Theologie des Neuen Testaments

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Als natürliches und historisch wie theologisch betrachtet überaus sachgemäßes Ergebnis eines jahrhundertlangen Formierungs- und Selektionsprozesses ist der ntl. Kanon eine geschichtliche Realität, die den Umfang des zu behandelnden Stoffes bestimmt.

2.4Neutestamentliche Theologie als Sinnbildung

Aus den vorangegangenen Überlegungen ergeben sich der methodische Ansatz und der Aufbau dieser Theologie des Neuen Testaments.

Der methodische Ansatz

Die Schriften des Neuen Testaments sind das Resultat einer umfassenden und vielschichtigen Sinnbildung. Weil religiöse Erfahrungen von Gruppen oder Einzelpersonen immer Sinnbildungsprozesse auslösen, die in Erzählungen und Rituale und damit auch in Textbildung überführt werden, um kommunizierbar zu sein, waren angesichts von Kreuz und Auferstehung Sinnbildungsleistungen unabwendbar. Ein Erschließungsereignis wie die Auferstehung des Jesus von Nazareth von den Toten fordert Erschließungsleistungen! Alle frühchristlichen Autoren standen vor der Aufgabe, das Einmalige und Außerordentliche von Kreuz und Auferstehung durch Erzählen in ein theologisches Sinngebäude zu überführen, womit sie auch eine bedeutsame Denkleistung vollbrachten. Indem sie die Geschichte des Jesus Christus in bestimmter Weise erzählen und deuten, nehmen sie Zuschreibungen und Statusbestimmungen vor, sie schreiben Geschichte und konstruieren eine eigene neue religiöse Welt40. Dabei vermeiden alle Autoren des Neuen Testaments die historisch wie sachlich unangemessene Alternative zwischen einer Faktengeschichte des irdischen Jesus und einer davon abgelösten abstrakten Kerygma-Christologie. Vielmehr kommt bei ihnen die Geschichte des irdischen Jesus aus der Perspektive der durch den Auferstandenen geschaffenen gegenwärtigen Heilswirklichkeit in den Blick.

Die neue religiöse Welt ist immer auch Ausdruck der spezifischen historischen und kulturellen Situation, in der die ntl. Autoren lebten und wirkten. Sie waren eingebunden in vielfältige kulturelle und politische Kontexte, die durch ihre Herkunft, ihr aktuelles Wirkungsfeld, ihre Rezipienten und die religiös-philosophischen Debatten der Zeit bestimmt waren. Religionen existieren ebenso wenig wie Kulturen je individuell für sich, vielmehr sind sie immer in Relationen eingebunden. Dies gilt umso mehr für eine neue Bewegung wie das frühe Christentum, das um seiner Anschlussfähigkeit willen bewusst Relationen aufbauen musste. Anschlussfähigkeit ergibt sich nicht von selbst, sondern muss bewusst hergestellt werden. Entscheidend ist dabei die Fähigkeit von Sinnbildungen und der Bildung neuer Identitäten. Die Herausbildung einer Identität vollzieht sich immer unter dem Einfluss eines kulturellen Umfeldes bzw. kultureller Umfelder. Dabei ist das ethnische Identitätsbewusstsein wesentlich durch objektivierbare Merkmale wie Sprache, Abstammung, Religion und daraus hervorgegangener Traditionen bestimmt. Traditionen wiederum sind Ausdruck einer kulturellen Formung durch Texte, Riten und Symbole41. Obwohl sich Identitätsbildung in der Regel innerhalb eines so geprägten Rahmens vollzieht, hat sie immer Prozesscharakter, ist fließend und an sich ändernde Situationen gebunden42. Wenn sich zudem Kulturräume überlagern, kann sich eine Identität nur erfolgreich ausbilden, wenn sie verschiedenartige Einflüsse aufzunehmen und zu integrieren vermag. Eindeutigkeit und Durchlässigkeit sind gleichermaßen Voraussetzungen für gelungene kulturelle Neuformungen. Anschlussfähigkeit ließ sich innerhalb der komplexen kulturellen Vielschichtigkeit des Imperium Romanum für die frühchristliche Mission nur erreichen, weil sie in der Lage war, verschiedene kulturelle Traditionen in sich aufzunehmen und schöpferisch weiterzuentwickeln: das Alte Testament, das hellenistische Judentum und die griechisch-römische Kultur. Schließlich vollziehen sich Sinnbildungen immer in (wechselnden) politischen Kontexten, die in den einzelnen ntl. Schriften in sehr unterschiedlicher Weise zum Thema gemacht werden. Speziell der Kaiserkult als politische Religion (s.u. 9.1) konnte nicht unthematisiert bleiben. Der Umgang mit ihm reicht von offener Konfrontation und Auseinandersetzung (Offb/1Petr), über symbolische Überbietungen und/oder deutliche Anspielungen (Paulus/Markus/Lukas/Johannes/Kol/Eph) bis hin zum Schweigen (Hebr/Jak/1.2Tim/Tit/2Petr/Jud).

Mit dem Einsatz bei den einzelnen ntl. Autoren/Schriften (ausgenommen natürlich die Verkündigung des Jesus von Nazareth) unterscheidet sich diese Theologie wesentlich von dem Entwurf R. Bultmanns. Seine Theologie des Neuen Testaments gleicht in ihrem Aufbau einem Bergmassiv mit zwei Gipfeln. Man hat zunächst einen ‚leichten‘ Anstieg, denn die Frage nach dem historischen Jesus wird ausgeblendet und das vor- bzw. außerpaulinische Christentum nur summarisch behandelt. Dann folgt ein sehr ‚steiler‘ Aufstieg: Der Paulus- und Johannes-Abschnitt in der Theologie des Neuen Testaments bilden ein je in sich geschlossenes Meisterstück. Paulus und Johannes sind die beiden einzigen ‚wirklichen‘ Theologen des Neuen Testaments, sie sind gewissermaßen die ‚Gipfel‘ theologischer Reflexion43. Johannes steht in sachlicher Nähe zu Paulus, beide befinden sich im Raum eines gnostisch gefärbten Hellenismus und gestalten ihre Christologie „nach dem Muster des gnostischen Erlösermythos“44. Nach diesen beiden Gipfeln folgt ein steiler Abstieg, denn die nachjohanneische Entwicklung und der Weg zur Alten Kirche werden wiederum nur sehr summarisch dargestellt. Faktisch führt die Konzentration auf Paulus und Johannes bei Bultmann zu einer Vernachlässigung bzw. einem Ausblenden wesentlicher theologischer Entwürfe im Neuen Testament (z.B. Synoptiker, Apostelgeschichte, Deuteropaulinen, Hebräerbrief, 1Petrusbrief, Jakobusbrief, Johannesoffenbarung).

Eine solche Reduzierung findet sich bei F. Hahn nicht, der in Band I seiner Theologie des Neuen Testaments umfassend die unterschiedlichen theologischen Entwürfe darstellt und als Theologiegeschichte des Urchristentums klassifiziert. Dies reicht aber seiner Meinung nach nicht aus, um von ‚Theologie‘ zu sprechen. Erst wenn die verschiedenen Entwürfe aufeinander bezogen werden und nach ihrer Einheit gefragt wird, kann von ‚Theologie‘ im eigentlichen Sinn die Rede sein. Dies soll der Offenbarungsgedanke als übergeordnete Leitkategorie leisten: „Zentrale Bedeutung hat im Neuen wie im Alten Testament das Offenbarungshandeln Gottes.“45 Mit dem Offenbarungskonzept verbinden sich aber weitreichende exegetische, theologische und erkenntnistheoretische Probleme. 1) Exegetische Probleme: Ein nur annähernd einheitliches Konzept von Offenbarung gibt es im Neuen Testament nicht; weder eine umfassende Darstellung der Kommunikationsformen zwischen Gott und Mensch, noch einen übergreifenden Begriff dafür46. Vielmehr findet sich in den unterschiedlichen Schriftengruppen eine ganze Reihe von Termini: ἀποϰαλύπτειν; ἀποϰάλυψις; φανηροῦν; δηλοῦν; ἐπιφαίνειν; ἐπιφάνεια; ὁρᾶν; γνωρίζειν; γινώσϰειν. Mit diesen Begriffen lassen sich verschiedene Offenbarungskonzepte verbinden: Vision, Audition, Epiphanie, Parusie, Gerichtshandeln, Eingebung, Träume, Gesichte, verbale Unterweisung, kosmische Umwälzungen. Dabei fällt auf, dass im Vergleich zu den Gesamtkonzeptionen der ntl. Autoren die Frage nach der Möglichkeit und den Modi der Offenbarung/Offenbarungen Gottes eher ein Nebenthema ist. Faktisch unterwirft F. Hahn das gesamte Neue Testament (und Alte Testament) einem Offenbarungsbegriff, der sich dort in dieser überhöhten, dogmatischen Form gar nicht findet! 2) Theologische Probleme: In welcher Form kann beim Alten Testament von einer dem Neuen Testament gleichwertigen Offenbarung gesprochen werden47? Die interpretatio christiana des AT nimmt faktisch eine radikale Reduzierung unter den Kategorien der Erwählung und Verheißung vor. Die Kriterien der Aufnahme bzw. Nichtaufnahme zentraler Aspekte des atl. Offenbarungshandelns sind völlig unklar. 3) Erkenntnistheoretische Probleme: Bei Hahn gewinnt der Offenbarungsbegriff gewissermaßen einen ontologischen Status. Dagegen ist einzuwenden: Wenn wir von Offenbarung reden, dann nehmen wir Zuschreibungen vor; wir sprechen nicht – gewissermaßen von uns selbst losgelöst – von höheren Wirklichkeiten, denen sich die Menschen zu unterwerfen hätten. Es geht also nicht einfach um Offenbarung ‚an sich‘, sondern um Konstruktionen von Offenbarung. Das Offenbarungskonzept verdankt sich zudem der Vorstellung des großen Absenders, ein Kaiser oder ein Gott tut seinen Willen kund. Heute gibt es die Metaphysik des großen Absenders nicht mehr, sondern es müssen Plausibilitäten hergestellt, Einsichten ermöglicht werden.

Die Sinnbildungen der ntl. Autoren weisen eine hohe Leistungsfähigkeit auf, denn sie konnten sich nicht nur innerhalb einer wahrhaft multi-religiösen Umwelt behaupten, sondern sie sind bis heute in einer weltgeschichtlich einmaligen Rezeptionsgeschichte gegenwärtig. Da in der Antike Religion und Philosophie nie getrennt waren, müssen die ntl. Schriften auch als denkerische Leistungen und Zeugnisse gelesen und ernst genommen werden. In ihnen werden zentrale Fragen gelingenden Lebens behandelt, d.h. das denkerische Profil der einzelnen Entwürfe muss im Vergleich mit zeitgenössischen religiös-philosophischen Entwürfen erhoben werden.

Die Orientierung an den ntl. Schriften/Autoren wirft die Frage auf, ob nicht von einer Theologie der ntl. Schriften gesprochen werden sollte. Einerseits ist die Ausrichtung an einzelnen Schriften/Autoren grundlegend, andererseits wird aber in einem entscheidenden Punkt davon abgewichen, indem die Verkündigung, das Wirken und das Geschick Jesu von Nazareth die Basis und den Ausgangspunkt der Darstellung bilden. Deshalb wird weiterhin von Theologie des Neuen Testaments gesprochen48, womit die aus den Schriften des Neuen Testaments erhebbaren theologischen Konzeptionen gemeint sind, die über die reine Anzahl der Schriften hinausgehen.

 

Der Aufbau

Werden die einzelnen ntl. Schriften als Ausdruck von anschlussfähigen Sinn- und Identitätsbildungsprozessen verstanden, dann kommt einer Theologie des Neuen Testaments die Aufgabe zu, die Konstruktion dieser Sinnwelten umfassend zu erheben und darzustellen. Ausgangspunkt muss dabei Jesus von Nazareth sein, der mit seinem Wirken und seiner Verkündigung selbst eine Sinnbildung vornahm, die vor und nach Ostern weitere Sinnbildungen hervorrief, und auf den sich alle ntl. Autoren grundlegend beziehen49. Den ersten Schwerpunkt bildet deshalb die Darstellung der Gedankenwelt Jesu; sie ist nach thematischen Fragestellungen gegliedert, die sich aus den Gewichtungen der Überlieferung ergeben. Es folgt eine primär chronologisch (und teilweise sachlich)50 angeordnete Entfaltung der Sinnwelten aller ntl. Schriften, von Paulus bis zur Offenbarung. Ziel ist es dabei, möglichst die gesamte Gedankenwelt der Autoren darzustellen. Dies soll durch Themenfelder erreicht werden, die 1) in allen Schriften zu finden sind, und die 2) die theologischen Strukturen in ihren Grundannahmen, ihrer Vielfalt und ihren gegenseitigen Vernetzungen erfassen können. Die Themenfelder sind:

1) Theologie: Welche Konsequenzen hat das Offenbarungsgeschehen in Jesus Christus für das Gottesbild? Wie ist der Gott zu denken, der in Jesus Christus seinen Willen in Kontinuität und Diskontinuität zum ersten Bund kundgetan hat?

2) Christologie: Das besondere Gottesbewusstsein des Jesus von Nazareth erforderte im Kontext seines vollmächtigen Auftretens, seiner Wundertaten und seines Geschicks in Jerusalem die Bestimmung seines Verhältnisses zu Gott, seines Wesens, seiner Funktionen und seiner Bedeutsamkeit innerhalb des mit ihm selbst einsetzenden endzeitlichen Prozesses.

3) Pneumatologie: Die neuen und nachhaltigen Geisterfahrungen der frühen Christen nötigten zu Reflexionen über die Anwesenheit und das Wirken des Göttlichen im Leben der Glaubenden.

4) Soteriologie: Von Anfang an wurde das Christusgeschehen als ein rettendes/erlösendes Ereignis verstanden; als Rettung vor dem Gericht, der Hölle/Unterwelt und dem immerwährenden Tod. Es musste im Kontext zahlreicher antiker Rettergestalten bestimmt werden, was wirklich rettet und wie sich die Rettung vollzieht.

5) Anthropologie: Damit verbindet sich die Frage nach dem Wesen und der Bestimmung des Menschen. Angesichts der Jesus-Christus-Geschichte stellte sich die Frage nach dem Menschen neu; der ‚neue Mensch‘ in Christus (2Kor 5, 17; Eph 2, 15) rückt in das Zentrum der Reflektion.

6) Ethik: Sinnbildungen sind immer mit Orientierungsleistungen verbunden, die in ethische Konzepte umgesetzt werden müssen. Nicht nur das Sein, sondern auch das Handeln hatte für die frühen Christen eine neue Gestalt gefunden. Sie standen vor der schwierigen Aufgabe, in Kontinuität zur jüdischen Ethik und im Kontext einer hoch reflektierten griechisch-römischen Ethik ein attraktives ethisches Programm zu entwickeln.

7) Ekklesiologie: Zu den prägenden Erfahrungen der Anfangszeit gehörte die neue Gemeinschaft im Glauben, die innerhalb der Ekklesiologie bedacht und in Formen/Strukturen überführt werden musste. Es galt, die Unmittelbarkeit des Geistes und die notwendigen Ordnungsstrukturen in der sich dehnenden Zeit in ein ausgewogenes Verhältnis zu setzen.

8) Eschatologie: Jede Religion/Philosophie muss als Sinnbildung einen Entwurf temporaler Ordnung entwickeln. Für die frühen Christen gilt dies in besonderer Weise, denn Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft mussten in ein neues Verhältnis gebracht werden, weil mit der Auferstehung Jesu Christi von den Toten ein vergangenheitliches Geschehen die Zukunft bestimmt und deshalb auch die Gegenwart prägt. Das frühe Christentum ließ die Eschatologie gerade nicht im Vollzug der Weltgeschichte aufgehen, sondern erarbeitete Zeitkonzepte, die – getragen vom allumfassenden Gottesgedanken – vom Ende her den Sinn entwerfen.

In einem abschließenden 9. Themenfeld (Theologiegeschichtliche Stellung) wird versucht, eine Einordnung jeder ntl. Schrift innerhalb der frühchristlichen Sinnbildungsprozesse und der Geschichte des frühen Christentums vorzunehmen, indem vor allem ihr besonderes Profil herausgestellt wird.

Die schematische Grundstruktur ergibt sich somit aus dem Befund der Schriften und der historischen Entwicklung selbst51, zudem kommt ihr gleichermaßen eine strukturierende und erschließende Funktion zu. Sie ordnet den Stoff und die Fragestellungen und gewährleistet, dass nicht nur die gängigen theologischen/christologischen Themen der einzelnen Schriften dargestellt werden (z.B. ‚Messiasgeheimnis‘ bei Markus, Gesetz/Gerechtigkeit bei Matthäus, Rechtfertigungslehre bei Paulus, Ämter bei den Pastoralbriefen), sondern die gesamte Breite und der ganze Reichtum der einzelnen Entwürfe erfasst wird. Zugleich ist dieses Raster so flexibel, dass die Schwerpunkte und Besonderheiten einzelner Schriften herausgearbeitet werden können. Auch die Erzählstruktur von Schriften, ihre besonderen theologischen Weichenstellungen, ihre Stellung im Kontext anderer Entwürfe und ihre spezifischen identitäts- und einheitsbildenden Elemente lassen sich im Rahmen dieses Schemas angemessen integrieren. Der je besondere Charakter eines ntl. Textes bleibt so gewahrt, ohne das Besondere für das Ganze zu halten und umgekehrt.

Die Argumentationen in den Schriften des Neuen Testaments sind immer eingebettet in historische, theologie- und religionsgeschichtliche, kulturelle und politische Rahmenbedingungen. Deshalb ist es notwendig, die für das Verstehen der Texte unabdingbaren Kontexte darzustellen: die grundlegenden Weichenstellungen in der Geschichte des frühen Christentums, die kulturellen und denkerischen Herausforderungen, die politischen Wendepunkte und die unausweichlichen Konflikte. Dies sollen vier mit dem Stichwort Transformation versehene Abschnitte leisten, die jeweils vor der Behandlung der betreffenden Schriftengruppen die zentralen historischen/theologiegeschichtlichen Veränderungen gegenüber der bisherigen Situation darstellen.

1 R.BULTMANN, Theologie, 1f.

2 M.KÄHLER, Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus, München 31961 (= 1892), 49.

3 R.BULTMANN, Jesus, Hamburg 41970 (= 1926), 10. Es mag verwundern, dass Bultmann dennoch ein Jesus-Buch schreiben konnte. Sein Ausgangspunkt war: Was über den historischen Jesus ermittelt werden kann, ist für den Glauben nicht von Bedeutung, denn dieser Jesus von Nazareth war ein jüdischer Prophet. Ein Prophet, der mit seinen Forderungen und Anschauungen im Rahmen des Judentums steht. Deshalb gehört die Geschichte Jesu für Bultmann in die Geschichte des Judentums, nicht des Christentums; vgl. R.BULTMANN, Das Urchristentum, München 41976 (= 1949), wo die Verkündigung Jesu unter der Rubrik ‚Das Judentum‘ verhandelt wird.

4 Dem Ansatz Bultmanns fühlen sich in besonderer Weise verpflichtet H.CONZELMANN, Theologie, 1–8; G.STRECKER, Theologie, 1–9.

5 Vgl. R.BULTMANN, Theologie, 419, in Bezug auf das Johannesevangelium: „Johannes stellt also in seinem Evangelium nur das Daß der Offenbarung dar, ohne ihr Was zu veranschaulichen.“ Faktisch vertritt Bultmann damit eine Substitutionstheorie; vgl. DERS., Das Verhältnis der urchristlichen Christusbotschaft zum historischen Jesus, in: ders., Exegetica, hg. v. E.Dinkler, Tübingen 1967, (445–469) 468: „Wenn es nun so ist, daß das Kerygma Jesus als den Christus, als das eschatologische Ereignis verkündigt, wenn es beansprucht, daß in ihm Christus präsent ist, so hat es sich an die Stelle des historischen Jesus gesetzt; es vertritt ihn.“

6 Vgl. H. BLUMENBERG, Matthäuspassion, Frankfurt 41993, 221, der in Bezug auf das Kerygma formuliert: „Die Reduktion auf dessen harten unartikulierten Kern zerstört die Möglichkeit seiner Rezeption.“

7 Diese sinnbildende Dynamik des Anfangs spricht gegen die These von J.SCHRÖTER, Die Bedeutung des Kanons für eine Theologie des Neuen Testaments, in: C.Breytenbach/J.Frey (Hg.), Aufgabe und Durchführung einer Theologie des Neuen Testaments (s.o. 2), 155, ein Entwurf des Wirkens Jesu könne nicht die Grundlage für eine ntl. Theologie bilden, da Jesus innerhalb einer Theologie des Neuen Testaments nur aus der Perspektive der Glaubenszeugnisse von Bedeutung ist, jedoch nicht unabhängig davon.

8 Die These eines solchen Bruches ist das eigentliche Fundament der Thesen BULTMANNS; vgl. DERS., Theologie, 33: „Daß das Leben Jesu ein unmessianisches war, ist bald nicht mehr verständlich gewesen – wenigstens in den Kreisen des hellenistischen Christentums, in denen die Synopt. ihre Gestaltung gefunden haben.“ Der maßgebliche Vertreter eines unmesssianischen Lebens Jesu an der Wende vom 19. zum 20.Jh. war W.WREDE (vgl. DERS., Das Messiasgeheimnis [s.u. 8.2, 227 u.ö.]), der allerdings später seine Meinung zumindest partiell revidierte. In einem Brief an Adolf v. Harnack aus dem Jahr 1905 heisst es: „Ich bin geneigter als früher zu glauben, daß Jesus selbst sich zum Messias ausersehen betrachtet hat“ (Unveröffentlichte Briefe William Wredes zur Problematisierung des messianischen Selbstverständnisses Jesu, hg. v. H.Rollmann/W.Zager, ZNThG 8 (2001), (274–322) 317.

9 Treffend F.HAHN, Theologie I, 20: „Ausgangspunkt bei der Frage nach der Zusammengehörigkeit der vorösterlichen Tradition und des nachösterlichen Kerygmas muß sein, daß mit Jesu Wirken die Gottesherrschaft bereits anbricht. Daher geht es schon in vorösterlicher Zeit um die Gegenwart des Heils und dessen endgültige Zukunft.“

10 W.WREDE, Aufgabe und Methode, 84.

11 W.WREDE, a.a.O., 153f.

12 Vgl. dazu die Besprechung der Arbeiten von Räisänen und Theißen bei A.LINDEMANN, Zur Religion des Urchristentums, ThR 67 (2002), 238–261.

13 H.RÄISÄNEN, Neutestamentliche Theologie?, 75.

14 Vgl. H.RÄISÄNEN, a.a.O., 72ff.

15 Vgl. G.THEISSEN, Die Religion der ersten Christen,17–19.

16 G.THEISSEN, a.a.O., 19.

17 So z.B. K. RUDOLPH, Art. Religionswissenschaft und Theologie, HrwG 5, Stuttgart 2001, 195, wonach die Theologie eher konfessorisch, doktrinär und apologetisch ausgerichtet ist: „Der Religionswissenschaftler hat es dagegen nur mit der Wirklichkeit einer Religion und ihren vielfältigen Tatbeständen als Ausdruck menschlicher Erfahrung in Geschichte, Gesellschaft und Kultur zu tun. Er ist nicht an der Wahrheit als solcher interessiert, sondern an der Richtigkeit seiner Erfassung bzw. Darstellung nach den Regeln kultur- bzw. geisteswissenschaftlicher Methodologie“; ähnlich H. G. KIPPENBERG/K. V. STUCKRAD, Einführung in die Religionswissenschaft, München 2003, 14f.

18 Treffend A.SCHLATTER, Atheistische Methoden in der Theologie, in: ders., Die Bibel verstehen, hg. v. W.Neuer, Gießen 2002, (131–148) 137: „Jedes Denken hat ein Wollen in sich, so daß in unserer Wissenschaft erscheint, was ‚wir wollen‘. Damit sagt natürlich keiner von uns, dass wir uns ein souveränes Setzungsvermögen, das von jeder Begründung und Rechtfertigung befreit sei, zuschreiben.“

19 R.KOSELLECK, Standortbindung und Zeitlichkeit, in: Theorie der Geschichte I, hg. von R.Koselleck/W.J. Mommsen/J.Rüsen, München 1977, (17–46) 46.

20 Vgl. dazu die Überlegungen bei J.ASSMANN, Fünf Stufen auf dem Weg zum Kanon. Tradition und Schriftkultur im alten Israel und frühen Judentum, in: ders., Religion und kulturelles Gedächtnis, München 2000, 81–100.

21 Vgl. dazu U.SCHNELLE, Einleitung in das Neue Testament, Göttingen 82013, 426–442.

22 Eine Begrenzung des Stoffquantums müsste schon aus praktischen Gründen auch von denen vorgenommen werden, die eine Aufhebung der Kanonsgrenzen fordern. Die Kriterien dafür sind nicht leicht zu finden, denn religions- und kulturwissenschaftlich ist eine Begrenzung der Literatur auf den christlichen Bereich nicht zu begründen, es müssten der gesamte jüdische und griechisch-römische Bereich ebenfalls miteinbezogen werden. Deshalb muss jeder Autor/Leser/Exeget zwangsläufig für sich selbst Grenzen des Kanons ziehen. Auch der von PH. VIELHAUER, Geschichte der urchristlichen Literatur, Berlin 1975, 1–8, strikt durchgeführten formgeschichtlichen Selektion haftet etwas Gewaltsames an!

23 Vgl. I.U. DALFERTH, Theologie im Kontext der Religionswissenschaft, 14: „Für die Theologie markiert Gott daher nicht ein Thema neben anderen, sondern den Horizont, in dem alle Phänomene des Lebens zu verstehen sind, wenn sie theologisch verstanden werden sollen.“

 

24 R.BULTMANN, Theologie, 585. Allerdings vertritt Bultmann faktisch einen ‚Kanon im Kanon‘, indem er Paulus und Johannes massiv in das Zentrum seiner Theologie rückt.

25 WA DB 7, 384,25–32.

26 Einen forschungsgeschichtlichen Überblick bis in die 70er Jahre bietet W.SCHRAGE, Die Frage nach der Mitte und dem Kanon im Kanon des Neuen Testaments, in der neueren Diskussion, in: Rechtfertigung (FS E.Käsemann), hg. v. J.Friedrich u.a., Tübingen 1976, 415–442; die neuere Diskussion referieren und dokumentieren P.BALLA, Challenges to New Testament Theology, WUNT 2.95, Tübingen 1997; F.HAHN, Theologie II, 6–22; CHR.ROWLAND/C.M. TUCKETT (Hg.), The Nature of New Testament Theology, Oxford 2006.

27 E.KÄSEMANN, Zusammenfassung, in: ders. (Hg.), Das Neue Testament als Kanon, Göttingen 1970, (399–410) 405.

28 P.STUHLMACHER, Biblische Theologie II, 320.

29 H.SCHLIER, Sinn und Aufgabe, 338f. Die Einheit erblickt Schlier bereits in den alten Glaubensformeln; sie sollte anhand der großen Themen Gott, Gottes Herrschaft, Jesus Christus, Auferstehung, Geist, Kirche, Glaube entfaltet werden.

30 Vgl. auch U.WILCKENS, Theologie I, 53, der zwischen einem historischen und systematischen Teil des Gesamtwerkes unterscheidet und zum zweiten Teil feststellt: „Dort gilt es, in der Vielfalt verschiedenen Traditionsguts und teilweise einander widersprechender theologischer Konzeptionen die übereinstimmenden Grundmotive zu finden, die der Bewegung des Christentums in seiner geradezu eruptiven Anfangszeit ihre immense Überzeugungs- und Ausbreitungskraft gegeben haben.“

31 F.HAHN, Zeugnis, 253.

32 Dieses Schweigen im Sinne einer historisch oder theologisch verifizierbaren Ankündigung/Voraussage schließt natürlich nicht ein vielgestaltiges Reden im Rückblick aus, wie wir es im Neuen Testament finden. Auch der Versuch von M. WITTE, Jesus Christus im Spiegel des Alten Testaments, in: J. Schröter (Hg.), Jesus Christus, Tübingen 2014, (13–70) 22, eine „christo-transparente“ Auslegung des Alten Testaments vorzunehmen, „und dabei exemplarisch auf strukturelle Entsprechungen, konzeptionelle und motivische Parallelen sowie traditionsgeschichtliche Verbindungen in der Rede von Gott im Alten und im Neuen Testament hinzuweisen“ (a.a.O., 21f), ist in Wahrheit eine neutestamentliche und nicht eine alttestamentliche Perspektive. Eine Biblische Theologie ist und bleibt im strikten Sinn ein neutestamentliches Phänomen, das aufzeigt, wie und in welchem Umfang ntl. Autoren das Alte Testament bei ihrer Interpretation des Christusgeschehens heranzogen.

33 Eine Übersicht zum Für und Wider einer Biblischen Theologie bieten CHR.DOHMEN/TH. SÖDING (Hg.), Eine Bibel – zwei Testamente, Paderborn 1995.

34 Hierin sehe ich das Problem der Darstellung von F.HAHN, der Vielfalt und Einheit gleich umfänglich behandelt, wodurch es zwangsläufig zu erheblichen Überschneidungen und Wiederholungen unter veränderten Vorzeichen kommt; vgl. z.B. zum Thema ‚Gesetz bei Paulus‘ DERS., Theologie I, 232–242; Theologie II, 348–355. F. J. MATERA, New Testament Theology, 478f, stellt die vier großen Überlieferungsströme des Neuen Testaments (Synoptiker/Paulus/Johannes/weitere Stimmen) unter die Leitfrage ‚humanity in need of salvation’, um dann unter dem Oberbegriff ‚the bringer of salvation‘ die Frage nach der Einheit zu beantworten: „Three elements account for the diverse unity of New Testament theology: (1) an experience of salvation in Jesus Christ, (2) an underlying narrative that recounts the story of salvation, and (3) the diverse starting points that the New Testament writers employ to express the salvation God has effected in Christ. The first two elements account for the unity of New Testament theology, the last for the diverse ways in which the New Testament writers communicate their understanding of what God has accomplished in Christ.“

35 Anders F.HAHN, Theologie II, 2: „Die Darstellung der Vielfalt im Sinn einer Theologiegeschichte des Urchristentums ist ein notwendiges und unerläßliches Teilstück, ist für sich genommen jedoch nur ein Fragment. Erst in der Verbindung mit dem Bemühen, die verschiedenen theologischen Entwürfe des Urchristentums aufeinander zu beziehen und nach deren Einheit zu fragen, kann von einer ‚Theologie des Neuen Testaments‘ im strengen und eigentlichen Sinn gesprochen werden.“ Hahn nimmt mit dem Begriff der Einheit eine Abstraktion vor, die sich in den Texten so nicht findet und behauptet zugleich, damit den einzig möglichen Weg zu einer Theologie des Neuen Testaments im Singular beschreiten zu können.

36 Zum Werden des Kanons vgl. TH. ZAHN, Geschichte des Neutestamentlichen Kanons I.II, Leipzig/Erlangen 1888.1892; J.LEIPOLDT, Geschichte des neutestamentlichen Kanons I.II, Leipzig 1907.1908; H. V. CAMPENHAUSEN, Die Entstehung der christlichen Bibel, BHTh 39, Tübingen 1968; B.M. METZGER, Der Kanon des Neuen Testaments, Düsseldorf 1993.

37 TH. LUCKMANN, Kanon und Konversion, in: A./J.Assmann (Hg.), Kanon und Zensur, München 1987, (38–46) 38.

38 Bei den Paulusbriefen ist dies offenkundig, wie z.B. 1Thess 2, 13; 2Kor 10, 10; Gal 1, 8f und die Deuteropaulinen zeigen. Aber auch die Evangelien (vgl. Mk 1, 1; Mt 1, 1–17; Lk 1, 1–4; Joh 1, 1–18), die Apostelgeschichte, die Johannesapokalypse und alle großen Briefe legitimieren sich durch ihren Inhalt und Anspruch; anders J.SCHRÖTER, Die Bedeutung des Kanons für eine Theologie des Neuen Testaments, in: C.Breytenbach/J.Frey (Hg.), Aufgabe und Durchführung einer Theologie des Neuen Testaments (s.o. 2), (135–158) 137f, der strikt zwischen dem historischen und kanonischen Status unterscheidet und den letzteren für entscheidend hält.

39 Völlig anders J.SCHRÖTER, a.a.O., 154: „Die historische und theologische Bedeutung des Kanons ist vielmehr erst dann zur Geltung gebracht, wenn der Kanon als theologiegeschichtliches Dokument gewürdigt und die in ihm befindlichen Schriften auf dieser Grundlage in ihrem kanonischen Zusammenhang ausgelegt werden.“

40 Diese Einsicht ist fundamental, denn: „Das Entscheidende ist nicht, aus dem Zirkel heraus-, sondern in ihn nach der rechten Weise hineinzukommen“ (M.HEIDEGGER, Sein und Zeit, Tübingen 141977, 153).

41 Vgl. dazu H. WELZER, Das soziale Gedächtnis, in: ders. (Hg.), Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung, Hamburg 2001, 9–21.

42 Vgl. K.-H.KOHLE, Ethnizität und Tradition aus ethnologischer Sicht, in: A.Assmann/H.Friese (Hg.), Identitäten (s.o. 1.2), 269–287.

43 Dies wird auch in der Begrifflichkeit deutlich: Bultmann spricht von der ‚Verkündigung‘ Jesu, dem ‚Kerygma‘ der Urgemeinde und der hellenistischen Gemeinde, von ‚Theologie‘ aber nur bei Paulus und Johannes!

44 R. BULTMANN, Theologie, 358.

45 F. HAHN, Theologie II, 27.

46 Überblicke vermitteln: M. BOCKMÜHL, Art. Offenbarung IV: Neues Testament, RGG4 6, Tübingen 2003, 470–473; F. HAHN, Theologie II, 148–151; M. KARRER, Art. Offenbarung, Theologisches Begriffslexikon, Wuppertal 2005, 1409–1439.

47 F. HAHN, Theologie II, 109: „Die Offenbarungsgeschichte Gottes in Jesus Christus beruht auf einer weit zurückreichenden Erwählungs- und Verheißungsgeschichte.“

48 Faktisch war der Terminus Theologie des Neuen Testaments schon immer ein Sammelbegriff, unter dem sehr verschiedenartige Entwürfe subsumiert wurden. Zwei bereits erwähnte Beispiele, die sich leicht vermehren ließen: R.Bultmann bietet eine Kombination von Theologiegeschichte und Theologie, indem er thematische Überblicke voranstellt (Das Kerygma der Urgemeinde/Das Kerygma der hellenistischen Gemeinde vor und neben Paulus), um sich dann zwei Autoren/Schriftengruppen zuzuwenden (Paulus und Johannes), die gewissermaßen die Theologie des Neuen Testaments repräsentieren. Schließlich wird wiederum überblicksmäßig die Entwicklung zur Alten Kirche dargestellt. F.Hahn unterscheidet unter dem Obertitel ‚Theologie des Neuen Testaments‘ zwischen einer Theologiegeschichte des Urchristentums (Band I: Die Vielfalt des Neuen Testaments) und einer thematischen Darstellung (Bd. II: Die Einheit des Neuen Testaments), wobei im 1. Band Autoren/Schriftengruppen im Vordergrund stehen, im 2. Band Themen, die jedoch vornehmlich anhand prominenter Autoren/Schriften entfaltet werden.