Staat und Staatlichkeit in der europäischen Moderne

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1.4 Anfänge des modernen Staats im Spätmittelalter

In ganz Europa bildeten sich im Späten Mittelalter Dynamiken von Staatlichkeit heraus, immer in Konkurrenz und in gegenseitiger Beobachtung, durchaus nicht in gleicher Richtung.19 Für unsere Zwecke liegt es näher, die Gemeinsamkeiten zu betonen. England war ein Pionier, ebenso auch Sizilien, und in mancher Hinsicht auch der Kirchenstaat. Seit dem Späten Mittelalter wurden viele dieser Institutionen auch in anderen Ländern entwickelt. Die wichtigsten Entwicklungen seien hier nur summarisch genannt.

(1.) Die Verwaltung des Landes geschah herkömmlicherweise am Fürstenhof, wo Familienmitglieder und zu Rate gezogene Vasallen, Freunde und Kleriker die Aufgaben erledigten. Mit der Zeit reichte das aber nicht mehr aus. Um der Verwaltung der Länder Herr zu werden, aber auch, um juristische und finanzielle Verhältnisse auf Dauer berechenbar zu machen, differenzierten sich zentrale Behörden aus, die unabhängig vom Fürstenhof die Verwaltung übernahmen. Damit formte sich die Schriftlichkeit als maßgebliches Regierungsmedium aus; davor hatte dafür der Klerus zur Verfügung gestanden, nun wurde immer mehr eigenes Personal dafür herangezogen. Um 1380 hatte die königliche Kanzlei in London bereits über hundert Mitarbeiter! Diese mussten für die Aufgaben qualifiziert sein, so dass sich eine soziale Gruppe von Fürstendienern entwickelte, Schreiber und Juristen, die nicht selbstverständlich aus dem Adel genommen wurden, sondern häufig anderen sozialen Gruppen entstammten, für deren Arbeit aber spezifische Kompetenzen vonnöten waren. Das ist ein zentraler Grund, warum die entstehenden Staaten so sehr daran interessiert waren, Universitäten zu gründen. Der Fiktion nach standen diese Leute dem Fürsten mit ihrem Rat zur Seite, weshalb nicht nur sie sich selbst „Räte“ (Geheime, Regierungs-, Staats-Räte) nannten, sondern auch in einem Kollegium, dem Rat (Council, Conseil, Consejo) zusammensaßen, und zwar – das war wichtig – gleichberechtigt: Hier wurde nicht nach Rang, sondern nach Sachlage diskutiert. Das Kollegialprinzip lässt sich für diese frühen Regierungsinstitutionen überall nachweisen.20

(2.) Wenn auch der Fürst überall als der Hüter (nicht der Herr!) des Rechts erschien und seine Rechtsprechung eine primäre Herrschaftsaufgabe war, dauerte die Verstaatlichung des Rechts, die in England frühzeitig vor sich gegangen war, auf dem Kontinent länger und bildete sich auch bis in die Späte Neuzeit nicht vollständig aus.21 Regionale Gewohnheitsrechte, die ihre Legitimität vor allem aus der Tradition bezogen, ließen sich bis ins 19. Jahrhundert nicht verdrängen. Ihren Beginn hat die rechtsförmige Vereinheitlichung aber im Spätmittelalter. Eine wichtige Rolle bei der Verbreitung in die politischen Verbände hinein spielte die Kirche, denn sie hatte früh ein einheitliches Recht entwickelt, das dem rechtsförmigen Verfahren einen hohen Wert beimaß. Eine Juristenzunft bildete sich in den Rechtsschulen (etwa in Paris, in Oxford oder in Bologna) aus, die ihrerseits mit einer aktiven Lobbypolitik ihren Einfluss vergrößerte. Zunehmende Verwaltungsaufgaben und die Professionalisierung der Juristen verstärkten sich gegenseitig. Zentrale Rechtsinstitutionen entstanden; in England übten sie einen prägenden Einfluss auch auf untere Rechtsebenen aus und schufen so einheitliche Rechtsverständnisse mit. Im Reich gelang dieser Prozess nicht. Das Reichskammergericht und der Reichshofrat konnten das Recht nicht zentralisieren, weil die Landesherren sich das Recht nicht aus der Hand nehmen lassen wollten; vor allem das Reichskammergericht galt auch nicht eben als effektiv. Doch mit der Existenz solcher Institutionen wurde das rechtliche Argument die zentrale Ebene, auf der Konflikte vor allem zwischen Einzelstaaten verhandelt werden sollten. Damit trat die Gewalt innerhalb des Reiches in den Hintergrund – bevor man in den Krieg zog, klagte man lieber.

(3.) Auch wenn die Frühe Neuzeit als eine besonders kriegerische Phase der Staatsbildung gelten muss (s. dazu Kap. 2): In unterschiedlichem Ausmaß sind auch im Späten Mittelalter Wellen der Friedlosigkeit über die europäischen Gesellschaften hinweggegangen. In Frankreich war das der Hundertjährige Krieg (1337– 1453), in dem es (grob gesagt) um die Ansprüche Englands auf West- und Südwestfrankreich ging (der englische König war bekanntlich ursprünglich ein Vasall des Königs von Frankreich gewesen). In England waren es die konfliktreichen Auseinandersetzungen zwischen Krone und Adel im 13. Jahrhundert, im Deutschen Reich die Zeiten des Interregnums (1250–1273), als beinahe ein Vierteljahrhundert lang keine königliche Oberhoheit bestand und die alltägliche Gewalt – man erinnere sich: Jeder freie Mann konnte sein Recht selbst gewaltsam in die Hand nehmen! – eine ubiquitäre Erfahrung war. Diese Erfahrung führte nicht nur zu ersten zaghaften Ansätzen bei der Einführung eines stehenden Heeres anstatt der sonst üblichen Söldner, den berittenen Ordonnanz-Kompanien in Frankreich (1445). Die Kriegserfahrung bedingte auch, dass die Friedenswahrung zu einem besonders hohen Ziel der zentralen Macht wurde. In dieser Zeit gewann vor allem im Reich die Landfriedensbewegung an Kraft, die erstrebte, dass Machtträger auf ihr Fehderecht, also die Anwendung ihrer legitimen Gewalt zur Durchsetzung von Ansprüchen verzichteten und sich stattdessen mit Methoden des Rechts begnügten; dass sie also Momente ihrer eigenen Souveränität zugunsten von Rechtsverfahren aufgaben. In Frankreich war die Bewegung schon im späten 11. Jahrhundert entstanden. Es entstanden regionale Landfriedensbündnisse und – allerdings kurzlebige, immer nur temporäre – reichsweite Landfrieden. Erst 1495 wurde von König Maximilian ein „Ewiger Landfriede“ verkündet, der das individuelle Fehderecht verbot (mit der Begründung, dass der Krieg gegen das Osmanische Reich Priorität vor den Streitereien in der Familie habe): Erst seit diesem Datum gibt es die Fiktion (mehr war es vorerst nicht), dass im Inneren Friede der Normalfall sei, und nicht Fehde/Krieg/Gewalt. Das Bedürfnis nach Frieden im Inneren und die Verrechtlichung der politischen Beziehungen standen miteinander in Zusammenhang.

(4.) Auch das Steuersystem der modernen Staatlichkeit hatte seine Ursprünge im Krieg, und das hatte Auswirkungen auf die politische Partizipation. In Frankreich führte das ewige teure Kriegführen zur Einführung von regelmäßigen Steuern. Wie auch in England hatte diese Kontinuität der Steuerzahlung die naheliegende Konsequenz, dass die Steuerzahler mitreden wollten, so dass Repräsentantenversammlungen der Stände einberufen wurden, um über die Steuerhöhe regelmäßig zu bestimmen: Das war die Urform der modernen Parlamente. Mit dem Späten Mittelalter finden wir überall Ständeversammlungen vor, in denen Vertreter der rechtlich verfassten Korporationen, aus denen die mittelalterliche Ordnung bestand (der Stände), ein Mitspracherecht bei den Landesangelegenheiten beanspruchten. Die Versammlungen vertraten also nicht Individuen und auch nicht ein Staatsvolk, sondern Gruppen. Zu ihren Aufgaben gehörte die Entscheidung über die Erhebung und Verwendung der Steuern (und also mittelbar über Krieg und Frieden), immer mehr aber auch allgemeine Rechtsangelegenheiten. Die Ständeversammlungen (z. B. das englische Parlament oder der Reichstag im Heiligen Römischen Reich) wurden bei Bedarf oder auch periodisch für eine gewisse Zeit zusammengerufen, besaßen also nicht das Recht der Selbstversammlung und tagten nicht in Permanenz.

(5.) Komplementär dazu entwickelte sich ein neues Verständnis von den Aufgaben der Politik: die Förderung des Gemeinwohls als deren höchste Aufgabe.22 Vor allem von humanistischen Theoretikern wurde das „bonum commune“ zum Zweck der Politik erhoben und damit den politischen Führungen eine neue Erwartung an ihr Handeln mitgegeben. Daraus entwickelte sich in der Frühen Neuzeit die Konzeption der „Guten Policey“, die die Untertanen nicht nur disziplinierte, sondern sich auch um sie sorgte, die diese Untertanen aber auch erziehen und den Staat in ihr Herz pflanzen wollte. Die Spannung zwischen gewalttätigem und benevolentem Staat, die sich durch die Neuzeit ziehen sollte, war hiermit angelegt.

(6.) Schließlich ist noch eine Entwicklung zu nennen, die nicht auf den ersten Blick „staatlich“ genannt werden kann: der Aufschwung der Städte, die, ausgehend von Italien, vom intensivierten Handel und Gewerbe profitierten.23 Die Städte wurden zu den Kristallisationspunkten des entstehenden Kapitalismus, es entstand ein wohlhabendes Handels- und Finanzbürgertum mit weitgespannten wirtschaftlichen Kontakten. In Italien, wo eine zentrale Staatlichkeit wegen der Macht des Papstes bis ins 19. Jahrhundert gehindert war, führte dies zur Ausbildung von mächtigen Stadtrepubliken: Venedig, Florenz, Genua, Mailand. Auch in Frankreich oder Deutschland waren die Städte selbstbewusst und schlossen sich verschiedentlich zu Städtebünden – z. B. der Hanse oder dem Schwäbischen Städtebund – zusammen, entwickelten aber keine Staatlichkeit. Die Städte und ihre wohlhabenden Bürger waren die wichtigsten Finanzquellen für die Monarchen, die für die Kriegsführung Geld brauchten. Geldhäuser wie die Fugger oder die Welser in Augsburg und Nürnberg erfüllten diese Funktion; kapitalistische Bürger waren sehr viel finanzkräftiger als die Monarchen, der Kapitalismus ein Geburtshelfer des modernen Staates. In den Städten gab es aber auch die Rechtsfigur des (Stadt-)Bürgers, die Zugehörigkeit und Mitsprache – etwa im Stadtrat – als rechtliches Privileg verbürgte (und der sich meist nur eine Minderheit der Stadtbewohner erfreute). Diese Stadtbürgerschaft wurde zu einer Protoform der späteren Staatsbürgerschaft. Die okzidentale Stadt – und nur sie – verstand sich, so Max Weber, als eine Genossenschaft und war insofern ein Gegenbild zum Untertanenverband, als der die monarchische Herrschaft erschien.24 Maßgebliche Anregungen für die Demokratisierung des politischen Gemeinwesens sind vom Ideal der genossenschaftlich organisierten, sich nach eigenem Recht verwaltenden Stadt ausgegangen.

 

Ebenso wenig wie man sich die Ausbildung von Staatlichkeit als eine rationale, gar geplante Angelegenheit vorstellen darf, darf man sie nicht allzu sehr als einen institutionellen Prozess verstehen. Im Gegenteil: Staatsbildung in der Frühen Neuzeit war eine höchst personale Angelegenheit, beruhte auf persönlichen Netzwerken. „Freundschaft“ und „Familie“ standen als Metaphern für informelle Solidaritäts- und Loyalitätsbeziehungen, die Machtknäuel bildeten und namentlich Zentrum und Peripherie zusammenhielten. Patronage und Klientelwesen, das, was man landläufig und abwertend „Korruption“ nennt, waren eingeführte und funktionierende Mechanismen, um Herrschaft auszuüben und unterschiedliche Interessen aufeinander abzustimmen. Staatsbildung verlief also eher durch Interaktions- als durch Institutionengeflechte. Der Aufbau frühneuzeitlicher Staatlichkeit ist ohne diese Instrumente nicht zu denken.25

Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation spielte im Prozess der Staatsbildung eine Sonderrolle.26 Im Unterschied zu den anderen Ländern Europas gelang es hier nicht, die Monarchie als Zentralgewalt zu etablieren. Dafür gab es viele Gründe; ein wichtiger lag in der oben schon angesprochenen anderen Entwicklung des Lehensrechts. Der Kaiser konnte sich deshalb nicht auf zentrale Machtmittel stützen, sondern war auf die Entwicklung einer Hausmacht angewiesen, und damit wurde er selbst ebenfalls zum Territorialfürsten, der den Ausbau seiner eigenen Landesherrschaft im Auge haben musste. Die Habsburger haben im Lauf ihrer jahrhundertelangen Inhaberschaft der Kaiserwürde eine territoriale Herrschaft aufgebaut, die aus Deutschland hinauswies und ihren Schwerpunkt in Südosteuropa hatte.

Sodann: Faktisch schon seit dem Ende des 12. Jahrhunderts, verrechtlicht mit der Goldenen Bulle (1356), wurde das Reich endgültig zu einer Wahlmonarchie, und auch wenn über Jahrhunderte ein Habsburger gewählt wurde: Eine Wahl bedeutete immer Zugeständnisse an die Kurfürsten, die sich ihre Stimmen teuer bezahlen ließen. Auch dieses „demokratische“ Element trug zur Zentralitätsschwäche und zur Abhängigkeit von den großen Territorialfürsten bei. Dass ein Teil der Kurfürsten geistliche Herrscher und somit die kirchlichen Interessen gleichzeitig staatliche Interessen waren, stellte die Religion als ein originär politisches Problem im Reich auf Dauer. Nach dem Ende des Dreißigjährigen Kriegs stützte sich die Macht des Kaisers vorrangig auf die kleinen, die „mindermächtigen“ Herrschaften, die sich durch seinen Schutz dagegen versicherten, von ihren größeren Nachbarn geschluckt zu werden. Eine heterogene Vielgestaltigkeit von Herrschaftsrechten wurde so konserviert, eine einheitliche Untertanenschaft ließ sich nicht schaffen.

Es gab dabei durchaus immer wieder Initiativen, Kompetenzen beim Kaiser zu konzentrieren, die als Bemühen um eine Zentralisierung der staatlichen Macht verstanden werden können. Peter Moraw hat den Prozess „gestaltete Verdichtung“ genannt: keine Staatsbildung im Sinne einer Zentralisierung, aber eine Konzentration von Institutionen und Kommunikation um den Kaiser und den Hof herum.27 Der Wormser Reichstag von 1495 entwickelte ein Reformpaket, an dem Maximilian I. und die Reichsstände aus sehr unterschiedlichen Motiven heraus Interesse hatten. Dieser Reichstag war als solcher schon eine Neuheit, weil erstmals ein Gremium aus den Mächtigen des Reichs einen Beratungsort fand, der für sich die Institutionalisierung des Reichs anzeigte und dauerhaft Stabilität gewann. Mit der Zeit sollte er sich, periodisch zusammengerufen, zu einem wichtigen Kommunikationsmedium entwickeln, erst recht, seit er (seit 1663) „immerwährend“ als Gesandtenversammlung in Regensburg tagte und so eine kontinuierliche Institution wurde, die weniger der Entscheidung und dem Machen von Gesetzen als vielmehr der inneren Kohäsion im Reich diente – und einer Relativierung der kurfürstlichen Macht, denn diese waren bis dato die einzigen, die sich aus eigenem Recht versammeln konnten.28 Ein Ewiger Landfriede war die zentralste Regelung des Wormser Reichstags: ein bisher ungekanntes, zeitlich unbefristetes Fehdeverbot, das einen Schritt zur Etablierung eines staatlichen Gewaltmonopols darstellte; dessen andere Seite war die Einrichtung von Rechtsinstitutionen, um Konflikte zu behandeln, hierin vor allem das Reichskammergericht, das als letzte Instanz für die Rechtsprechung fungieren sollte. Diese letzte Instanz war allerdings bisher der Kaiser selbst gewesen, so dass Fehdeverbot und Verrechtlichung in Hinsicht auf die Entwicklung von Staatlichkeit ambivalent blieben. Als Reaktion darauf hat Maximilian dann auch seinen Reichshofrat in Wien, der ebenfalls eine rechtliche Letztinstanz war, mit neuen Kompetenzen ausgestattet. Eine historisch wegweisende Rolle hätte der Gemeine Pfennig spielen können: der erste, zunächst auf vier Jahre begrenzte Versuch einer zentralstaatlichen Steuererhebung von allen Einwohnerinnen (!) und Einwohnern des Reiches über 15 Jahren anstatt der von den Reichsständen zu leistenden jährlichen Abgaben. Wäre dieses Konzept umgesetzt worden, hätte die zentrale Herrschaft eine stabile und kontinuierliche Finanzierung zur Hand gehabt und wäre nicht mehr auf die Fürsten angewiesen gewesen. Und deshalb scheiterte der Gemeine Pfennig auch: Die Landesherrn wollten eine solche Steuer nicht, die ihre Macht beschränkt hätte.

Trotz solcher Bemühungen, die es auch in den folgenden Jahrhunderten immer wieder gab (auch der Dreißigjährige Krieg war ein Versuch, mit kriegerischen Mitteln die Zentralmacht zu stärken): Die weitere Entwicklung der Staatlichkeit im Reich vollzog sich auf der Ebene der Territorialstaaten. Hier, in Bayern, Sachsen oder Brandenburg-Preußen, wurde eine durchsetzungsfähige zentrale Herrschaft etabliert, die sich auf Bürokratie, Militär, Justiz und Steuererhebung stützen konnte. In England, Frankreich und Spanien hat sich ein zentraler Staat sehr viel konsequenter durchgesetzt; nicht zuletzt daran lag es, dass hier frühzeitig ein nationales Bewusstsein entstand. Andererseits war das Reich, anders als die europäischen Rivalen, nur zu Verteidigungskriegen, nicht zur Expansion fähig, so dass Eroberungskriege ausblieben (was man von seinen Einzelstaaten und gerade Preußen nun nicht sagen kann). Dass die Deutschen sich so sehr Gedanken um den Staat machten, hat mithin auch den Grund, dass die deutsche Staatlichkeit eben anders – und, wie viele es sahen: defizitärer – gebaut war als die anderer Staaten. Aus dieser territorialstaatlichen Dynamik rührt auch die starke Betonung des Föderalismus in Deutschland. Die eigenartige Koordinationsstruktur, die ständiges Verhandeln und Ausgleich notwendig machte – und hieraus konnte der Kaiser durchaus Machtmittel schöpfen –, ist verschiedentlich mit der Europäischen Union von heute verglichen worden, und zwar meist mit dem Zweck einer Ehrenrettung für das Alte Reich.29 Und auch wenn dieser Vergleich hinkt (es gibt in der EU schließlich keinen Kaiser): Es ist eine interessante Parallele, wenn man nicht zentralstaatliche Machtlosigkeit, sondern die Verhandlungsstrukturen im Kopf hat und nicht den starken Staat, sondern die Kompromisskultur politischer Verbände betont.

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1Christian Meier, Athen. Ein Neubeginn der Weltgeschichte, München 1995, 703. Vgl. zur Antike Walter, Der Begriff des Staates in der griechischen und römischen Geschichte. Auch mit Blick auf die Wahrnehmungstraditionen in der Moderne: Leppin, Das Erbe der Antike, bes. 40–82 (Griechenland), 112–182 (Rom). Eine sehr differenzierte Zusammenschau, die sich wenig um solche begrifflichen Abgrenzungen schert, aber auch über das Perserreich, die Kelten oder die Germanenreiche der Völkerwanderung spricht: Demandt, Antike Staatsformen.

2Christoph Lundgreen, Staatsdiskurse in Rom? Staatlichkeit als analytische Kategorie für die römische Republik, in: ders., Staatlichkeit in Rom?, 13–60.

3Zu den Charakteristika und den Besonderheiten der athenischen Demokratie: Hansen, Die Athenische Demokratie, v. a. 65–86.

4Zu dieser durchaus umstrittenen Frage ebd., 49–51.

5Gawantka, Die sogenannte Polis.

6Walter, Der Begriff des Staates in der griechischen und römischen Geschichte, 26.

7Vgl. Henning Ottmann, Geschichte des politischen Denkens Bd. 1, 2: Die Griechen. Von Platon zum Hellenismus, Stuttgart 2001.

8Zum Folgenden die knappe Erläuterung bei Demandt, Antike Staatsformen, 394–404. Zur aktuellen Diskussion: Lundgreen, Staatlichkeit. Hiernach auch im Weiteren.

9Karl-Joachim Hölkeskamp, Concordia contionalis. Die rhetorische Konstruktion von Konsens in der römischen Republik, in: Egon Flaig unter Mitarbeit von Elisabeth Müller-Luckner (Hg.), Genesis und Dynamiken der Mehrheitsentscheidung, München 2013, 101–128.

10Martin Jehne, Das Volk als Institution und diskursive Bezugsgröße in der römischen Republik, in: Lundgreen, Staatlichkeit, 117–137.

11Wilfried Nippel, „Aufruhr“ und „Polizei“ in der römischen Republik, Stuttgart 1988.

12Vgl. Pohl/Wieser, Der frühmittelalterliche Staat; Stefan Esders, „Staatlichkeit“, Governance und Recht im (westlichen) Mittelalter, in: Schuppert (Hg.), Von Staat zu Staatlichkeit, 77–100.

13Hierzu nun, in einer globalen Perspektive: Meier, Völkerwanderung.

14Roman Deutinger, Staatlichkeit im Reich der Ottonen – ein Versuch, in: Pohl/Wieser, Der frühmittelalterliche Staat, 133–144.

15Dendorfer, Lehenswesen.

16Vgl. Pohl, Personenverbandstaat.

17Hierzu als kurze Einführung mit Quellen: Spieß, Lehnswesen in Deutschland.

18Vgl. Justine Firnhaber-Baker, Seigneurial Violence in Medieval Europe, in: Matthew S. Gordon u. a. (Hg.), The Cambridge World History of Violence, Bd. 2, Cambridge 2020, 248–266.

19Zu den Staatsbildungsprozessen im Spätmittelalter: Watts, The Making of Polities. Vgl. auch die methodisch stark politikwissenschaftlich modellierende, die unterschiedlichen Entwicklungspfade betonende Arbeit von Ertman, Birth of the Leviathan.

20Reinhard, Staatsgewalt, 171–179.

21Watts, The Making of Polities, 207–219; Reinhard, Staatsgewalt, 281–306.

22Watts, The Making of Polities, 384–386.

23Tilly/Blockmans, Cities and the Rise of States.

24Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 741–757.

25In Zusammenfassung einer langen Forschungsdiskussion: Birgit Emich u. a., Stand und Perspektiven der Patronageforschung. Zugleich eine Antwort auf Heiko Droste, in: Zeitschrift für Historische Forschung 32 (2005), 233–265. Blockmans u. a., Empowering Interactions.

26Zum Folgenden konzise: Stollberg-Rilinger, Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation; Gotthard, Das Alte Reich 1495–1806 (v. a. Kap. 1).

27Moraw, Von offener Verfassung.

28Susanne Friedrich, Drehscheibe Regensburg. Das Informations- und Kommunikationssystem des Immerwährenden Reichstags um 1700, Berlin 2007.

29So etwa Ralph Bollmann, Heiliges Römisches Europa. Staatenbund oder Bundesstaat, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 11. Dezember 2012.