Theologie des Neuen Testaments

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Theologie des Neuen Testaments
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utb 2917

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Udo Schnelle

Theologie des Neuen Testaments

Dritte, neubearbeitete Auflage

Vandenhoeck & Ruprecht

Prof. Dr. theol. Udo Schnelle, o. Professor für Neues Testament an der Theologischen Fakultät in Halle. Veröffentlichungen: Gerechtigkeit und Christusgegenwart. Vorpaulinische und paulinische Tauftheologie, 21986; Einführung in die neutestamentliche Exegese, 82014; Antidoketische Christologie im Johannesevangelium, 1987; Wandlungen im paulinischen Denken, 1989; Neutestamentliche Anthropologie. Jesus – Paulus – Johannes, 1991; Neuer Wettstein II (mit G.Strecker), 1996; Das Evangelium nach Johannes, 52016; Neuer Wettstein I/2, I/1.1, I/1.2, 2001.2008.2013; Paulus. Leben und Denken, 22014; Einleitung in das Neue Testament 82013; Die Johannesbriefe, 2010; Die ersten 100 Jahre des Christentums, 22016; Aufsätze.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de

© 2016, 2014, 2007 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen/Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A.

www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Titelbild: Die Apostel Petrus, Paulus und Johannes; Kunstsammlung der Theologischen Fakultät Halle.

Umschlaggestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Satz: Hubert & Co, Göttingen

EPUB-Erstellung: Lumina Datamatics, Griesheim

UTB-Nr. 2917

ISBN 978-3-8463-4727-0 (UTB-Bestellnummer)

Vorwort

Ziel dieser Theologie des Neuen Testaments ist es, umfassend die Vielfalt und den Reichtum der neutestamentlichen Gedankenwelt darzustellen. Jede Schrift/jeder Autor des Neuen Testaments blickt aus der je eigenen Perspektive auf das gemeinsame Zentrum Jesus Christus und gerade diese Multiperspektivität eröffnet Glaubenswelten und ermöglicht neues Denken und Handeln.

Zu danken habe ich Prof. Dr. Friedrich Wilhelm Horn (Mainz), der einzelne Kapitel des Buches gelesen hat und wertvolle Hinweise gab; zu danken habe ich ferner Herrn wiss. Ass. Markus Göring (Halle) und Herrn stud. theol. Martin Söffing (Halle) für ihre Hilfe bei den Korrekturarbeiten.


Halle, im August 2007 Udo Schnelle

Vorwort zur 3. Auflage

Die 3. Auflage stellt eine durchgängige Neubearbeitung dar, d.h. konkret: Völlig neu sind die Kapitel 3.10.1 (Die Konflikte bis zur Passion), 6.8.6 (Eschatologie und Kosmologie) und 14. (Rück- und Ausblick: Neutestamentliche Theologie als Interpretation der Vielfalt des einen Gottes). Erweitert wurden die Abschnitte 3.1 (Die Frage nach Jesus), 4.5 (Religionsgeschichtliche Kontexte), 6.3 (Pneumatologie), 12.2.1 (Präexistenz und Inkarnation) und 12.8 (Eschatologie). Außerdem finden sich durchgängig kleinere Einfügungen, Ergänzungen oder Änderungen in fast allen Textabschnitten und in den Fußnoten. Zu allen Abschnitten wurde aktuelle Literatur ergänzt und ich habe mich wiederum bemüht, die internationale Diskussion zu berücksichtigen.


Halle, im Mai 2016 Udo Schnelle

Hinweis zu den Literaturangaben

Wenn die Literatur in abgekürzter Form nachgewiesen wird, findet sich der vollständige Erstnachweis immer im Literaturblock des betreffenden Abschnittes oder in den Anmerkungen desselben Unterabschnittes. Sonst erfolgt der Nachweis an Ort und Stelle oder es wird auf den Abschnitt des Erstnachweises verwiesen (s.o./s.u.). Theologien des Neuen Testaments werden ohne späteren Rückverweis nur im Abschnitt 1 vollständig angeführt. Die Abkürzungen entsprechen den Verzeichnissen der TRE, des EWNT und des Neuen Wettstein.

Inhalt


Der Zugang: Theologie des Neuen Testaments als Sinnbildung
Das Entstehen von Geschichte
Geschichte als Sinnbildung
Verstehen durch Erzählen
Der Aufbau: Geschichte und Sinn
Das Phänomen des Anfangs
Theologie und Religionswissenschaft
Vielfalt und Einheit
Neutestamentliche Theologie als Sinnbildung
Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
Die Frage nach Jesus
Jesus in seinen Deutungen
Kriterien der Frage nach Jesus
Der Anfang: Johannes der Täufer
Johannes der Täufer als historische Gestalt
Jesus und Johannes der Täufer
Der Ausgangspunkt: Das Kommen des einen Gottes in seinem Reich
Der eine Gott in der Verkündigung Jesu
Das neue Gottesbild
Das Zentrum: Die Proklamation des Reiches Gottes
Religionsgeschichtliche und politische Vorgaben
Die zeitlichen Perspektiven des Reiches Gottes
Das Reich Gottes in Gleichnissen
Das Reich Gottes und die Verlorenen
Reich Gottes und Mahlgemeinschaften
Ethik im Horizont des Reiches Gottes
Schöpfung, Eschatologie und Ethik
Die ethischen Radikalismen Jesu
Die Liebesforderung als Zentrum der Ethik Jesu
Jesus als Heiler: Die wunderbaren Kräfte Gottes
Das kulturgeschichtliche Umfeld
Die Vielfalt des heilenden Wirkens Jesu
Jesus von Nazareth als Heiler
Das nahe Gericht: Nichts ist folgenlos
Jesus als Repräsentant des Gerichtes Gottes
Jesus und das Gesetz: Der Wille zum Guten
Gesetzestheologien im antiken Judentum
Jesu Stellung zur Tora
Jesus, Israel und die Heiden
Das Selbstverständnis Jesu: Mehr als ein Prophet
Jesus als endzeitlicher Prophet
Jesus als Menschensohn
Jesus als Messias
Jesu Geschick in Jerusalem: Ende und Anfang
Die Konflikte bis zur Passion
Verhaftung, Prozess und Kreuzigung
Jesu Verständnis seines Todes
Die erste Transformation: Die Entstehung der Christologie
Jesu vorösterlicher Anspruch
Die Erscheinungen des Auferstandenen
Erfahrungen des Geistes
Die christologische Lektüre der Schrift
Religionsgeschichtliche Kontexte
Die Sprache und Gestalt der frühen Christologie: Mythos, Titel, Formeln und Traditionen
Die zweite Transformation: Frühe beschneidungsfreie Mission
Die Hellenisten
Antiochia
Die Stellung des Paulus
Paulus: Missionar und Denker
Theologie
Der eine und wahre Schöpfergott
Der Vater Jesu Christi
Gottes erwählendes und verwerfendes Handeln
Gottes Offenbarung im Evangelium
Das neue Gottes-Bild
Christologie
Transformation und Partizipation
Kreuz und Auferstehung
Rettung und Befreiung durch Jesus Christus
Jesu Christi stellvertretender Tod ‚für uns‘
Sühne
Versöhnung
Gerechtigkeit
Pneumatologie
Der Geist und die Struktur des paulinischen Denkens
Die Gaben des Geistes
Vater, Sohn und Geist
Soteriologie
Das neue Sein ‚mit Christus‘/‚in Christus‘
Gnade und Rettung
Anthropologie
Der Leib und das Fleisch
Sünde und Tod
Gesetz
Glaube
Freiheit
Weitere anthropologische Begriffe
Ethik
Teilhabe und Entsprechung
Das neue Handeln
Ekklesiologie
Ekklesiologische Grundbegriffe
Strukturen und Aufgaben
Die Gemeinde als sündenfreier Raum
Eschatologie
Teilhabe am Auferstandenen
Die Endereignisse
Das Gericht
Israel
Tod und neues Leben
Eschatologie und Kosmologie
Theologiegeschichtliche Stellung
Die dritte Transformation: Evangelienschreibung als innovative Krisenbewältigung
Der Tod von Gründergestalten
Die Verzögerung der Parusie
Der Untergang des Tempels und der Urgemeinde
Der Aufstieg der Flavier
Evangelienschreibung als innovative Krisenbewältigung
Die Logienquelle, die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte: Sinn durch Erzählen
Die Logienquelle als Proto-Evangelium
Theologie
Christologie
Pneumatologie
Soteriologie
Anthropologie
Ethik
Ekklesiologie
Eschatologie
Theologiegeschichtliche Stellung
Markus: Der Weg Jesu
Theologie
Christologie
Pneumatologie
Soteriologie
Anthropologie
Ethik
Ekklesiologie
Eschatologie
Theologiegeschichtliche Stellung
Matthäus: Die neue und bessere Gerechtigkeit
Theologie
Christologie
Pneumatologie
Soteriologie
Anthropologie
Ethik
Ekklesiologie
Eschatologie
Theologiegeschichtliche Stellung
Lukas: Heil und Geschichte
Theologie
Christologie
Pneumatologie
Soteriologie
Anthropologie
Ethik
Ekklesiologie
Eschatologie
Theologiegeschichtliche Stellung
Die vierte Transformation: Das Evangelium in der Welt
Die soziale, religiöse und politische Entwicklung
Pseudepigraphie/Deuteronymität als historisches, literarisches und theologisches Phänomen
Die Deuteropaulinen: Paulus weiter-denken
Der Kolosserbrief: Paulus in veränderter Zeit
Theologie
Christologie
Pneumatologie
Soteriologie
Anthropologie
Ethik
Ekklesiologie
Eschatologie
Theologiegeschichtliche Stellung
Der Epheserbrief: Raum und Zeit
Theologie
Christologie
Pneumatologie
Soteriologie
Anthropologie
Ethik
Ekklesiologie
Eschatologie
Theologiegeschichtliche Stellung
Der zweite Thessalonicherbrief: Ein Terminproblem
Die Pastoralbriefe: Gottes Menschenfreundlichkeit
Theologie
Christologie
Pneumatologie
Soteriologie
Anthropologie
Ethik
Ekklesiologie
Eschatologie
Theologiegeschichtliche Stellung
Die Kirchenbriefe: Stimmen in gefährdeter Zeit
Der erste Petrusbrief: Bewährung durch Leiden
Theologie
Christologie
Pneumatologie
Soteriologie
Anthropologie
Ethik
Ekklesiologie
Eschatologie
Theologiegeschichtliche Stellung
Der Jakobusbrief: Handeln und Sein
Theologie
Christologie
Pneumatologie
Soteriologie
Anthropologie
Ethik
Ekklesiologie
Eschatologie
Theologiegeschichtliche Stellung
Der Hebräerbrief: Das Sprechen Gottes
Theologie
Christologie
Pneumatologie
Soteriologie
Anthropologie
Ethik
Ekklesiologie
Eschatologie
Theologiegeschichtliche Stellung
Der Judas- und der zweite Petrusbrief: Identität durch Tradition und Gegnerpolemik
Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum
Theologie
Gott als Vater
Das Wirken des Vaters im Sohn
Gott als Licht, Liebe und Geist
Christologie
Präexistenz und Inkarnation
Die Sendung des Sohnes
Die ‚Ich-bin-Worte‘
Christologische Titel
Kreuzestheologie
Die Einheit der johanneischen Christologie
Pneumatologie
Jesus Christus und die Glaubenden als Geistträger
Der Heilige Geist als Paraklet
Trinitarisches Denken im Johannesevangelium
Soteriologie
Begriffliches
Prädestination
Anthropologie
Der Glaube
Das ewige Leben
Die Sünde
Ethik
Das Liebesgebot
Narrative Ethik
Die Ethik des ersten Johannesbriefes
Ekklesiologie
Eckpunkte: Paraklet und Lieblingsjünger
Die Sakramente
Die Jünger
Sendung und Mission
Eschatologie
Die Gegenwart
Die Zukunft
Theologiegeschichtliche Stellung
Die Johannesoffenbarung: Sehen und Verstehen
Theologie
Christologie
Pneumatologie
Soteriologie
Anthropologie
Ethik
Ekklesiologie
Eschatologie
Theologiegeschichtliche Stellung
Rück- und Ausblick: Neutestamentliche Theologie als Interpretation der Vielfalt des einen Gottes
Autorenregister

1Der Zugang: Theologie des Neuen Testaments als Sinnbildung

 
 

Theologien des Neuen Testaments

H.J. HOLTZMANN, Lehrbuch der neutestamentlichen Theologie I.II, hg. v. A.Jülicher/W.Bauer, Tübingen 21911; R.BULTMANN, Theologie des Neuen Testaments, hg. v. O.Merk, Tübingen 91984; H.CONZELMANN, Grundriß der Theologie des Neuen Testaments, hg. v. A.Lindemann, Tübingen 41987; K.H. SCHELKLE, Theologie des Neuen Testaments I-IV, Düsseldorf 1968–1976; W.G. Kümmel, Die Theologie des Neuen Testaments nach seinen Hauptzeugen, Göttingen 31976; L.GOPPELT, Theologie des Neuen Testaments, hg. v. J. Roloff, Göttingen 31978; J.JEREMIAS, Neutestamentliche Theologie I: Die Verkündigung Jesu, Gütersloh 31979; W.THÜSING, Die neutestamentlichen Theologien und Jesus Christus I.II.III, Münster 1981. 1998. 1999; H.HÜBNER, Biblische Theologie des Neuen Testaments I.II.III, Göttingen 1990. 1993. 1995; P.STUHLMACHER, Biblische Theologie des Neuen Testaments I.II, Göttingen 1992. 1999; A.WEISER, Theologie des Neuen Testaments II: Die Theologie der Evangelien, Stuttgart 1993; J.GNILKA, Theologie des Neuen Testaments, HThK.S 5, Freiburg 1994; K.BERGER, Theologiegeschichte des Urchristentums, Tübingen 21996; B.S. CHILDS, Die Theologie der einen Bibel I.II, Freiburg 1994. 1996; G.STRECKER, Theologie des Neuen Testaments, hg. v. F.W. Horn, Berlin 1996; G.THEISSEN, Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh 2000; F.VOUGA, Une théologie du Nouveau Testament, Genf 2001; F.HAHN, Theologie des Neuen Testaments I.II, Tübingen 32011; U.WILCKENS, Theologie des Neuen Testaments I.II.III.IV, Neukirchen 2002.2003.2005; K.NIEDERWIMMER, Theologie des Neuen Testaments, Wien 2003; I.H.MARSHALL, New Testament Theology, Downers Grove 2004; PH. F.ESLER, New Testament Theology. Communion and Community, Minneapolis 2005; F. J. MATERA, New Testament Theology. Exploring Diversity and Unity, Louisville 2007; J. D. G. DUNN, New Testament Theology. An Introduction, Nashville 2009.

Eine Theologie des Neuen Testaments muss zweierlei leisten: 1) Die Gedankenwelt der ntl. Schriften erheben und 2) sie im Kontext gegenwärtigen Wirklichkeitsverständnisses zur Sprache bringen. Sie partizipiert gleichermaßen an verschiedenen Zeitebenen; es gilt, das Vergangene zu vergegenwärtigen, zu explizieren und ihm einen zukunftsrelevanten Status zu verleihen. Damit ist die ntl. Theologie eingebunden in die Frage nach der bleibenden Bedeutung vergangenen Geschehens und somit immer ein Teil der Geschichtswissenschaften. Sie hat teil an der geschichtstheoretischen Debatte und muss nach dem Wesen und der Reichweite historischen Erkennens fragen. Indem sie dies tut, befindet sie sich bereits innerhalb wissenschaftstheoretischer Erwägungen, wie Vergangenheit/Geschichte und damit auch Wirklichkeit entstehen und welche Kategorien dabei eine zentrale Rolle spielen. Wirklichkeit ist nicht jenseits menschlicher Deutungsleistungen zu erfassen, die das Geschehene innerhalb von Erfahrungswelten kanalisieren und ihm in unterschiedlicher Weise Bedeutung zuschreiben. Diese Zuschreibungsprozesse sind immer auch Sinnbildungen, denn sie zielen als Vergewisserung, Erweiterung oder Neuaufbruch immer auf gültige Orientierung. Sie vollziehen sich stets als ein sinnstiftender Vorgang, der sowohl dem Vergangenen als auch dem Gegenwärtigen Sinn, d.h. Deutungskraft zur Orientierung innerhalb der Lebenszusammenhänge verleihen soll1. Sinn ist dem menschlichen Sein eingeprägt und erwächst aus Ereignissen, Erfahrungen, Einsichten, Denkprozessen und Deutungsleistungen und verdichtet sich zu Konzeptionen, die inhaltlich eine zeitübergreifende Perspektive für zentrale Lebensfragen bieten, narrativ präsentiert werden können und in der Lage sind, normative Aussagen zu formulieren und kulturelle Prägungen zu entwickeln2. Die Sinn-Kategorie3 ist in besonderer Weise geeignet, die Welt des Neuen Testaments und die Gegenwart miteinander in Verbindung zu setzen. Die Wirklichkeit war und ist zu jeder Zeit durch ständige Sinnbildungsprozesse gekennzeichnet, wobei die religiöse Sinnbildung als ein zentrales Element kultureller Sinnbildung immer auch an parallelen Sinnbildungsprozessen (in der Politik, Philosophie, Kunst, Dichtung, Wirtschafts- und Sozialstruktur) partizipiert. In der griechisch-römischen Antike wurden auf den Gebieten der Religion, Philosophie, Kunst, Politik und Naturwissenschaften ebenso Sinnbildungsleistungen erbracht wie in der Gegenwart. Das Leben ist immer eine Sinnverwirklichung, so dass es nicht um die Frage geht, ob Menschen Sinnbildungen vornehmen, sondern welche Ressourcen, Struktur, Qualität und argumentative Kraft sie aufweisen.

Für eine ntl. Theologie ist der Sinnbegriff von großer Bedeutung, denn er vermag Göttliches und Menschliches miteinander zu verbinden, indem er die Sinnstiftung Gottes in Jesus Christus und ihre Bezeugung in den Schriften des Neuen Testaments gleichermaßen erfasst. Das Neue Testament als Basisurkunde des Christentums ist eine Sinnbildung mit einer außergewöhnlichen Wirkungsgeschichte. Das frühe Christentum entfaltete sich in einem multi-kulturellen Umfeld mit zahlreichen attraktiven religiösen und philosophischen Konkurrenzsystemen4. Es gelang ihm, auf dem Fundament der im Neuen Testament vielfältig erzählten Jesus-Christus-Geschichte ein Sinngebäude zu entwerfen, zu bewohnen und ständig auszubauen, das menschliches Leben im Ganzen zu gründen, zu festigen und zu strukturieren vermochte. Dieses Sinngebäude verfügte offenbar über eine große Deutungskraft und es muss das Ziel einer Theologie des Neuen Testaments sein, die Grund-Elemente dieser Deutungskraft zu ermitteln und darzustellen. Die Sinn-Kategorie als hermeneutische Konstante verhindert dabei eine Verengung auf historistische Faktenfragen, denn es kommt darauf an, wie die ntl. Überlieferungen historisch angeeignet und theologisch erschlossen werden können, ohne ihren religiösen Gehalt und ihre sinnbildende Kraft zu zerstören. Auf die Wahrheitsfrage wird dabei nicht verzichtet, denn Wahrheit ist verbindlicher Sinn. Ziel ist nicht ein entkerntes christliches Haus, sondern die Erfassung seiner Architektur, der tragenden Decken und Wände, der Türen und Treppen, die Verbindungen schaffen und der Fenster, die Ausblicke ermöglichen. Zugleich eröffnet die Sinn-Kategorie der Theologie als einer führenden Sinnwissenschaft die Möglichkeit, auf der Basis ihrer maßgeblichen Überlieferung mit anderen Sinnwissenschaften in einen kritischen Diskurs zu treten.

1.1Das Entstehen von Geschichte

Jesus von Nazareth ist eine Gestalt der Geschichte und das Neue Testament ein Zeugnis der Wirkungsgeschichte dieser Person. Wenn auf einer solchen Basis mit 2000 Jahren Abstand eine Theologie des Neuen Testaments geschrieben wird, zeigen sich unausweichlich die Grundprobleme historischen Fragens und Erkennens. Wie entsteht Geschichte/Historie5? Was passiert, wenn in der Gegenwart ein Dokument der Vergangenheit mit einem Zukunftsanspruch interpretiert wird? Wie verhalten sich historische Nachrichten und ihre Einordnung in den gegenwärtigen Verstehenszusammenhang des Historikers/Exegeten zueinander6?

Interesse und Erkenntnis

Das klassische Ideal des Historismus, nur zu zeigen, wie es eigentlich gewesen7 ist, erwies sich in mehrfacher Hinsicht als ideologisches Postulat8. Die Gegenwart verliert mit ihrem Übergang in die Vergangenheit unwiderruflich ihren Realitätscharakter. Schon deshalb ist es nicht möglich, das Vergangene ungebrochen gegenwärtig zu machen. Der Zeitabstand bedeutet Abständigkeit in jeder Hinsicht, er verwehrt historisches Erkennen im Sinne einer umfassenden Wiederherstellung dessen, was geschehen ist9. Vielmehr kann man nur seine eigene Auffassung von der Vergangenheit in der Gegenwart kundtun. Vergangenheit begegnet uns ausschließlich im Modus der Gegenwart, hier wiederum in interpretierter und selektierter Form. Relevant von der Vergangenheit ist nur das, was nicht mehr Vergangenheit ist, sondern in die gegenwärtige Weltgestaltung und Weltdeutung einfließt10. Die eigentliche Zeitstufe des Historikers/Exegeten ist immer die Gegenwart11, in die er unentrinnbar verwoben ist und deren kulturelle Standards das Verstehen des gegenwärtig Vergangenen entscheidend prägen. Die Sozialisation des Historikers/Exegeten, seine Traditionen, sein geographischer Lebensort, seine politischen und religiösen Werteinstellungen prägen notwendig das, was er in der Gegenwart über die Vergangenheit sagt12. Jeder Mensch hat und pflegt Denkgläubigkeiten. In jedes Bild der Welt, das ich mir mache, ist ein Bild meiner selbst eingezeichnet! Zudem sind auch die Verstehensbedingungen selbst, speziell die Vernunft und der jeweilige Kontext, einem Wandlungsprozess unterworfen, insofern die jeweilige geistesgeschichtliche Epoche und die sich not-wendigerweise ständig wandelnden erkenntnisleitenden Absichten das historische Erkennen bestimmen. Jede wissenschaftliche Disziplin führt apriorische Axiome mit sich, die historisch entstanden sind. Geschichtsschreibung ist deshalb nie ein pures Abbild des Gewesenen, sondern hat selbst eine Geschichte, nämlich die Geschichte des Schreibenden. Die Einsicht in die Geschichtlichkeit des Erkenntnissubjektes fordert eine Reflexion über seine Rolle im Erkenntnisprozess, denn das Subjekt steht nicht über der Geschichte, sondern ist ganz und gar in sie verwickelt. Deshalb ist ‚Objektivität‘ als Gegenbegriff zu ‚Subjektivität‘ völlig ungeeignet, um historisches Verstehen zu beschreiben13. Dieser Begriff dient vielmehr als literarische Strategie nur dazu, die eigene Position als positiv und wertneutral zu deklarieren, um so andere Auffassungen als subjektiv und ideologisch zu diskreditieren. Das Erkenntnisobjekt kann nicht vom erkennenden Subjekt getrennt werden, denn das Erkennen verändert immer auch das Objekt. Das im Erkenntnisvorgang gewonnene Bewusstsein von Realität und die vergangene Realität verhalten sich nicht wie Original und Abdruck14. Deshalb sollte nicht von ‚Objektivität‘, sondern von ‚Angemessenheit‘ oder ‚Plausibilität‘ historischer Argumente gesprochen werden15. Schließlich sind jene Nachrichten, die als historische ‚Fakten‘ in jede historische Argumentation einfließen, in der Regel auch schon Deutungen vergangenen Geschehens. Bereits mit Sinn Versehenes wird notwendigerweise einer weiteren Sinnbildung unterzogen, um so Geschichte zu bleiben. Nicht das wirklich vollzogene Geschehen ‚an sich‘ ist uns zugänglich, sondern nur die je nach Standort der Interpreten verschiedenen Deutungen16 vergangener Ereignisse. Erst durch unsere Zuschreibung werden die Dinge zu dem, was sie für uns sind. Geschichte wird nicht rekonstruiert, sondern unausweichlich und notwendigerweise konstruiert. Das verbreitete Bewusstsein, die Dinge nur ‚nachzuzeichnen‘ oder zu ‚re-konstruieren‘ suggeriert eine Kenntnis des Ursprünglichen, die es in der vorausgesetzten Art und Weise nicht gibt. Geschichte ist auch nicht einfach identisch mit Vergangenheit, vielmehr immer nur eine gegenwärtige Stellungnahme, wie man Vergangenes sehen könnte. Deshalb gibt es keine ‚Fakten‘ im ‚objektiven‘ Sinn, sondern innerhalb historischer Konstruktionen bauen Deutungen auf Deutungen auf. Es gilt: „es wird Geschichte, aber es ist nicht Geschichte.“17

Das Vorgegebene

Zugleich gilt aber: Der Bezug auf das Geschehene wird damit keinesfalls aufgegeben, sondern die Bedingungen seiner Realisierung werden reflektiert. Nicht die Welt und das Leben sind eine Konstruktion, wohl aber unsere Anschauungen über sie. Es geht nicht um die Entlarvung, sondern um die Beschreibung der Grundstruktur von Wirklichkeit. Konstruktion meint nicht etwas Willkürliches oder aus sich selbst Begründbares, sondern ist an Methoden und Realitätsvorgaben gebunden. Die Sachgehalte von Quellen müssen in einen sinn- und bedeutungsvollen Zusammenhang gebracht werden und innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses diskutier- und rezipierbar bleiben18. Alle menschlichen Aussagen sind immer eingebunden in vorgegebene allgemeine Wirklichkeits- und Zeitvorstellungen19, ohne die Konstruktion und Kommunikation nicht möglich sind. Es gibt zweifellos eine Realität, die vor, neben und nach, vor allem aber unabhängig von unserer Wahrnehmung und Beschreibung existiert. Einem Stück Papier einen Wert als Geld zuzuerkennen, ist eine Handlung, bei der wir durch Zuschreibung erst Wirklichkeit stiften, während das Licht auch dann scheint, wenn man sich nicht darüber verständigt. Jeder Mensch ist genetisch vor-konstruiert und ständig sozial-kulturell ko-konstruiert. Reflexion und Konstruktion sind immer nachfolgende Akte, die sich auf etwas Vorgegebenes beziehen, so dass jede Form von Selbstgewissheit nicht in sich selbst ruht, sondern jeweils den Bezug auf etwas Vorausliegendes benötigt, das es begründet und ermöglicht. Schon die Tatsache, dass die Frage nach Sinn möglich ist und Sinn gewonnen werden kann, verweist auf eine „unvordenkliche Wirklichkeit“20, die allem Sein vorausgeht und ihm den Wirklichkeitsstatus verleiht. Grundsätzlich gilt: Geschichte entsteht erst, nachdem das ihr zugrunde liegende Geschehen erfolgt ist und in den Status gegenwartsrelevanter Vergangenheit erhoben wurde, so dass notwendigerweise Geschichte nicht denselben Realitätsanspruch erheben kann wie die ihr zugrunde liegenden Ereignisse.

Sprache und Wirklichkeit

Zu diesen erkenntnistheoretischen Einsichten kommen sprachphilosophische Überlegungen. Geschichte ist immer sprachlich gestaltete Vermittlung; Geschichte existiert nur, insofern sie zur Sprache gebracht wird. Der Mensch ist ein erzählendes und darin deutendes Kulturwesen, man kann vom homo narrans sprechen. Auch historische Nachrichten werden erst durch die semantisch organisierte Konstruktion des Historikers/Exegeten zu Geschichte. Dabei fungiert die Sprache nicht nur zur Bezeichnung des Gedachten und dadurch zur Wirklichkeit Erhobenen, sondern die Sprache bestimmt und prägt jene Wahrnehmungen, die zu Geschichte organisiert werden. Es gibt für Menschen keinen Weg von der Sprache zu einer unabhängigen außersprachlichen Wirklichkeit, denn Wirklichkeit ist für uns nur in und durch Sprache präsent. Geschichte ist somit nur als sprachlich vermittelte und gestaltete Erinnerung zugänglich. Sprache wiederum ist kulturell bedingt und unterliegt einem ständigen gesellschaftlichen Wandel, so dass es nicht verwundert, wenn historische Ereignisse zu verschiedenen Zeiten und in unterschiedlichen Kultur- und Wertekreisen abweichend konstruiert und bewertet werden. Die Sprache ist weitaus mehr als bloße Abbildung der Wirklichkeit, denn sie reguliert und prägt den Zugang zur Wirklichkeit und damit auch unser Bild von ihr. Zugleich ist Sprache aber auch nicht die Wirklichkeit, denn sie bildet sich wie im Verlauf der Menschheitsgeschichte insgesamt bei jedem Menschen im Rahmen seiner biologischen und kulturgeschichtlichen Entwicklung erst heraus und wird von diesem Prozess entscheidend und jeweils unterschiedlich beeinflusst. Die ständige Veränderung der Sprache ist ohne die sie bedingenden verschiedenen sozialen Kontexte nicht erklärbar21, d.h. der Zusammenhang von Zeichen und Bezeichnetem muss beibehalten werden, wenn man die Realität nicht aufgeben will.

Fakten und Fiktion

Geschichte ist somit immer ein selektives System, mit dem die Interpretierenden nicht einfach Vergangenes, sondern vor allem ihre eigene Welt ordnen und deuten22. Sprachliche Konstruktion von Geschichte vollzieht sich deshalb stets auch als ein sinnstiftender Vorgang, der sowohl dem Vergangenen als auch dem Gegenwärtigen Sinn verleihen soll. Historische Interpretation heißt, einen kohärenten Sinnzusammenhang zu schaffen; erst durch die Herstellung historischer Erzählzusammenhänge werden die Fakten das, was sie für uns sind23. Dabei müssen historische Nachrichten in der Gegenwart erschlossen und zur Sprache gebracht werden, so dass sich in der Darstellung/Erzählung von Geschichte notwendigerweise ‚Fakten‘ und ‚Fiktion‘24, Vorgegebenes und schriftstellerisch-fiktive Arbeit miteinander verbinden. Indem historische Nachrichten kombiniert, historische Leerstellen ausgefüllt werden müssen, fließen Nachrichten aus der Vergangenheit und ihre Interpretation in der Gegenwart zu etwas Neuem zusammen25. Durch die Interpretation wird dem Geschehen eine neue Struktur eingezogen, die es zuvor nicht hatte26. Es gibt nur potentielle Fakten, denn es bedarf der Erfahrung und der Deutung, um das Sinnpotential eines Geschehens zu erfassen27. Fakten muss eine Bedeutung beigemessen werden und die Struktur dieses Interpretationsprozesses konstituiert das Verständnis der Fakten28. Erst das fiktionale Element eröffnet einen Zugang zur Vergangenheit, ermöglicht die unumgängliche Neuschreibung der vorausgesetzten Ereignisse. Die figurative Ebene ist für die historische Arbeit unerlässlich, denn sie entfaltet den präfigurierenden Plan der Interpretation, der die gegenwärtige Auffassung von der Vergangenheit bestimmt. Damit ist der 2. Teil der Überlegungen erreicht: Der notwendig und unausweichlich konstruktive Charakter von Geschichte ist immer Teil einer Sinnbildung.

1.2Geschichte als Sinnbildung

Menschliches Sein und Handeln zeichnet sich durch Sinn aus29. Es lässt sich keine menschliche Lebensform bestimmen, „ohne auf Sinn zu rekurrieren. Es macht Sinn, Sinn als Grundform menschlichen Daseins zu verstehen.“30 Schon die kulturanthropologische Unabweisbarkeit von Transzendenzvollzügen des Menschen mit sich selbst und seiner soziokulturellen Lebenswelt hat notwendigerweise Sinnbildungen zur Folge31. Sinnbildung ist nicht etwas Eigenmächtiges, sondern unausweichlich, notwendig und natürlich. Zudem wird der Mensch immer schon in Sinnwelten hineingeboren32, Sinn ist unabwendbar, die menschliche Lebenswelt muss sinnhaft gedacht und erschlossen werden, denn nur so ist Leben und Handeln in ihr möglich33. Jede Religion ist als Sinnform ein solcher Erschließungsvorgang, somit auch das frühe Christentum und die in ihm entwickelten Theologien. Konkret vollzieht sich dieser Erschließungsvorgang als historische Sinnbildung. Historischer Sinn konstituiert sich aus den „drei Komponenten Erfahrung, Deutung und Orientierung.“34 Aus der Faktizität eines Ereignisses lässt sich noch nicht seine Sinnhaftigkeit ableiten; es bedarf der eigenen Erfahrung, dass ein Ereignis Sinnpotential enthält.