finden Sie links neben dem Eingang, falls Sie es brauchen.»

«Oh ja, danke schön.»

Ich hörte, wie ihre Zimmertür ins Schloss fiel. Nach zwei Minuten löschte ich das Licht und legte mich hin.

Als ich ihre Wohnung am frühen Morgen verließ, ohne sie es merken zu lassen, wurde mir klar, dass die westliche Kultur, in der ich jetzt lebte, ganz anders war als die, die ich aus dem Fernsehen im Irak kannte.

Diese zwei Personen, von denen ich nie mehr gehört habe, sind in meinem Gedächtnis namenlos geblieben und werden es bleiben: mein erster Arbeitgeber und meine erste Unterkunft in einer Zürcher Wohnung. Ihre Taten aber sind in mir verankert als glückliches Ankommen in der Schweiz. Beide gaben mir Kraft und Hoffnung, aber auch Vertrauen in meine Zukunft in diesem Land. Doch wie kann der Mensch eine gewonnene Hoffnung bewahren? Verzweifelt zu sein ist sehr einfach, es ist gratis und in großer Menge vorhanden. Hoffnung aber kostet, denn es ist eine anstrengende Arbeit. Man muss bereit sein, diese Investition zu leisten.

Ich vermisste die langen winterlichen Nächte, in denen wir meine Großeltern besuchten. In der Nacht lagerten wir um die kleine Feuerstelle, die mein Großvater draußen vorbereitet und dann ins Zimmer gebracht hatte. Meine immer schön gekleidete Großmutter war die Einzige mit blasser Haut in der Familie. Sie war eher klein, etwas dick und hatte Tattoos auf beiden Handoberflächen. Das Ornament auf ihren Händen sah man gut, wenn sie das Tablett mit Tee und Gebäck zur Feuerstelle brachte. Sie verteilte die Kekse und war die Einzige, die mit dem Servieren bei den Kindern begann. Sie warf immer ein kleines Stück Holz ins Feuer, und Se­kunden später verbreitete sich im Zimmer mit der ho­hen Decke ein wohltuender Duft, der mir noch immer in der Nase liegt. Ich glaube, jedes ihrer Enkelkinder kennt diesen Duft, vor allem, wenn sie uns auf ihren Schoß nahm und mit uns kuschelte. An diesem Feuer hat sie uns so viele Geschichten erzählt. Manche haben uns Angst eingeflößt. Je größer unsere Angst war, desto näher rutschten wir zu ihr hinüber.

Viele Jahre später erfuhr ich, dass dieses kleine Holzstück, das sie ins Feuer warf, von einem Sidarbaum stammte. Dieser Baum gilt in der islamischen Kultur als gesegnet, weil die Muslime glauben, dass ein Sidarbaum am Ende des siebten Himmels stand und ihm der Prophet Mohammed auf seiner Himmelfahrt begegnete. Meine Großmutter nannte ihn den Baum der Hoffnung. Sie glaubte fest, dass dieser Baum für denjenigen, der ihn anpflanzte, Glück und ein langes Leben brachte. «Wenn du groß bist, musst du einen Sidarbaum in deinen Garten pflanzen», sagte sie mir einmal, während sie einige Äste zurechtschnitt.

Ich mochte meine Großmutter, und wie sie mit dem Leben umging, faszinierte mich. Als Jugendlicher sah ich sie oft Brotteig kneten und wusste, dass sie von niemandem angesprochen werden wollte. Sie zog sich fast immer in dieselbe Ecke des Zimmers zurück, in der geschlafen, gekocht und gegessen wurde und wo man sich unterhielt. Zum Schluss bedeckte sie den Teig mit einem derselben Tücher, mit denen sie ihren Kopf verschleierte, wenn sie betete, und ließ den Teig in ihrem Kleiderschrank ruhen. Es kam mir nie in den Sinn zu hinterfragen, was dieses Schweigen zu bedeuten hatte, ich war daran gewöhnt.

Einmal, nach dem Abendessen, als sie in ihrem Haus singend die Teller in dem großen Abwaschtrog in der Mitte des Raumes spülte, sprach ich sie an.

«Aha, das gleiche Lied», sagte ich und rutschte auf der Kante des nahen Bettes näher zu ihr.

«Ja, ja, magst du es nicht mehr?», antwortete sie und setzte ihr Lied summend fort.

«Nein, wer hat das gesagt? Ich liebe deine Lieder, aber sie sind traurig, und ich mag es nicht, die Traurigkeit in deiner Stimme zu hören.»

«Mein Lieber, auch wenn die Traurigkeit verstummt, sie ist trotzdem da.»

«Aber warum singst oder redest du beim Teigkneten nie?»

«Weißt du das nicht?», entgegnete sie erstaunt. «Singen oder Reden beim Kneten macht das Brot bitter.»

«Wirklich? Ist das wahr? Hast du das ausprobiert?»

«Nein, ich weiß es von meiner Mutter. Reden kann vieles verderben, was wir erst später merken.»

Das war ihre Art. Sie hat die Dinge nie begründet. Auch wenn sie über sich selbst oder ihre Gefühle sprach, kam sie mit wenig Worten aus. Sie war Analphabetin, Tochter eines Bauern aus einem Dorf in der Nähe der Altertümer Babylons. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts gab es noch keine Schule, die sie hätte besuchen können, sie hatte ihre Weisheit von ihrer Großmutter und ihrem Vater. Sie erzählte mir wunderschöne Geschichten über Wüsten und Helden, hatte die Begabung, sie lebendig werden zu lassen. Meine Großmutter war für mich die erste Quelle meines Wissens. Märchen, Geschichten, Sprichwörter, Lieder, Weisheiten, aber auch Witze habe ich schon als Kleinkind von ihr geschenkt bekommen. Als Erwachsener recherchierte ich nach dem Ursprung dieser Erzählungen und bemerkte schnell, dass sie selbst die Verfasserin sein musste.

 

Ohne es zu wollen, schlüpfte ich im Asylantenheim in Aarau in die Rolle meiner Großmutter. An bedrückten Abenden teilte ich mit den Mitbewohnern meines Zimmers die Schätze meiner Kindheit. Ich sang sogar Großmutters Lieder. In den Ohren eines Mitbewohners klangen sie wie ein Gesang von Gefangenen. Er hatte recht, denn die Texte tragen die Last der Verzweiflung, der Angst, und wurden seufzend gesungen. Aber sie halfen wie ein Gebet oder ein Segen. In einer bitterkalten Nacht Ende Januar 1991 hatten wir zu Hause weder Strom noch Öl zum Wärmen. Wir saßen alle in der Küche, Militärflugzeuge dröhnten, draußen waren endlose Schießereien zu hören. «Möge Allah zusehen, dass uns niemand bombardiert», sagte meine Mutter und begann diese Lieder zu singen. Damit konnte sie uns alle beruhigen. Ihre Stimme war der ihrer Mutter sehr ähnlich.

Von meiner Großmutter habe ich die absolute Hoffnung geerbt. Sie hat sich nie der Verzweiflung anheimgegeben. Sogar vor dem Tod hat man ihr die Angst kaum angesehen. Sie wirkte vertraut mit dem, was danach auf sie wartete: das Paradies. Ganz im Gegensatz zu vielen Irakern, die die Angst vor der Hölle prägt. Ihnen ist die Hölle weit näher als das Paradies. Ich spüre noch heute die Wärme, die aus der Seele meiner Großmutter strömte.

Hoffnung kommt bei mir meistens schneller auf als Verzweiflung. Aber es gibt nichts Schmerzhafteres als die Sehnsucht nach einer verstorbenen Person. In diesem Fall verschwindet auch bei mir der Wunsch, die Hoffnung am Leben zu erhalten, sagte ich mir, als ich das Haus meiner Verlobten in Frauenfeld verließ, wo ich mit ihr lange über meine Großmutter gesprochen hatte. Ich wollte nach Baden zurückkehren, aber aus irgendeinem Grund führten mich meine Füße zum nahen kleinen Wald. Es war ein Herbstmorgen, der Waldboden war mit einem farbigen Laubteppich bedeckt. Farben und Formen der gefallenen Blätter faszinierten mich.

Ich wollte mich ein paar Minuten hinsetzen. Ich öffnete meine Umhängetasche und nahm den letzten Brief von meinem Bruder Ali, den ich vor einer Woche erhalten hatte, heraus. Es war das vierte Mal, dass ich diesen Brief las. Zu meiner Überraschung hatte mir der Chef des Asylantenheims in der Küche mitgeteilt, dass ich einen Brief aus dem Irak bekommen hätte. Er sagte es auf eine Art, in der eine unangenehme Frage lauert, und seine Augen gaben mir zu verstehen, es sei nicht gut, als Flüchtling Kontakt zur Heimat zu haben. Am Abend sagte mir dann ein junger Afghane, ich solle für meine Briefe eine andere Adresse benutzen. «Du darfst deine privaten Briefe nicht an diese Adresse schicken lassen. Du weißt nicht, wer sie vor dir liest. Außerdem haben wir immer wieder einen Transfer, und dann musst du deiner Familie im Irak alle drei bis vier Monate eine neue Adresse geben», sagte er leise und schlich aus dem Raum.

Er trug dasselbe Hemd, mit dem er aus Kandahar geflüchtet war. Er sagte, dieses Hemd bringe Hoffnung im Leben, er nannte es «Hoffnungsbringer». «Dass es alt und nicht mehr schön ist, interessiert mich nicht. Dieses Hemd ist für mich ein Symbol des Springens, vom Tod ins Leben. Mit ihm konnte ich der Al Qaida entkommen, und es hat die ganze Geschichte meiner Flucht nach Eu­ropa mit mir durchlebt», antwortete er einmal jemandem, der hartnäckig danach fragte.

«Der Wille Gottes hat entschieden, dass weder du noch dein Hemd sterben», meinte ein religiöser Tunesier, der das Gespräch mithörte.

«Mir ist egal, wer entschieden hat, dass ich am Leben bleibe. Die Hauptsache ist, dass ich mit diesem Hemd gesprungen bin, und solange ich es trage, fühle ich mich wohl.»

Eine schöne Schrift hat Ali, dachte ich, als ich seinen Brief auffaltete.

«Salam Usama, wie geht es dir? Ich hoffe, es geht dir gut und du genießt die Zeit mit deiner Verlobten. Vergiss nicht, dass das die schönste Zeit ist, die man mit einer Frau verbringen kann. Du darfst keine Zeit vergeuden. Ich fürchte, dass du Bücher liest, statt sie zu treffen.

Unsere Eltern freuen sich riesig, weil du eine muslimische Irakerin heiraten wirst. ‹Wichtig ist, dass er sie liebt›, hat unsere Schwester Luma gesagt. Das ist auch meine Meinung. Die Liebe ist das Wichtigste, und ob sie Irakerin oder Muslimin ist, ist egal.

Als Erstes möchte ich dir mitteilen, dass ich in den vergangenen zwei Monaten viel gelesen habe. Nicht weil ich das wollte, sondern weil ich das Haus nicht verlassen konnte. Wir leben in Bagdad in einer Zeit, die schlimmer ist, als es die Neunziger waren. Bagdad ist eine Stadt geworden, in der sich Verbrecher frei bewegen können. Diebe regieren, Menschen mit einem langen Bart, Milizen, Soldaten, Dschihadisten und andere Mörder. Es ist eine Stadt, die unter den islamischen Parteien leidet. Alle haben Angst vor allen: Schiiten vor Sunniten, Christen vor Muslimen, Muslime vor Liberalen, die ehemalige Regierungspartei vor Rache, Araber vor Iranern, Kurden vor Arabern und alle vor den alliierten Truppen. Die amerikanischen Soldaten bewegen sich wahnsinnig vorsichtig auf den Straßen, und sie bringen jeden um, den sie als bedrohlich einstufen. Jeden Morgen, wenn ich den Tigris von der rechten auf die linke Seite überquere, schaue ich den Fluss genau an. Es ist normal geworden, dass man eine Leiche hinuntertreiben sieht, und es ist auch nicht selten, dass jemand im Bus erzählt, wie ein Hund am frühen Morgen eine Leiche auf der Straße gefressen hat. Die Leute haben kein Interesse mehr, Geschichten von unbekannten Toten zu hören. Der Tod breitet seine Arme weit über die Straßen Bagdads aus. Kurz nach Mittag werden die Straßen meistens plötzlich leer, und alle Geschäfte und Cafés schließen. Eine verdächtige Stille herrscht dann über der Stadt, eine Stille, welche die Seelen frisst.

Am 9. April vor zwei Jahren, als der erste amerikanische Panzer den Al-Ferdos-Platz in Bagdad erreicht hatte, sah die ganze Welt zu, wie Saddams Statue stürzte. Sein Kopf und sein Oberkörper fielen auf den Boden. Wir Iraker jubelten dazu: «Eine neue irakische Epoche hat begonnen.» Wir hätten darauf achten sollen, dass nur der Oberkörper dieses Teufels auf den Boden gefallen war, denn seine Beine standen noch immer fest auf irakischem Boden. Weißt du, ich will dich nicht traurig machen, ich will dir nur klar sagen, wo ich jetzt lebe. Aber meine Hoffnung ist nach wie vor groß. Sie ist im­mer noch größer als der Wille der Terroristen. Bagdad ist und bleibt die Perle des Orients. Ich und meine Generation lassen sie wieder glänzen. Ich schreibe dir diesen Brief aus einem Café in der Al-Rashid-Straße. Diese Straße liegt in deinem Herzen, das weiß ich. Eine goldene Morgensonne scheint darauf. Viele Leute gehen am Café vorbei. Die Hoffnung treibt sie an, ihren Alltag trotz allem zu meistern. Und jetzt kommt ein Straßenverkäufer mit seinem Wagen voller selbst gemachter Baklawa und Kunafa. Er schreit: ‹Bagdads Süßigkeiten bleiben süß.›

Lieber Usama, ich denke viel an dich. Ich weiß, dass du in der Fremde auch deine Schwierigkeiten hast, halte aber bitte an der Hoffnung fest, denn es gibt nur sie. Erinnerst du dich noch an das irakische Sprichwort, das du früher oft gebraucht hast: ‹Willst du einen Hasen? Nimm dir einen Hasen. Willst du ein Reh? Nimm dir den Hasen.› Das ist genau das, was ich jetzt mit meinen Kollegen in der Uni erlebe. Wir treffen uns im großen Garten der Uni und sitzen im Schatten des großen Sidarbaumes. Unter diesem Baum haben sich viele Generationen getroffen. Ihre grünen Blätter haben viele Gespräche mitgehört.

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