Staat und Staatlichkeit in der europäischen Moderne

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Thomas Mergel

Staat und Staatlichkeit in der europäischen Moderne

Vandenhoeck & Ruprecht

Dr. Thomas Mergel ist Professor für Europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2022 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe

(Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA;

Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland;

Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich)

Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei,

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Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: Titelblatt von Thomas Hobbes’ Leviathan. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Leviathan_by_Thomas_Hobbes.jpg

Korrektorat: Dore Wilken, Freiburg

Umschlaggestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Satz: SchwabScantechnik, Göttingen

EPUB-Produktion: Lumina Datametics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

UTB-Band-Nr. 5829

ISBN 978-3-8463-5829-0

Inhalt

Einführung

1.Staat als Problem der Moderne

2.Was bedeutet „Staat“?

3.Der Staat als europäisches und okzidentales Phänomen

4.Moderne Staatlichkeit und moderne Gesellschaft

5.Der Staat der Historiker: Bemerkungen zur Forschungsgeschichte

6.Zu diesem Buch

1.Antike Staatlichkeit und Entstaatlichung im Mittelalter

1.1Die griechische Polis

1.2Das römische Imperium

1.3Entstaatlichung im Mittelalter

1.4Anfänge des modernen Staats im Spätmittelalter

2.Krieg und Staatsbildung in der Frühen Neuzeit

2.1Die Bellizität der Epoche

2.2Kriegführung und frühe Staatlichkeit

2.3Krieg, Staatsbildung und europäische Expansion

2.4Zonen verdichteter Bellizität

a.Der Dreißigjährige Krieg (1618–1648)

b.Die Bürgerkriege in Großbritannien (1642–1689)

c.Die „Türkenkriege“

2.5Die Geburt der modernen Staatstheorie aus dem Geist des Kriegs

3.„Absolutismus“ und Staatsbildung

3.1Der Begriff und sein Problem

3.2Die absolute Monarchie und ihre Grenzen unter besonderer Berücksichtigung Ludwigs XIV.

3.3Die aufgeklärte Kritik am Absolutismus und der Aufgeklärte Absolutismus

4.Moderne Revolutionen als Staatsbildungsprozesse

4.1Krieg – Schulden – Revolution

4.2Revolution und Staatsgründung: Die USA

4.3Revolution und Utopie: Frankreich

4.4Export der Revolution als Export von Staatlichkeit: Napoleon

4.5Außereuropäische Wirkungen: Lateinamerika

4.6Kontinuitäten und Brüche im „Zeitalter der Revolution“

5.Staatlichkeit zwischen Nation und Imperium

5.1Nationalismus und Nationalstaat

5.2Europäische Empires

5.3Kolonialreiche und kolonialer Staat

6.Staat nach innen, Staat nach außen. Internationale Beziehungen und Innere Staatsbildung

6.1Diplomatie und Staatensystem

6.2Momente der Inneren Staatsbildung

a.Verfassung und Recht

b.Verwaltung

c.Steuern und Schulden

d.Polizei

e.Militär und Wehrpflicht

f.Staat und Kirche

g.Bildung

h.Beobachtung der Gesellschaft

i.Wohlfahrt

6.3Top-down oder Bottom-up?

7.Staat und politische Partizipation

7.1Staatsformen und politische Partizipation

7.2Parlamente: Partizipation als Repräsentation

7.3Wählen

7.4Soziale Bewegungen: außerinstitutionelle politische Partizipation

8.Staat, Volk und Krieg im 20. Jahrhundert: Erster Weltkrieg, Bolschewismus und Nationalsozialismus

8.1Wandlungen des Staates im und durch den Ersten Weltkrieg

8.2Staat als Klassenherrschaft: der Bolschewismus

 

8.3Staat als Ausdruck der Volksgemeinschaft im Nationalsozialismus

8.4Fließende Übergänge

9.Die Steuerung der Gesellschaft im Interventionsstaat

9.1Krieg, Sozialismus, Krisenpolitik

9.2Der Staat als steuernder Akteur

9.3Der Wohlfahrtsstaat

9.4Staatliches Wissen über die Bürger

9.5Kritik und Krisen

10.Supranationale Staatlichkeit als neues Modell? Das Beispiel der europäischen Integration

10.1Vorgeschichten der europäischen Einigung

10.2Ausgangsmotive: Deutschland kontrollieren, Kalter Krieg, wirtschaftliche Zusammenarbeit

10.3Dynamik der Intensivierung

10.4Dynamik der Erweiterung

10.5Grenzen der Verstaatlichung Europas

10.6Nach Hobbes?

11.Staatlichkeit in der Krise?

11.1Grenzen der Steuerbarkeit

11.2Die Debatte um die Failed States

11.3Konkurrenz für den Staat: Transnationale Organisationen

11.4„Governance“

11.5Wiederaufstieg des Staats?

Abschließende Überlegungen

Literaturhinweise

Einführung
1. Staat als Problem der Moderne

Es geht im Folgenden um ein Phänomen, das alle immer und überall irgendwie betrifft, aber trotzdem – oder vielleicht deshalb – schwer benennbar ist. „Staat“ ist einer der Begriffe, die so alltäglich sind, dass man sie für naturgegeben zu halten geneigt ist: der römische Staat, der Staat der Maya, der Staat im Mittelalter. „Der Staat“ erscheint fast wie ein Individuum und manchmal benimmt er sich auch wie ein Mensch: Der Staat muss reagieren, er nimmt Steuern ein, er bedenkt bestimmte Gruppen (und meist ist „Vater Staat“ auch ein Mann – es geht eben um Herr-schaft1). Diese Anthropologisierung verweist nicht nur darauf, dass uns der Staat im Alltag sehr nah ist, sondern auch auf die Suggestion, er sei etwas Überzeitliches. Nun sind Historiker aber daran gewöhnt, dass die Dinge niemals so bleiben, wie sie sind, und dass alle Phänomene, die wir vor uns haben, historisch sind, sprich: dass sie irgendwann entstanden sind und deshalb auch irgendwann wieder enden werden. Unsere Wirtschafts- und Lebensformen sind historisch; das Verhältnis der Geschlechter ist wandelbar; sogar das Verhältnis zum eigenen Körper, Gefühle und Empfindungen haben eine Geschichte, wenn wir diese auch nicht leicht historisieren können.

Das ist beim Staat nicht anders. Auch er ist ein historisches Phänomen, das einen Anfang und vermutlich auch irgendwann ein Ende hat. Mit „Staat“ ist demgemäß nicht jede Art von politischer Herrschaft gemeint, sondern eine spezifische, zur Institution geronnene Ausprägung. Dieser Staat, so der Ausgangspunkt dieses Buches, ist eine Erscheinung der Moderne. Mit „Moderne“ ist dabei (sehr grob) die Epoche gemeint, die sich etwa in den letzten 500 Jahren entwickelte, die sich mit den atlantischen Revolutionen des späten 18. und den industriellen Revolutionen des 19. Jahrhunderts voll ausbildete (und seit ein paar Jahrzehnten womöglich an ein Ende kommt).2 Der Begriff bezieht sich, wie die Diskussionen der letzten Jahre heraus gestellt haben, vor allem auf den Westen, so dass man eigentlich von „westlicher Moderne“ sprechen müsste. Hier wurden viele politische, ökonomische, soziale Formen entwickelt, die – friedlich oder gewaltsam – über die Welt verbreitet wurden und dort passfähig waren oder nicht, die aber ihre Überwältigungskraft auch von der Suggestion ableiteten, als „moderne“ Institutionen seien sie „fortschrittlich“ und insofern besser als das Bisherige. Wenn wir von „modern“ sprechen, sprechen wir also zunächst nicht ohne Weiteres von der ganzen Welt, sondern von einer bestimmten Weltgegend und bestimmten Institutionen, die allerdings anderswo aufgenommen (oder aufgezwungen) wurden und die sich dort veränderten. Und wir sprechen von einer bestimmten Sicht auf die Welt und auf die eigene Gesellschaft. „Moderne“ ist auch eine Selbstbeschreibung, sich immer selbst als jeweils neu zu betrachten, der Vergangenheit und der Tradition den Status des „Vorbei“ zuzuweisen, sich ganz einer Gegenwart und einer Zukunft verpflichtet zu sehen.

Dass dieser moderne Westen von vielen, und zwar nicht nur von den „Modernen“ selbst, als vorbildhaft, als positive oder negative Folie gesehen wurde, ändert gleichwohl nichts daran, dass man sich vernünftigerweise, wenn man von „Moderne“ spricht, zunächst auf die Regionen bezieht, die sich selbst als „modern“ in diesem Sinne begriffen. Das waren Europa, sodann die transatlantischen, vor allem die nordamerikanischen Regionen, die sich seit der Frühen Neuzeit als eng mit Europa verbunden begriffen. Diese Zusammengehörigkeit war auch von den Zeitgenossen so empfunden worden, insbesondere im Zusammenhang mit der Amerikanischen Revolution, die als ein Fanal und Vorbild für das nun plötzlich „zurückgebliebene“ Europa erschien. Europäische politische Philosophen haben besonders dann intensiv nach den USA geschaut, wenn es um die Begründung und das Verstehen politischer Reformen, des Neuen generell ging.3

Die Form von politischer Herrschaft, die sich seither in diesen Regionen, ausgehend von Europa, entwickelte, unterscheidet sich in seiner gesamten Erscheinung – also nicht in einzelnen Momenten – ganz grundsätzlich von den Formen, die es davor und anderswo gab. Erst in der Moderne entstanden politische Gebilde, die, das ist zentral, auf Dauer gestellt waren, unabhängig davon, welche Person gerade herrschte; Gebilde, die ein klares, umgrenztes großes Territorium umfassten und hier für alle Bürger in gleichem Maße relevant zu sein beanspruchten, weniger romantisch ausgedrückt: die über alle gleichermaßen Herrschaft ausüben konnten. Gebilde, die in der Lage waren, die Ressourcen dieser Gesellschaften in solchem Umfang zu mobilisieren, dass sie lange Massenkriege führen konnten; die ihre Untertanen (die man zunehmend „Staatsbürger“ nannte) so weit disziplinieren konnten, dass diese dem Staat zum Zwecke der öffentlichen Sicherheit das Recht zur legitimen Gewaltausübung zuerkannten (jedenfalls im Prinzip), die Steuern zahlten (wenn auch viele dabei betrogen); die alle zur Schule gingen (jedenfalls die meisten) oder Wehrdienst ableisteten (zumindest die diensttauglichen jungen Männer); Menschen, die sich im Rahmen eines Rechts bewegten, das der Staat gesetzt hatte (wenn sie auch vielleicht der Meinung waren, dass „Gerechtigkeit“ auf einem ganz anderen Blatt stand als „Recht“).

Erst der Staat der Moderne konnte ökonomische Ressourcen entwickeln und steuern (ob in der liberalen, der sozialen Marktwirtschaft oder im Sozialismus), die so viel abwarfen, dass der Staat für diejenigen sorgte, die nicht selbst für sich sorgen konnten, dass er sich für die allgemeine Daseinsvorsorge zuständig erklärte und sich deshalb „Sozial-“ oder „Wohlfahrtsstaat“ nannte. Und erst im Staat der Moderne entwickelte sich auf großer Fläche eine Form der politischen Partizipation, die – historisch unerhört – im Prinzip allen (erwachsenen) Menschen Mitsprache bei der Steuerung des Gemeinwesens zuerkannte. Und das gilt nicht nur für westliche Demokratien oder sozialistische Konzepte, sondern auch für Diktaturen, die sich seit dem 19. Jahrhundert auf einen (wie auch immer unterstellten) Volkswillen berufen mussten, um Legitimität zu erlangen. Und auch die Monarchen waren mit der konstitutionellen Monarchie nicht mehr die absoluten Herrscher, die sie einmal waren. Selbst sie mussten zumindest reklamieren, für einen Volkswillen einzustehen und unter der Herrschaft einer Verfassung zu stehen.

Mit der Berufung auf einen Gesamtwillen fiel aber auch die Möglichkeit weg, den Staat in irgendeiner Weise religiös zu legitimieren. Die Trennung von kirchlicher und weltlicher Macht, die sich seit dem Hochmittelalter konfliktreich entwickelte, führte mit dem 19. Jahrhundert zu einem säkularisierten Staat. Der moderne Staat ist, in den apokryphen Worten des Kirchenrechtlers Rudolf Sohm, „ein geborener Heide“.4 (Jedenfalls gilt das im Prinzip und wurde unterschiedlich weitgehend umgesetzt). Er beschnitt die religiösen Gemeinschaften in ihrem Einfluss auf das Leben der Menschen empfindlich und übernahm Bereiche wie die Schule oder die Dokumentationsleistungen für den Personenstand (Geburtsurkunde, Eheschließung usw.), die vorher weithin in kirchlicher Hand waren, in seine eigene Regie. Andererseits konnte und wollte der Staat (jedenfalls im Prinzip) den Menschen nicht mehr vorschreiben, an was sie zu glauben hatten: Die Glaubensfreiheit gehört unabdingbar zum modernen Staat; und sie war eine wichtige Wurzel der Gedanken-, also der Meinungsfreiheit.

Erst der Staat der Moderne war aber auch ökonomisch und militärisch in der Lage, systematisch andere Teile der Welt zu erkunden, zu erobern, Jahrzehnte oder Jahrhunderte unter Kontrolle zu halten und dabei so zu durchdringen, dass diese auch nach seinem Muster organisiert wurden. Der von Europa ausgehende neuzeitliche Kolonialismus war nur aus der Staatsbildung heraus denkbar; er hat sich immer auch als Zivilisierungsmission begriffen, und die Übertragung und Entwicklung der Staatlichkeit in den kolonisierten Regionen war für diese Mission zentral. Auch in Afrika, in Polynesien oder in Südamerika sollten nach dem Willen der Kolonialherren Staaten entstehen und wurde Staatlichkeit entwickelt (wenngleich mit unterschiedlichem Erfolg und anderen Folgewirkungen).

Insofern ist der moderne Staat in seinen Formen und Strukturen ein Phänomen und ein Merkmal der Moderne. Dieses Ausgangspostulat wurde und wird nicht überall geteilt, und gerade in Deutschland, wo der Begriff des Staates eine besondere Schätzung genoss, gab es seit dem 19. Jahrhundert die geradezu kanonische Auffassung, dass der Staat der Neuzeit nur ein besonderer Fall des Umstands sei, dass alle entwickelten Gesellschaften Staaten hervorgebracht hätten.5 Manche Althistoriker operieren selbstverständlich auch für das alte Israel, das Perserreich oder die Kelten mit dem Staatsbegriff.6 Auch für das Mittelalter werden in neuerer Zeit Fragen der Staatlichkeit diskutiert.7 Die west- und südeuropäische Forschung benutzt in diesem Zusammenhang „estado“ oder „stato“ weitaus ungezwungener als die deutsche den Begriff „Staat“. Auch aus der politischen Anthropologie kommen Vorstellungen, „Staat“ als eine Herrschaftsform zu sehen, die die Bildung menschlicher Gemeinschaften seit sehr früher Zeit begleitet hat.8 Und die Globalgeschichte operiert für die großen asiatischen Reiche wie China oder Japan auch für die Zeit der (westlichen) Vormoderne oftmals recht zwanglos mit dem Staatsbegriff.9

In der Tat gibt es gute Gründe, all diesen politischen Ordnungen Momente von Staatlichkeit zu attestieren. Aber es ist eben etwas anderes, den Staatsbegriff in seinem vollen Bedeutungsumfang zu verwenden. Mit „Staatlichkeit“ ist das Bündel an Funktionen gemeint, das, treten sie zusammen auf, einen Staat ausmachen kann, die aber auch für sich oder schwächer ausgeprägt auftreten können. Dazu gehört etwa der Anstaltscharakter, dass also politische Herrschaft nicht mehr von einer Führungsperson abhängig ist; dazu gehören eine Finanzierung durch kontinuierliche Steuern, eine zentral gesteuerte Militärmacht, Gesetze mit Anspruch auf umfassende Geltung, eine Administration, die Aufgaben erfüllen und nicht nur Pfründner versorgen soll. Dazu gehört aber auch eine Einheitlichkeit der Herrschaft, die sich darin äußert, dass man nur diesem (einen) Staat verpflichtet oder unterworfen ist. Generell führt es nicht weit, in allen Gesellschaften mit Herrschaftsstrukturen einen Staat zu vermuten, denn dann kann man die Besonderheit dessen, was neu ist am modernen Staat, nicht mehr erkennen. Aber man kann diese Vor- und Außer-Geschichten nicht unterschlagen, wenn man verstehen will, was so neu und einzigartig am modernen Staat ist.

 

2. Was bedeutet „Staat“?

Dass wir es mit einem neuen Phänomen zu tun haben, erhellt auch aus der Selbstbezeichnung der modernen politischen Ordnungen. Denn erst in der Frühen Neuzeit hat sich der Begriff so herausgebildet, wie wir ihn kennen. Die Begriffsgeschichte kann dieser Selbstbeschreibung nachspüren.10 „Staat“ kommt aus dem Lateinischen „status“ (= „Zustand“, „Stand“) und wird in der Formulierung „status rei publicae“ (= der Zustand des Gemeinwesens) zu einem Begriff, der eine politische Verfasstheit beschreibt. Im Mittelalter und der Frühen Neuzeit meinte vor allem im außerdeutschen Sprachgebrauch „status“ auch ein Landgut, eine Besitzung (das englische Wort für Immobilien „real estate“ verweist darauf). Status war (wie die französische Fassung „état“) zunächst eine Bezeichnung für die mittelalterlichen Stände, die landgebunden waren und über Land verfügten: Ein König, den man John Lackland nannte (= Johann Ohneland 1166–1216: ein bösartiger Spottname. Eigentlich hieß der Mann Plantagenet), war deshalb kein legitimer König. Erst im 17. Jahrhundert bürgerte es sich in Deutschland ein, den Begriff Staat (oftmals auch noch „Stat“ ohne die deklinatorische Nachsilbe „us“ geschrieben) auch für die civitas oder die res publica, also für politische Gemeinschaften zu benutzen. Ein Beispiel sind die niederländischen „Generalstaaten“, d. h. die „Generalstände“, also eine Art Reichstag dieses Gebiets, das sich im 16. Jahrhundert vom Reich losgelöst hatte. Auch heute noch heißt das Parlament der Niederlande „Staten-Generaal“.

Das neue Modell politischer Herrschaft wurde also von neuen Begriffsbildungen begleitet – neue Semantiken verweisen darauf, dass die Welt sich mit den alten Worten nicht mehr adäquat beschreiben lässt. Das gilt schwerpunktmäßig für den deutschen und den romanischen Sprachraum. Für das Heilige Römische Reich hat Robert von Friedeburg argumentiert, dass sich mit „Staat“ schon früh eine institutionelle Vorstellung verband, die auch den Fürsten binden sollte und die mehr bedeutete als nur Sicherheit und Ordnung, sondern auch die „Gute Policey“ einschloss, also die Fürsorge für die Bürger und die aktive Sorge für eine gute Gesellschaft.11 Diese umfassende Bedeutung, die nach Friedeburg ein Lerneffekt aus den Katastrophenerfahrungen des Dreißigjährigen Krieges ist, findet sich im englischen Sprachraum nicht; hier hat der Begriff „state“ lange nicht die Prominenz gewonnen, die „Staat“, „état“ oder „estado“ hat.12 Ein möglicher Grund ist, dass sich in England das, was wir „Absolutismus“ nennen, nicht durchsetzen konnte, und man kann die (mehr oder weniger) absolute personale Herrschaft des Monarchen als ein Übergangsphänomen zur „absoluten Herrschaft“ des überpersönlichen Staates verstehen. Im Englischen wird man viel häufiger den Begriff „government“ finden, der viel breiter verstanden wird als im Deutschen „Regierung“, wenngleich im 20. Jahrhundert (und das heißt: mit der Ausweitung des Kriegs- und des Wohlfahrtsstaates) „state“ auch im englischen Sprachgebrauch gerade der Sozialwissenschaften wieder mehr in den Vordergrund gerückt ist, weil der Staat als autonomer Spieler in gesellschaftlichen Machtbeziehungen wieder ernster genommen werden soll.13 In der politischen Theorie war der Begriff aber anscheinend immer viel mehr im Gebrauch als in der praktischen Politik und im öffentlichen Diskurs.14 Die gewissermaßen metaphysische Bedeutung, die man vor allem in Deutschland dem Staat gab, fand sich sprachlich im Englischen nicht. Die andere Staatlichkeit der angelsächsischen Länder (auf die ich noch eingehen werde) drückt sich in einer anderen Semantik aus.

Natürlich lässt sich sofort einwenden: Die obige Beschreibung stimmt mit der Realität nur selten und niemals voll überein. Dem mag man nicht widersprechen. Die vielen einschränkenden Klammern, die hinter den obigen Aussagen stehen, deuten darauf. Dieses Modell des modernen Staates ist das, was Max Weber einen Idealtypus nennt: kein „Ideal“, sondern ein Konstrukt, das die einzelnen Merkmale im Dienste einer begrifflichen Reinheit steigert, um einen theoretischen Begriff davon zu gewinnen.15 Ein Idealtypus entwirft eine theoretische Vorstellung, um damit Erkenntnis über die Realität zu erhalten, und dies ist ein Verfahren, das wir auch im Alltag anwenden, um die Welt zu verstehen. Das geschieht in unserem Fall auf zweierlei Weise:

(1.) Einen Staat, der alle diese Merkmale voll ausgeprägt aufweist, gibt es selbstverständlich nicht; aber wir können die Frage, wie nahe dieser oder jener Staat dem Idealtypus des modernen Staates kommt, wie sehr er also „Staat“ in diesem Sinne ist, an einem solchen Idealtypus messen, können sozusagen die Abweichung in der Realität konstatieren. Solches passiert nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in der Politik: Wenn ein Staat nicht in der Lage ist, genügend Steuern einzutreiben, um seine Funktionen zu gewährleisten, oder wenn er die gesetzliche Ordnung nicht aufrechterhalten kann, dann attestieren wir ihm eine mangelhafte Staatlichkeit, und im Extremfall nennt man ihn einen „failed state“: Er kann seine Aufgaben nicht erfüllen. Insofern haben wir alle einen Idealtypus im Kopf, wenn wir „Staat“ sagen. Der seit den 1990er Jahren zunehmend beliebtere Begriff der Staatlichkeit meint, dass man unterschiedliche Erscheinungsformen und Intensitäten dieser Durchdringung der Gesellschaft mit Herrschaft empirisch beobachten kann. Besonders in der aktuellen Debatte um die Krise des Staates florieren solche Skalierungen.16 Sie zielen auf eine Relativierung des metaphysischen Begriffs von Staat, der die Diskussion über Jahrhunderte bestimmt hat.

(2.) Man kann aber einen solchen Idealtypus nicht nur von seinen verschiedenen Formen der Realisierung abgrenzen, sondern auch von anderen idealtypisch konstruierten Phänomenen: So können wir nicht nur beschreiben, was „Staat“ im Unterschied zu „Gesellschaft“ oder „Kirche“ ausmacht; sondern wir können auch in der begrifflichen Erfassung des Staates selbst feinere Unterscheidungen treffen; also etwa den Territorialstaat der Frühen Neuzeit (der Wert auf seine territoriale „Arrondierung“ legte) idealtypisch beschreiben und unterscheiden von Begriffen wie „Rechtsstaat“ (der nicht notwendig demokratisch sein musste, sich aber auf ein neutrales Recht stützte), wir können den (polemisch gemeinten, aber dennoch idealtypisch konstruierten) Begriff des liberalen Nachtwächterstaates des 19. Jahrhunderts vom Interventions- oder vom Wohlfahrtsstaat des 20. Jahrhunderts abgrenzen, der die Daseinsvorsorge für die ihm zugehörigen Menschen als eine wichtige Aufgabe erkennt. All diese Begriffe sind Idealtypen, die uns erlauben, bestimmte Merkmale besonders zu betonen und zu beachten.

Idealtypen haben mithin eine doppelte Funktion: Erstens erlauben sie, die Abweichung der festgestellten Realität von der „Idee“ festzustellen, und damit sozusagen die Schwankungsbreite der empirischen Wirklichkeit (und damit am Ende auch die Tauglichkeit des Idealtypus) zu bestimmen: Stimmt es denn, dass der Staat ein geborener Heide ist, wenn er gleichzeitig Kirchensteuer erhebt? Und zweitens erlauben sie eine Strukturierung der sozialen (also auch der historischen) Wirklichkeit, weil sie uns trennscharfe Begriffe zu entwickeln ermöglichen. Damit können wir jenseits aller realen Verwischungen und Vermischungen die verschiedenen Phänomene für unsere Erkenntniszwecke unterscheiden.

Um 1900 hat die deutsche Staatslehre versucht, diesen Begriff des Staates idealtypisch zu bestimmen. Sie hat dabei drei Merkmale betont, die heute noch anerkannt sind:17

(1.) Ein Staat muss über ein Territorium verfügen: ein Staatsgebiet. Ohne Land kein Staat. Dieses Territorium muss so klar abgegrenzt sein, dass man eindeutig sagen kann: Dieses Stück Land gehört zum einen, jenes zum anderen Staat. Im Mittelalter gehörten zum Land im Allgemeinen die Personen, die darauf waren („Land und Leute“); aber mittelalterliche Herrschaften waren territoriale Flickenteppiche. Der moderne Staat hat danach gestrebt, dass auf seinem Gebiet nur sein Recht gilt; und er hat versucht, dieses sein Territorium zu „arrondieren“, also so zusammenzulegen, dass man sich von einem zum anderen Ende bewegen konnte, ohne Landesgrenzen zu überschreiten. Territorium ist Machtausdruck, und neues Territorium zu erobern und dem eigenen einzugliedern, bedeutet Machtzuwachs.

(2.) Ein Staat braucht ein Volk, ein Staatsvolk. Es muss klar sein, wer dazugehört und wer nicht. Dass damit ethnische oder nationale Kriterien verbunden sind („Deutsche“, „Franzosen“), ist nicht notwendig, sondern das Kennzeichen eines spezifischen Typs von modernem Staat, des Nationalstaats. Aus der Zugehörigkeit zum Staatsvolk erwächst einerseits die Figur des Staatsangehörigen (der zu seinem Staat in einem rechtlichen Verhältnis steht, das ihm auch Schutz garantiert – etwa wenn er im Ausland ist) und später die des über lange Zeit selbstverständlich männlich gedachten Staatsbürgers, der über alle politischen Rechte verfügt. Nur Staatsangehörige können zum Militär eines Landes eingezogen werden; nur Staatsangehörige sind wahlberechtigt. Das ist ja nicht selbstverständlich, denn auch diejenigen, die nicht dem Staat angehören, sind von dessen Regeln betroffen, wenn sie auf seinem Gebiet leben, zahlen z. B. Steuern. Andererseits wird damit sehr viel klarer zwischen denen unterschieden, die dazugehören, und denen, die nicht dazugehören: den nicht vollberechtigten Einwohnern, den Ausländern, den Fremden, den Bürgern eines anderen Staates. Diese Grenze scharf zu ziehen und zu begründen, hat sich immer als schwierig erwiesen. Ein Beispiel ist die Diskussion um die doppelte Staatsbürgerschaft: Muss man dann doppelt Wehrdienst leisten und darf man in zwei Ländern wählen?

(3.) Kein Staat ohne Staatsgewalt. Das ist der schwierigste Begriff, denn er ist mehrdeutig. Zunächst meint er das Monopol des Staates auf legitime Gewaltausübung nach innen, und dieses erwächst aus seiner hoheitlichen Macht über Staatsgebiet und Staatsvolk. Damit sind aber nicht nur Polizei und Gefängnis gemeint, sondern auch Recht und Gesetzgebung, hoheitliche Akte und Urkunden. Seit Thomas Hobbes – also seit dem Englischen Bürgerkrieg der 1640er Jahre – wurde die Staatsgewalt als Folge einer freiwilligen Überlassung interpretiert: Die Menschen treten das ihnen eigene, naturrechtlich gegebene Recht auf Gewalt, das den Krieg aller gegen alle implizierte, an den Staat ab, der ihnen dafür Sicherheit und inneren Frieden liefert. Die Gewalt, über die der Staat verfügt, dient also der Pazifizierung der Gesellschaft. Polizei, Rechtswesen, aber auch Verkehrsregeln reduzieren die Wahrscheinlichkeit und das Ausmaß gewalttätiger Auseinandersetzungen zwischen den Bürgern. Für Max Weber war dieses Monopol der legitimen Gewaltausübung im Grunde das einzige Kriterium, das einen Staat definieren konnte, und alles andere folgte für ihn daraus. „Wenn nur soziale Gebilde bestünden, denen die Gewaltsamkeit als Mittel unbekannt wäre, dann würde der Begriff ‚Staat‘ fortgefallen sein, dann wäre eingetreten, was man in diesem besonderen Sinne des Wortes als ‚Anarchie‘ bezeichnen würde.“18 Nun hat aber die (vor allem linke) politische Theorie seit dem 19. Jahrhundert herausgearbeitet, dass die legitime Staatsgewalt auch dazu führen kann (vielleicht sogar führen muss), dass der solchermaßen ermächtigte Staat ganz erhebliche Gewalt gegen seine eigenen Bürger ausübt, dass er sie drangsaliert und terrorisiert und dass Widerstand gegen diese Staatsgewalt selbst zu einem kriminellen Delikt wird.

Auch die Geschichtswissenschaft, vor allem die Frühneuzeitforschung, hat darauf hingewiesen, dass die Staatsgewalt nach innen der Gewaltsamkeit des Staates nach außen korrespondiert. Das Verhältnis ist indes umstritten. Haben die Kriege der Frühen Neuzeit dazu geführt, dass sich gewissermaßen unintendiert Staaten herausbildeten, oder wurden staatliche Strukturen entwickelt zu dem Zweck, Krieg zu führen?19 Damit ist die beunruhigende Frage gestellt, ob der Krieg gewissermaßen Staatszweck sei, umgekehrt: Sind Staaten zum Frieden auf Dauer überhaupt fähig? Die Gewalt, die der europäische Kolonialismus am Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte, erst recht die Massenkriege des 20. Jahrhunderts beruhten schließlich auf einer historisch unbekannten Zuspitzung von staatlicher Macht.