Der letzte Prozess

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Der letzte Prozess
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Thomas Breuer

Der letzte Prozess

Kriminalroman


Zum Autor

Thomas Breuer, geboren 1962 in Hamm/Westf., hat in Münster Germanistik und Sozialwissenschaften studiert und arbeitet seit 1993 als Lehrer für Deutsch, Sozialwissenschaften und Zeitgeschichte an einem privaten Gymnasium im Kreis Paderborn. Seit 1994 lebt er mit seiner Frau Susanne, seinen Kindern Patrick und Sina, Streifenhörnchen Fridolin und Katze Lisa im ostwestfälischen Büren. Er liebt die Fotografie, die Nordseeinseln und den Darß. Seine zweite Heimat ist Föhr, wo er regelmäßig im Auftrag seiner Hauptfigur Henning Leander neue Kriminalfälle recherchiert, in denen dieser dann ermitteln darf. Mit »Leander und der tiefe Frieden« legte er 2012 seinen Debüt-Roman im Leda-Verlag vor, 2013 folgte »Leander und die Stille der Koje«, 2014 »Leander und die alten Meister«, 2015 »Leander und der Lummensprung« sowie 2016 »Leander und der lange Schatten«. 2018 erschien der Kriminalroman »Der letzte Prozess«.Weitere Projekte sind in Arbeit und in Planung. www.Breuer-Krimi.de

Impressum

Dies ist ein Roman. Die Handlung ist frei erfunden. Abgesehen von einzelnen historischen Personen sind die Figuren fiktiv. Ähnlichkeiten oder gar Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2020

(Originalausgabe erschienen im Leda-Verlag 2018)

Umschlaggestaltung: Katrin Lahmer

unter Verwendung eines Fotos von: © Kreismuseum Wewelsburg

ISBN 978-3-8392-6520-8

Marschliedchen

Ihr und die Dummheit zieht in Viererreihen

In die Kasernen der Vergangenheit

Glaubt nicht, dass wir uns wundern, wenn ihr schreit

Denn was ihr denkt und tut, das ist zum Schreien

Ihr kommt daher und lasst die Seele kochen

Die Seele kocht und die Vernunft erfriert

Ihr liebt das Leben erst, wenn ihr marschiert

Weil dann gesungen wird und nicht gesprochen

Marschiert vor Prinzen, die erschüttert weinen:

Ihr findet doch nur als Parade statt!

Es heißt ja: Was man nicht im Kopfe hat,

Hat man gerechterweise in den Beinen

Ihr liebt den Hass und wollt die Welt dran messen

Ihr werft dem Tier im Menschen Futter hin

Damit es wächst, das Tier tief in euch drin!

Das Tier im Menschen soll den Menschen fressen

Ihr möchtet auf den Trümmern Rüben bauen

Und Kirchen und Kasernen wie noch nie

Ihr sehnt euch heim zur alten Dynastie

Und möchtet Fideikommißbrot kauen

Ihr wollt die Uhrenzeiger rückwärts drehen

Und glaubt, das ändere der Zeiten Lauf

Dreht an der Uhr! Die Zeit hält niemand auf!

Nur eure Uhr wird nicht mehr richtig gehen

Zitat

Wie ihr’s euch träumt, wird Deutschland nie erwachen

Denn ihr seid dumm und seid nicht auserwählt

Die Zeit wird kommen, da man sich erzählt:

Mit diesen Leuten war kein Staat zu machen!

Erich Kästner 1932

»Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem dies kroch!«

(Bertolt Brecht: »Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui«, 1941)

1

»Schöne Schweinerei«, stellte Kriminalkommissarin Gina Gladow lapidar fest.

Sie stand vor der Burgmauer in Wewelsburg direkt gegenüber dem Kreismuseum neben Kriminalhauptkommissar Schröder und dem Rechtsmediziner Hermann-Josef Stukenberg und ließ das Szenario auf sich wirken.

»Grießpudding mit Himbeersoße«, sagte Stukenberg und grinste, als Schröder zu würgen begann.

»Ist es das, von dem ich glaube, dass es das ist?« Gina Gladow­ hoffte inständig, dass Schröder ihr nicht auf die hohen Lederstiefel oder, schlimmer noch, auf die Leiche kotzte, und beugte sich etwas vor, als müsse sie die Bescherung aus nächster Nähe unter die Lupe nehmen.

Der Gerichtsmediziner nickte. »Gehirnmasse und Blut.« Er deutete auf einen Felsbrocken, der nur dreißig Zentimeter entfernt auf dem Pflaster lag und deutliche schwarzrote Flecken aufwies. »Der Klöpper da hat ihm die Schädeldecke zermatscht.«

Das war zu viel für Schröder. Er drehte sich um und hastete laut würgend in Richtung der Rasenfläche vor der gegenüber liegenden Kirche davon.

Kopfschüttelnd blickte Stukenberg ihm nach. »Dein Kollege hat wohl heute einen schwachen Magen.«

Gina Gladow antwortete nicht und trat noch etwas näher an die Matsche heran, die von den Kriminaltechnikern unter dem Felsbrocken freigelegt worden war. Unglaublich, dass das Geschlabber einmal ein menschliches Gehirn gewesen war. Der Geruch war nicht eindeutig zu identifizieren: Das Metallische des Blutes war bestimmend, aber auch eine süßliche Note und ein etwas fauliger Unterton waberten in der Luft. Die Masse hatte eine stückige Konsistenz, die nicht nur von den zahllosen Knochensplittern ausging, und ein Farbdurch­einander von käsigen Gelb- und glänzenden Rottönen. An den Rändern war das Blut braunschwarz verkrustet.

Wie nicht dazugehörig lag ein dürrer Männerkörper in einem zerrissenen, blutdurchtränkten Hemd ausgestreckt daneben. Das Opfer musste sehr alt sein, das erkannte Gina Gladow nicht nur an den spärlichen Resten grauer Haare in der Gehirn-Blut-Matsche, sondern auch an der dürren Gestalt, die wie hingegossen auf dem Kopfsteinpflaster lag, und an der geradezu durchsichtigen faltigen Pergamenthaut.

Ein Kriminaltechniker machte Fotos mit seiner Digital­kamera aus allen Positionen um den Toten herum und überprüfte die Ergebnisse auf dem Display. Er nickte zufrieden und entfernte sich dann wortlos zu seinem Einsatzfahrzeug.

»Schon gesehen?«, fragte Hermann-Josef Stukenberg. Der Gerichtsmediziner deutete auf die völlig zermalmten Hände des Toten.

Gina Gladow hockte sich so dicht wie möglich neben die Leiche und sezierte die zermalmten Knöchelchen mit den Augen. Da war wirklich kein Glied mehr an dem anderen und kein Gelenk in funktionstüchtigem Zustand. »Auch von dem Steinklotz?«, erkundigte sie sich über die Schulter hinweg.

»Nee, sieht eher danach aus, als habe sich jemand mit seinem Stiefel ausgetobt.« Der Gerichtsmediziner hockte sich neben sie und deutete auf etwas neben der Leiche. »Hier im Blut ist ein Teilabdruck der Sohle zu erkennen. Treckingschuh oder Bergstiefel, schätze ich. Vielleicht auch ein Bundeswehrstiefel. Dürfte ein Leichtes gewesen sein, die morschen Knochen damit zu zermalmen.«

»Übertötung?«

»Eher Folter.«

Gina Gladow nickte. So etwas hatte sie sich schon gedacht, als sie die Striemen unter dem zerfetzten Hemd des alten Mannes gesehen hatte. »Passt zu der Neunschwänzigen Katze, mit der sich der Täter offenbar vergnügt hat«, stellte sie fest. »Daran, dass hier der Tatort ist, besteht ja wohl kein Zweifel, oder?«

»Ja und nein.« Stukenberg richtete sich aus der gebückten Haltung auf und deutete mit dem Kopf an der Mauer entlang. »Was man so Tatort nennt. Zumindest den Todesstoß hat er hier bekommen. Allerdings gibt es Blutspuren bis da hinten am Berghang und dann auch noch den ganzen Pfad runter zum Fluss. Irgendwie erinnert mich das an den Kreuzweg.« Er lachte trocken auf. »Komm mal mit.«

Gina Gladow folgte ihm an der Mauer entlang bis zu einer Bank, die für Wanderer direkt am Berghang aufgestellt worden war und einen weiten Ausblick über das Almetal mit seinen Flussschlingen, einer Bruchsteinbrücke und einem alten Bruchsteinhaus direkt am Wasserlauf bot. Diese Idylle stand in einem krassen Gegensatz zu dem Blut und der Tat, die hier oben verübt worden war.

Stukenberg deutete auf eine angetrocknete Lache direkt neben der Bank. »Der alte Mann hat den Waldweg den ganzen Berg herauf bis hierher vollgetropft. Dann hat er offenbar längere Zeit hier gelegen oder gehockt und viel Blut verloren. Die Spur führt weiter an der Mauer entlang bis zum Platz vor dem Wachgebäude. Irgendwie muss er es auf allen vieren dorthin geschafft haben.«

»Und dort wurde er dann ermordet«, schloss Gina Gladow.

»So sieht’s aus.«

Die junge Kriminalkommissarin blickte den Waldweg entlang, auf dem Kriminaltechniker gerade die Spuren sicherten. »Und du meinst tatsächlich, dass der alte Knacker sich mit den Verletzungen den ganzen Berg hochgeschleppt hat?« Ihr Kopfschütteln machte deutlich, dass sie das für unmöglich hielt.

»Komm, ich zeige es dir.« Stukenberg deutete mit dem Kopf den Hang hinab und machte sich auch schon auf den Weg.

Gina blickte zu Schröder zurück und überlegte, ob sie ihm Bescheid geben sollte. Der Kriminalhauptkommissar lehnte vornübergebeugt an ihrem Dienstfahrzeug und hatte offenbar Mühe, sich nicht die Seele aus dem Leib zu kotzen. Der war momentan zu nichts zu gebrauchen. Kurzentschlossen wandte sie sich um und folgte dem Gerichtsmediziner den Hang hinunter.

 

Es ging in Serpentinen über einen rutschigen Waldweg, der vor Nässe glänzte und streckenweise sogar von einer Eisschicht überzogen war. An einer Stelle mussten sie über einen kleinen Bach springen, der den Weg kreuzte. Gina rutschte mit ihren Lederstiefeln fast aus, als sie am Rand auf der Eiskruste landete. Stukenberg grinste hämisch, hielt sich aber mit einer Bemerkung zurück, die die Aufmachung der Kriminalbeamtin betroffen hätte.

»Der alte Mann ist auf dem Weg hinauf immer wieder gestürzt«, erklärte er stattdessen. »Und immer da, wo er ausgerutscht ist, findet sich auch ein deutlicher Einschlag.« Er deutete auf eine Stelle, an der sich irgendetwas scharfkantig in den Untergrund eingedrückt hatte.

»Heißt das etwa, er hat den Felsbrocken, mit dem er erschlagen wurde, selber hier hochgeschleppt?« Ginas Stimme verriet, dass sie das für unvorstellbar hielt.

»Das müssen wir noch abgleichen. Wahrscheinlich war der Täter hinter ihm und hat ihn mit der Peitsche angetrieben. Deshalb die vielen Striemen und das zerfetzte Hemd.«

Nach mehreren Kehren traten sie unten auf eine schmale Straße, die den Berghang entlang und über eine Brücke hin­aus in die Almeauen führte.

»Von hier könnte der Felsbrocken stammen.« Stukenberg zeigte auf locker verteilte Steine überall im Unterholz.

»Was ist denn das da drüben?« Gina deutete über den Fluss hinweg auf das Natursteingebäude mit seinen Nebengelassen, das sie schon von oben gesehen hatte.

»Die alte Mühle«, antwortete der Gerichtsmediziner. »Da war bis vor Kurzem ein Ausflugslokal drin. Sehr romantisch, direkt am Fluss mit großer Terrasse. Als die Betreiber aus Altersgründen nicht mehr weitermachen wollten, gab es keine Nachfolger. Heute ist sie unbewohnt.«

Gina nickte. »Seht euch da auch mal um«, sagte sie.

Stukenberg nickte wortlos. Dann machten sie sich wieder an den Aufstieg.

Als sie bei der Leiche oben vor der Burgmauer ankamen, sah Gina sich noch einmal den blutigen Felsbrocken an, den die Techniker inzwischen in eine Kunststoffkiste gehoben hatten. Auch die Peitschenstriemen betrachtete sie tief hin­unter­gebeugt mit auf dem Rücken verschränkten Armen.

»Sado-Maso scheidet in dem Alter wohl aus«, versuchte sie sich in einem unbeschwerten Tonfall, aber sie merkte selbst, dass der misslang. Der Anblick des blutigen Steinklotzes und des jämmerlichen Restes dessen, was einmal ein Mensch gewesen war, machte es selbst ihr schwer, eine professionelle Distanz zu halten.

Ein Kriminaltechniker trat zu ihnen und fragte: »Sind Sie fertig, Doc? Können wir den Leichnam wegschaffen?«

Der Gerichtsmediziner nickte. Der Kriminaltechniker wollte sich schon wieder entfernen, als Gina fragte: »Hatte der Tote irgendwelche Papiere bei sich?«

»Wir haben keine gefunden.«

Stukenberg stupste sie an den Oberarm und deutete mit dem Kopf zu ihrem Dienstfahrzeug. Ihr Vorgesetzter, Kriminalhauptkommissar Schröder, lehnte immer noch mit bleichem Gesicht am Wagen, hatte aber inzwischen eine Zigarette zwischen den Lippen und versuchte, irgendwohin zu sehen, nur nicht herüber zu den Spuren des nächtlichen Gemetzels. »Und das Weichei soll der Nachfolger von Schulte werden?«, fragte er verächtlich.

»Zumindest ist das zu befürchten«, antwortete die Kommissarin. »Beworben hat er sich auf den Posten. Aber vielleicht passiert ja noch ein Wunder.«

Sie nickte Stukenberg kurz zu und schlenderte zu Schröder hinüber. »Geht’s wieder?«, fragte sie in einem Tonfall, der selbst ihr zu wenig Mitgefühl und zu viel Häme ausdrückte.

Aber Schröder war offenbar so angeschlagen, dass er kein Gehör für unangemessene Zwischentöne hatte. Er nickte nur schwach und antwortete wenig überzeugend: »War wohl etwas viel gestern Abend. Mein Ältester ist achtzehn geworden, da haben wir gefeiert.«

Gina ging nicht weiter darauf ein. »Keine Papiere. Hoffen wir mal, dass eine Vermisstenmeldung vorliegt, sonst wird es schwer, die Identität festzustellen. Ein Foto sollten wir jedenfalls besser nicht veröffentlichen. – Wer hat den Toten eigentlich gefunden?«

Schröder zog seinen Notizblock aus der Tasche und schlug ihn auf. »Ein Dr. Elling. Historiker drüben im Kreismuseum.« Er deutete mit dem Kopf auf das Museumsgebäude. »War sehr früh dran heute Morgen, weil er irgend so ein Jugendcamp durchführt. Ausgrabungen ganz in der Nähe im Wald. Er parkt sein Auto immer direkt vor dem Museum. Fast hätte er die Leiche übersehen und wäre drübergerollt.«

»Das hätte auch nichts mehr kaputt gemacht«, warf Gina Gladow ein.

»War völlig fertig, der Knabe«, fuhr Schröder fort. »Ich habe ihm gesagt, er soll erst mal einen Kaffee trinken und sich später bei uns melden.«

Gina Gladow nickte. »Als Täter kommt er dann ja wohl nicht in Frage.« Sie öffnete die Fahrertür und blickte ihren Vorgesetzten herausfordernd an. »Ich bin jetzt hier fertig.« Letzteres begleitete sie mit einem ironischen Lächeln, das Schröder unmöglich missverstehen konnte.

Der musste sich erkennbar eine Zurechtweisung hinsichtlich ihrer Respektlosigkeit verkneifen und nickte ihr stattdessen zu. »Dann lass uns zurück ins Büro fahren.« Er steckte sein Notizbuch wieder in die Jackentasche, öffnete die Beifahrertür und stieg ein.

Gina Gladow winkte noch kurz zu Hermann-Josef Stukenberg hinüber, der immer noch hämisch grinste, und stieg dann hinter das Steuer. Sie startete den Wagen und gab Gas. Die Reifen drehten auf dem vereisten Kopfsteinpflaster durch. Als sie schließlich packten, schoss der Passat über den Platz und zwischen Museum und Kirche hindurch auf den Burgwall.

2

Stefan Lenz’ erster Eindruck von Paderborn lautete: irgendwie unübersichtlich.

Er hatte die Autobahnabfahrt Paderborn Zentrum genommen und war so auf der B1 gelandet. Hier ging es zu wie am Kamener Kreuz, nur erkannte er auf die Schnelle keine Struktur: Die Abfahrt von der A33 und Auf- und Abfahrten von Bundesstraßen aus und in alle Richtungen folgten dicht aufeinander. Lenz vermisste einen Dauerstau wie auf der A2, der es ihm ermöglicht hätte, sich in Ruhe zu orientieren. Hinzu kam, dass der zweispurige Zubringer unter Brücken hindurchführte und eine dritte, rechte Spur häufig gleichzeitig dem Ein- und Ausfädeln zu- und abströmender Fahrzeuge diente, was die Sache für Ortsunkundige wie ihn nicht gerade übersichtlicher machte.

Von links und rechts schossen die Fahrzeuge durcheinander. Lenz hatte Mühe, seinen Opel Astra Kombi heile auf die Fahrspur zu manövrieren, die geradeaus in die Paderborner Innenstadt führte. Kaum hatte er sich aber richtig eingefädelt, zog ein schwarzer Porsche Cayenne links an ihm vorbei und scherte dann direkt vor ihm auf seine Spur, nur um sofort scharf zu bremsen. Lenz wich im letzten Moment nach links aus und gab Gas. Das könnte dem Mistbock so passen. Wofür hatte sein Diesel schließlich 136 PS? Wenn der glaubte, dass er einen Stefan Lenz ausbremsen konnte, nur weil er Porsche fuhr, hatte er sich aber geschnitten.

Lenz zog direkt vor der Brücke an ihm vorbei, zeigte ihm den Mittelfinger und wunderte sich noch über das hämische Grinsen des geschniegelten Rüpels, als es auch schon blitzte. Deshalb also hatte der Drecksack so scharf gebremst! Lenz spürte das Adrenalin aufkochen. Am liebsten hätte er gleich hier angehalten und den Porschearsch aus seiner Karre geprügelt. Diese Schnösel hatte er ohnehin schon gefressen, aber so etwas schlug dem Fass ja wohl den Boden aus. Rüpel wie der hatten eine gehörige Abreibung verdient.

Im Rückspiegel sah Lenz, dass der Cayenne sich nun nach rechts in Richtung Bad Driburg einordnete. Der Fahrer winkte noch lachend, bevor er aus dem Blickfeld des Spiegels verschwand. Wütend donnerte Lenz beide Handflächen auf das Lenkrad und erblickte erst jetzt die Geschwindigkeitsbegrenzung auf 70. Seit wann galt die denn? Wie schnell war er eben eigentlich gewesen? 100? 120? Er konnte es nicht sagen. Auf jeden Fall viel zu schnell. Scheiß Porsche!

3

Fabian Heller war spät dran. Er hatte mit Mühe einen Abstellplatz für sein Auto im Detmolder Industriegebiet gefunden und hastete nun durch die Nebenstraßen, wo – Heller traute seinen Augen nicht – die Reiterstaffel der nordrhein-westfälischen Polizei patrouillierte. Sein Ziel war das Gebäude der Industrie- und Handelskammer. Dorthin war der Prozess gegen den ehemaligen SS-Mann Reinhold Hanning vor der Schwurgerichtskammer des Landgerichts Detmold verlegt worden, da mit großem öffentlichen Interesse zu rechnen war und die Säle des Landgerichts nicht genügend Platz boten. Schließlich handelte es sich nicht nur um einen der seltenen Auschwitz-Prozesse in der deutschen Nachkriegsgeschichte, sondern angesichts des hohen Alters von Opfern und Tätern und der notwendigen Vorlaufzeit möglicherweise sogar um einen der letzten seiner Art – sicher aber um den letzten Prozess in Nordrhein-Westfalen.

Als Chefredakteur Brenner vom Westfälischen Anzeiger in Hamm ihm diesen Auftrag zugeschanzt hatte, hatte Heller sich erst einmal einlesen müssen. Was Nazi-Prozesse anging, hatte er überhaupt keine Ahnung gehabt. Das hatte er Brenner natürlich nicht verraten. Der hätte es fertiggebracht und den Auftrag Rogalski zugeschoben. Und bevor Rogalski einen Auftrag bekam … Jedenfalls hatte Heller eine Woche lang seine Wohnung und das Internet nicht mehr verlassen und war auf faszinierende Informationen gestoßen.

Dieser Prozess war überhaupt erst möglich geworden, weil sich in der deutschen Rechtsprechung ein Paradigmenwechsel ereignet hatte. Nach den großen Auschwitz-Prozessen in Frankfurt in den Jahren 1963 bis 1965 hatten einem ehemaligen SS-Mann konkrete einzelne Mordfälle nachgewiesen werden müssen, was in der Konsequenz bedeutete, dass eine Verurteilung wegen Massenmordes in Auschwitz nahezu unmöglich war und es schon deshalb gar nicht erst zur Anklage kam. Tausende alter Nazis hatten so jahrzehnte­lang unbehelligt überall in Deutschland leben und arbeiten können. Seit Kurzem reichte jedoch der Nachweis, dass ein Täter durch seine Arbeit im Konzentrationslager das System des Massenmordes in Auschwitz ermöglicht und unterstützt hatte. Man musste also nur noch beweisen, dass ein SS-Mann zu einer bestimmten Zeit im Konzentrationslager tätig gewesen war, und konnte ihn so mit den zu dieser Zeit begangenen Morden in Verbindung bringen.

Diese Neuausrichtung der deutschen Justiz war mit dem Fall John Demjanjuk im Mai 2011 eingeleitet worden. Der KZ-Wachmann war wegen Beihilfe zum Mord an 28.060 Menschen im Lager Sobibor zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt worden. Skandalös wenig, wie Heller fand. Aber es war immerhin ein Anfang gewesen, denn im Zuge der Ermittlungen nach diesem Urteil hatte die Schwerpunktstaatsanwaltschaft Dortmund fünf weitere ehemalige SS-Männer aufgespürt und Anklage erhoben. Im Sommer 2015 war dann der SS-Unterscharführer Oskar Gröning, ›der Buchhalter von Auschwitz‹, in Lüneburg wegen Beihilfe zum Mord an 320.000 Juden im Konzentrationslager Auschwitz zu vier Jahren Gefängnis verurteilt worden. Das waren knappe sieben Minuten Strafe pro ermordetem Juden, wie Heller fassungslos nachgerechnet hatte.

Und nun lief in Detmold das Verfahren gegen den SS-Mann Hanning. Entsprechend groß war das Interesse der internationalen Medien. Zum Glück konnte sich Fabian Heller als akkreditierter Journalist in die Presseschlange einreihen, in die bereits Bewegung gekommen war, als er um die letzte Ecke hastete. Die um einiges längere Besucherschlange musste noch warten. In Fünfergruppen wurden die Medienvertreter, die aus ganz Europa kamen, eingelassen. Alle bedeutenden Fernsehsender und Polit-Magazine waren hier vertreten. Heller erblickte Kolleginnen und Kollegen, die er bislang nur aus dem Fernsehen kannte, und einige der regionalen Presseorgane. Der Kollege vom Westfälischen Volksblatt nickte ihm zu. Sie hatten sich vor einiger Zeit beim Landesparteitag der Linkspartei kennengelernt und, wie Heller sich erinnerte, anschließend höchst unterschiedlich darüber berichtet. Der Konkurrent von der Neuen West­fälischen tippte hinter dem Mann vom Volksblatt auf seinem Handy herum. Die beiden standen so weit vorne, dass sie das Gebäude mit dem nächsten Schub betreten durften.

Heller rückte fünf Schritte vor und blickte sich um. Eine Gruppe uniformierter Polizisten stand etwas abseits und beobachtete das Geschehen. Sie wirkten geradezu unbeteiligt, als fühlten sie sich überflüssig. Allerdings schien man hier auf alles vorbereitet zu sein: Feuerwehr war vor Ort, Notarzt- und Rettungswagen standen am Straßenrand. Und die stolze Kavallerie aus Düsseldorf präsentierte hochherrschaftlich die Entschlossenheit des Rechtsstaates. Wozu so eine Reiterstaffel doch gut sein konnte!

 

Während die Journalisten sich nur verhalten austauschten und allenfalls etwas zu erfahren versuchten, ohne selbst ein Quäntchen preiszugeben, wurde in der Besucherschlange rege diskutiert. Ein älterer Mann und eine junge Frau stritten über den Sinn des Prozesses »so viele Jahre nach dem Krieg«, wie der Mann meinte. Die Frau argumentierte, Mord verjähre nun einmal grundsätzlich nicht und außerdem verstehe sie überhaupt nicht, was die Judenverfolgung mit dem Krieg zu tun haben sollte. Der Mann verwahrte sich gegen die Wortklauberei, was wiederum den Protest der jungen Frau hervorrief: Den industriellen Massenmord mit dem Zweiten Weltkrieg in einen Topf zu werfen, reduziere Auschwitz auf ein Kriegsgeschehen, für das man möglicherweise noch Verständnis aufbringen sollte. Derartige Verharmlosungen seien völlig unangemessen und würden den Opfern nicht gerecht.

»Im Krieg hat es auch Opfer gegeben«, murrte der Alte, »auch auf deutscher Seite. Und von den Millionen Vertriebenen will ich gar nicht erst reden.«

»Der ist doch unbelehrbar«, presste die junge Frau zwischen wütend zusammengebissenen Zähnen hervor und wandte sich kopfschüttelnd ihrer Begleiterin zu.

Heller rückte fünf Schritte vor. Hinter ihm hatten sich inzwischen weitere Journalisten angestellt.

Am Ende der Besucherschlange wurde es laut. Eine alte Frau versuchte, ihren Platz in der Reihe zu behaupten, während zwei junge Männer sie unnachgiebig hinausdrängten. Auch die junge Diskutantin bemerkte das Geschehen, gab ihren Platz in der Schlange auf und lief dorthin, um die Männer zu unterstützen.

»Das ist doch unerhört!«, wütete die alte Dame. »Wo ist denn die Polizei?«

Zwei Beamte eilten hinzu und erkundigten sich, was los sei. In dem Moment skandierten einige der Wartenden »Nazis­ raus!«, so dass Heller nicht verstehen konnte, was dort gesprochen wurde. Nur dass die Aufregung in der Besucherschlange zunahm und die alte Frau schließlich schimpfend davonging, bekam er mit. Mit einem Siegerlächeln kehrte die streitbare junge Frau wieder zurück an ihren Platz in der Schlange. Ihre Begleiterin klopfte ihr auf die Schulter und auch die anderen Umstehenden fanden, dass »dieses Nazipack« im Gerichtssaal nichts verloren habe. Nur der alte Mann fragte grimmig, wie ein derartiges Verhalten sich mit der Meinungsfreiheit vertrage.

Heller rückte inzwischen weiter vor und durfte schließlich in einer Fünfergruppe das Gebäude betreten. Uniformierte Beamte forderten ihn auf, seine Taschen in eine Kunststoffbox zu leeren, seinen Presseausweis abzugeben und durch die Sicherheitsschleuse zu gehen. Auf der anderen Seite wurde er gründlich auf versteckte Waffen abgetastet. Dann bekam er seine Sachen zurück und durfte zusammen mit den anderen vier Journalisten den Sitzungssaal betreten.

Für die Pressevertreter waren Plätze reserviert worden. Dorthin wandte sich Fabian Heller und setzte sich neben eine junge Kollegin, die eifrig etwas in ihr Tablet tippte und von ihm keinerlei Notiz nahm. Heller fand, dass die Bezeichnung Kollege im Journalismus ein reiner Euphemismus sei. Immer ging es nur um die schnellste Nachricht und die beste Schlagzeile – darum also, dass man der Konkurrenz den entscheidenden Schritt voraus war. Seufzend zog er sein Tablet mit angedockter Tastatur aus der Tasche und öffnete das Notizbuch in OneNote, das er zu Hause schon eingerichtet hatte. Unter dem Reiter 11.02.2016 hatte er die Seite rund um den Prozess angelegt und nun notierte er in Stichworten die Beobachtungen, die er in der Warteschlange gemacht hatte.

Als die Pressebänke gefüllt waren, strömten auch die anderen Besucher gruppenweise in den Saal. Niemals würden die sechzig Zuschauerplätze für alle Menschen reichen, die draußen standen. Auf der gegenüberliegenden Seite setzten sich die beiden streitbaren jungen Frauen in die vorletzte Reihe. Heller nahm sich vor, nach der Sitzung zu ihnen zu gehen und sich die Vorkommnisse von draußen erklären zu lassen.

Dann betraten der Staatsanwalt, die Vertreter der vierzig Nebenkläger und die beiden Verteidiger den Saal, postierten sich vor ihren Tischen und schaufelten Unterlagen aus ihren Aktentaschen. Heller grinste über das Ritual, das etwas von psychologischer Kriegführung hatte: Man präsentierte sich zunächst einmal gegenseitig das Waffenarsenal, ohne dass ersichtlich wurde, wie viele Blindgänger und Rohrkrepierer darunter waren, was nur als Kulisse diente und wie viel Schlagkräftiges sich wirklich dazwischen verbarg. Bedrohlich wirkten die Aktenstapel allemal. So zeigten sich Juristen vor Gericht, wer den Längsten hatte.

Ein Raunen ging durch den Saal, als der Angeklagte hereingeführt wurde – ein vierundneunzigjähriger Greis mit gebeugtem Kopf und schleppendem Gang. Harmlos wirkte er, ein bisschen gebrechlich; der nette Opa von nebenan mit grauem Haar, grauem Anzug, gelbem Pullunder über einem weißen Hemd und modischer Brille. So also sieht eine Bestie aus, dachte Heller, einer, der an den Morden in Auschwitz beteiligt gewesen ist. Kein Wunder, dass die fast alle nach 1945 so leicht hatten untertauchen und unbehelligt weiterleben können.

Die Vorsitzende Richterin betrat den Saal. Alle erhoben sich. Sie eröffnete die Verhandlung und forderte den Oberstaatsanwalt auf, die Anklageschrift zu verlesen. Sie wollte keine Zeit verlieren, das war eindeutig, denn angesichts des Gesundheitszustandes des Angeklagten waren die Prozesstage auf maximal zwei Stunden Dauer festgesetzt worden.

Oberstaatsanwalt Brendel von der Schwerpunktstaatsanwaltschaft für NS-Verbrechen in Dortmund referierte, was dem Angeklagten zur Last gelegt wurde: Beihilfe zum Mord in mindestens 170.000 Fällen in der Zeit von Januar 1943 bis Juni 1944 in Auschwitz/Polen. Er berichtete von den Vergasungen im Lager Birkenau, von den Erschießungen an der ›schwarzen Wand‹, von Leichengruben, Hunger und Kältetod und von den Selektionen an der Rampe, die in den meisten Fällen direkt in die Gaskammern geführt hatten.

Im Januar 1942 sei der Angeklagte in das Konzentrationslager Auschwitz versetzt worden, wo er der 5. und später der 3. Kompanie des SS-Totenkopfsturmbanns angehört habe und unter anderem für die Bewachung des Stammlagers Auschwitz I zuständig gewesen sei. Außerdem habe er als Wachmann an der Ausladung und Selektion der Gefangenentransporte für das Lager Auschwitz II Birkenau teilgenommen.

Unglaublich, dachte Heller und betrachtete den harmlosen Greis auf der Anklagebank.

Der Staatsanwalt führte aus, dass dieser Prozess einen begrenzten Rahmen setze, einen, in dem die Taten des Angeklagten eindeutig nachweisbar seien. Es handele sich um die sogenannte Ungarn-Aktion in der Zeit von Mai bis Juni 1944, in deren Rahmen 92 Transporte Juden nach Auschwitz gebracht hätten. Innerhalb von fünf Stunden seien diese abgefertigt worden – von der Rampe über die Gaskammern und Krematorien bis ins Massengrab.

Heller erinnerte sich, dass für genau diese Aktion bereits Oskar Gröning verurteilt worden war. Das ließ auf einen erfolgreichen Ausgang auch dieses Prozesses in Detmold hoffen.

Der Staatsanwalt betonte, dass der Angeklagte Beihilfe zu den Massenerschießungen in Block 11 des Lagers Auschwitz I und zur Selektion Kranker und Schwacher innerhalb des Lagers geleistet habe. Zudem sei Hanning daran beteiligt gewesen, die schlechten Lebensverhältnisse zu schaffen, unter denen die Häftlinge möglichst schnell sterben sollten. Insgesamt kamen also vier Tatbereiche zur Anklage.

Immer wieder ging ein Raunen durch die Reihen der Besucher, während das leise Klappern der Laptoptastaturen im Raum hing. Fabian Heller hatte Mühe, auf seinem Tablet mitzukommen. Außerdem versuchte er zwischendurch immer wieder, irgendeine Regung im Gesicht des Angeklagten zu erkennen. Reinhold Hanning aber zeigte keine Regung. Mit gebeugtem Kopf blickte er auf den Tisch, die Hände im Schoß gefaltet. Das alles hier schien nichts mit ihm zu tun zu haben. Dabei hatte er doch, wie Heller gelesen hatte, bei seiner Vernehmung im vergangenen Jahr zugegeben, dass er als Wachmann in Auschwitz gearbeitet hatte.