Der letzte Prozess

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»Ist Ihnen irgendetwas komisch vorgekommen, als Sie im Park waren?«, fragte Lenz den Pfleger. »Leute, die da nicht hingehörten, zum Beispiel?«

»Nein, alles war wie immer. – Entschuldigen Sie, ist irgendetwas passiert? Ich meine, Sie sind doch nicht hier, weil Sie uns all das noch einmal fragen wollen, was Ihre Kollegen auf der Wache schon gefragt haben.«

Kluger Junge, dachte Lenz. Super-Mario ist offenbar schlichter gestrickt und hat nicht so weit gedacht. Oder sollte der Aushilfs-Marley schon wissen, was passiert war? Aufmerksam behielt Lenz den Unsympathen im Auge, als er die jungen Männer über den Leichenfund und die Möglichkeit informierte, dass es sich bei dem Toten um Anton Kottmann handeln konnte. Wenn er auf verräterische Zeichen gewartet hatte, wurde er nun enttäuscht. Beide Männer waren gleichermaßen überrascht und bestürzt.

Für einen Moment verschlug es Mario sogar den Atem. Er keuchte schwer und flüsterte: »Mein Gott.«

Entweder ist er ein guter Schauspieler, dachte Lenz, oder seine coole Fassade ist nur aufgesetzt.

Gina Gladow schob Mario ihr Wasserglas hinüber, das noch halb gefüllt war. Dankbar versuchte er ein Lächeln, das aber misslang, und trank in kleinen Schlucken.

»Gut«, schloss Lenz, »wenn niemand von Ihnen mehr etwas zu sagen hat, das vielleicht sachdienlich sein könnte, wird meine Kollegin nun draußen Ihre Personalien aufnehmen.«

Gina Gladow zog missbilligend die Augenbrauen zusammen, während Mario und Wolfgang aufsprangen und mit gesenkten Köpfen das Büro verließen.

Lenz blickte die Kommissarin direkt an und ließ keinen Zweifel daran, dass es sich um eine Anweisung gehandelt hatte. »Lassen Sie sich bitte von Wolfgang zu Herrn Merschhaus und Frau Körting bringen«, fügte er hinzu. »Vielleicht haben die etwas bemerkt. Ich komme dann nach, wenn ich hier fertig bin.«

Er verfolgte nun seinerseits belustigt, wie seine Kollegin trotzig den Kopf in den Nacken warf, den beiden jungen Männern folgte und die Tür hinter sich ins Schloss fallen ließ – gerade laut genug, um ein Zeichen zu setzen, ohne eindeutig subordinär zu wirken.

»So, Frau Finke.« Lenz deutete auffordernd mit der Hand auf den freien Sessel. »Jetzt erzählen Sie mir mal etwas über Ihre beiden jungen Mitarbeiter.«

»Was wollen Sie wissen?« Kerstin Finke nahm Platz.

»Alles. Was sind das für Typen? Wie sind Sie mit ihrer Arbeit zufrieden? Wo liegen ihre Stärken, wo ihre Schwächen?«

»Da weiß ich, ehrlich gesagt, gar nicht, wo ich anfangen soll.«

»Wo Sie wollen. Ich habe Zeit.« Lenz legte sein charmantestes Lächeln auf und stellte erfreut fest, dass es wirkte.

Kerstin Finke entspannte sich etwas, holte tief Luft und lehnte sich zurück. »Also, der Mario ist seit etwa einem halben Jahr bei uns. Er ist nicht gerade das, was ich unter einem gewissenhaften Bundesfreiwilligendienstler verstehe, aber er macht seinen Job. Sie haben ja selbst erlebt, dass er etwas … sagen wir: unkonventionell auftritt.«

»Respektlos«, korrigierte Lenz. »Unverschämt und distanz­los.«

»Na ja.« Kerstin Finke ließ ihren Kopf hin- und herpendeln. »Er wirkt so, das stimmt. Aber unter der coolen Fassade ist er, glaube ich, kein übler Kerl. Wir müssen leider heutzutage nehmen, was wir kriegen können. Wenn wir zu wählerisch wären, wäre der Pflegenotstand noch größer. Und was da in den letzten Jahren vor allem von den Gymnasien kommt … also Leistungsbereitschaft, Selbstdisziplin und Benehmen haben die jungen Leute kaum noch. Zum Glück sind wir ja bei unserer Arbeit nicht darauf angewiesen, dass sie rechnen, schreiben und lesen können. Damit ist es ja selbst bei Abiturienten nicht mehr so weit her.« Sie lachte.

»Wolfgang ist ein anderer Typ«, formulierte Lenz seine Frage wie eine Feststellung.

»Oh, ja. Wolfgang ist, verglichen mit seinen Altersgenossen, extrem gut erzogen, diszipliniert und sehr beliebt bei den Bewohnern. Die alten Leute halten viel von Respekt und Höflichkeit. Vor allem die, denen ich Wolfgang zugeteilt habe.«

»Und sonst gibt es keine Pflegekräfte auf der Station?«

»Doch, Pflegerin Michaela. Aber die hat momentan Urlaub und war nicht im Haus, als Herr Kottmann verschwunden ist. Deshalb muss Mario ja auch aushelfen, wenn Wolfgang Unterstützung braucht. Ab 20 Uhr beschäftigen wir reines Nachtpersonal. Für den Trakt B ist Rotraut Schumacher zuständig. Aber auch die war ja zum Zeitpunkt des Verschwindens von Herrn Kottmann nicht im Haus.«

Lenz notierte sich die Namen. »Hat Ihrer Ansicht nach einer von den beiden jungen Männern irgendeinen Fehler gemacht, so dass Herr Kottmann Ihnen verlorengehen konnte?«

»Nein. So etwas lässt sich einfach nicht verhindern. Das ist ja kein Gefängnis hier und keine geschlossene Anstalt. Unsere Bewohner bewegen sich absolut frei und ohne jede Bevormundung, sofern sie noch rüstig genug sind. Nur auf die Demenzkranken haben wir ein besonderes Auge. Natürlich auch nur in dem Rahmen, in dem wir das personell bewerkstelligen können. Ich gehe davon aus, dass Herr Kottmann aus eigenem Antrieb unser Gelände verlassen hat. Erst danach muss irgendetwas passiert sein.«

»Also hat auch keiner der anderen Bewohner etwas bemerkt oder gesehen?«

»Nein, wir haben alle befragt. Niemandem ist etwas aufgefallen. Auch nicht, dass Herr Kottmann das Haus verlassen hat.«

»Gut, Frau Finke, ich möchte dann gerne noch Herrn Kottmanns Zimmer sehen.«

»Wolfgang wird Sie hinführen«, entgegnete die Residenz-Leiterin. »Ich muss leider wieder an die Arbeit.« Sie griff zum Telefon, ließ sich den Pfleger geben, erteilte ihm die nötigen Anweisungen und wandte sich Lenz wieder zu. Ihr geschäftsmäßiges Lächeln machte deutlich, dass das Gespräch für sie damit beendet war.

»Wenn Ihnen doch noch etwas einfallen sollte, rufen Sie mich an.« Lenz reichte ihr seine Visitenkarte. »Die Festnetznummer stimmt nicht mehr. Ich bin erst seit heute bei der Kripo in Paderborn. Aber über die Handynummer erreichen Sie mich immer.« Er stand auf und gab Kerstin Finke die Hand.

»An ihrem ersten Tag haben Sie schon so einen unangenehmen Fall?« Sie hielt seine Hand einen Augenblick länger fest als notwendig.

»Unangenehm sind meine Fälle eigentlich immer«, blieb Lenz ungenau und freute sich über ihr Mitgefühl. »Schließlich arbeite ich im Dezernat für Kapitalverbrechen.« Er nickte ihr noch einmal lächelnd zu und verließ das Büro.

Kerstin Finke schloss die Tür hinter ihm. Schade, dachte Lenz. Wenn sie mich zu Kottmanns Zimmer begleitet hätte …

Wolfgang erwartete ihn bereits auf dem Flur und führte ihn an einer Sitzgruppe vorbei, auf der einige alte Leute saßen und gerade von Gina Gladow befragt wurden. Dann bog der Pfleger nach links ab. Auch auf diesem Flur wirkte alles chic und viel freundlicher, als Lenz es von den Altersheimen gewohnt war, die er bisher gesehen hatte. Der Bodenbelag bestand aus hellem Vinyl in Holzoptik und an den weißen Wänden hingen farbenfrohe Drucke verschiedener Künstler. Lenz erkannte darunter auch ein signiertes Bild von Otmar Alt, dem Star der Hammer Kunstszene. Geldmangel schien in diesem Haus wohl eher unbekannt.

Schließlich hielt Wolfgang vor einer Zimmertür. »Hier wohnt Herr Kottmann.«

Lenz öffnete die Tür und deutete in den Raum. »Sehen Sie sich bitte genau um. Ist irgendetwas anders als sonst? Jetzt, da Sie wissen, dass Herr Kottmann möglicherweise ermordet wurde, fällt Ihnen vielleicht etwas auf, dem Sie vorher keine Beachtung geschenkt haben.«

Der Pfleger betrat das Zimmer, blieb in der Mitte stehen und drehte sich langsam um seine eigene Achse, während Lenz die Aussicht durch das Fenster auf die tief unter ihm liegenden Flussauen bewunderte.

»Nein, alles wie immer«, sagte Wolfgang schließlich.

»Gut, dann warten Sie bitte draußen«, ordnete Lenz an.

In diesem Moment tauchte seine Kollegin hinter ihm auf. »Und?«, erkundigte er sich. »Haben dieser Merschhaus und die Frau – wie hieß die doch gleich?«

»Körting.«

»Frau Körting, richtig. Haben die beiden etwas über das Verschwinden von Anton Kottmann aussagen können?«

»Nein. Kottmann ist gegen halb fünf reingegangen, weil es ihm zu frisch wurde. Danach haben sie ihn nicht mehr gesehen.«

»Hmh«, machte Lenz nachdenklich. »Nicht schön, das. Gar nicht schön.«

Gina Gladow musterte ihn belustigt.

Lenz ignorierte den Blick. »Sehen Sie im Bad nach, ob Sie einen Kamm oder eine Zahnbürste für den DNA-Abgleich finden.«

Er selbst wandte sich dem Kleiderschrank zu und öffnete ihn. Hosen und Hemden hingen über Kleiderbügeln und entsprachen den Marken, die der Tote getragen hatte. Die Unterhemden in einem der kleineren Fächer waren penibel ausgerichtet und selbst die Stofftaschentücher lagen glattgebügelt und auf Kante gestapelt da. So etwas hatte Lenz zuletzt während seiner Ausbildung in der Polizeikaserne gesehen, allerdings auch nur als Beispiel für die korrekte Ordnung und nicht in seinem eigenen Spind.

Gina Gladow kam mit einem Plastikbeutel aus dem Badezimmer und zeigte Lenz die Zahnbürste, bevor sie sich an die Durchsuchung des Nachtschränkchens neben dem Bett machte.

»Oh, was haben wir denn hier?« Sie hielt ein zusammengefaltetes hellrotes Stück Pappe hoch, auf dem die Hälfte eines Hakenkreuzes zu sehen war. Seine Kollegin faltete es auseinander und schnalzte laut. »SS-Sturmmann Anton Kottmann«, las sie vor. »Konzentrationslager Niederhagen. – Sieh mal einer an, ein alter Nazi. Wenn das unsere Leiche ist, minimiert es mein Mitgefühl allerdings deutlich.«

Lenz trat nahm ihr den Fund aus der Hand. Tatsächlich, es handelte sich um den Dienstausweis eines SS-Mannes. Das Passbild zeigte einen jungen, schneidigen Soldaten in schwarzer Uniform, der ohne jede Gefühlsregung in die Kamera blickte.

 

»Womit dann auch die Narbe am linken Oberarm geklärt wäre«, stellte Lenz fest und erklärte auf den fragenden Blick seiner jungen Kollegin: »Die Mitglieder der Waffen-SS hatten ihre Blutgruppe auf der Innenseite des linken Oberarms eintätowiert. Nach 1945 haben sich viele diese Tätowierung wegoperieren lassen, weil sie ein offensichtlicher Beweis für ihre SS-Mitgliedschaft war.«

Sie nickte und wandte sich der nächsten Schublade zu. Diesmal zog sie ein braunes Lederbuch hervor, das sich als Fotoalbum entpuppte. Vor Lenz’ Augen blätterte sie es schnell durch. Die Schwarz-Weiß-Fotos entstammten allesamt der Dienstzeit Anton Kottmanns und zeigten Häftlinge mit gestreifter Kleidung in einem Steinbruch. Sie schoben Karren mit Felsbrocken, manche schleppten sie einfach mit den Händen. Am Rand standen rauchende SS-Männer in schwarzen Uniformen mit Gewehren über den Schultern.

»Diese Dreckschweine!«, schimpfte Gina Gladow leise.

Andere Bilder zeigten Häftlinge auf einem Gerüst beim Aufbau eines Burgturmes. Auf einem Foto war das etwas verblasste Portrait eines jungen Mannes mit SS-Mütze zu sehen. Er lächelte in die Kamera und machte einen freundlichen, geradezu sympathischen Eindruck. Typ Schwiegermutters Liebling, dachte Lenz. Wenn man auf Faschos steht.

»Anton Kottmann.« Gina Gladow tippte mit dem Zeigefinger darauf. »Stimmt mit dem Foto im Dienstausweis überein.« Sie schlug das Album zu und blickte Lenz fragend an.

»Das ist ja ein Ding«, brachte der nur heraus und fuhr nach kurzer Pause fort: »Wenn unser Toter Anton Kottmann ist, handelt es sich also um einen ehemaligen SS-Mann, der in einem Konzentrationslager gearbeitet hat.«

»Nicht in irgendeinem Konzentrationslager«, widersprach Gina Gladow. »Das KZ Niederhagen befand sich in Wewelsburg, also in der Nähe des Auffindeortes der Leiche. Und der Turm auf dem Bild eben ist der Nordturm der Wewelsburg, die von Häftlingen des KZ wiederaufgebaut worden ist.«

»Mein lieber Scholli«, sagte Lenz. »Bis eben hatten wir noch einen zu Tode gefolterten alten Mann ohne Namen, jetzt handelt es sich wahrscheinlich um einen hingerichteten ehemaligen KZ-Wärter.« Während er das sagte, wurde ihm die ganze Tragweite bewusst: Aus einem gewöhnlichen Mord, wenn auch mit ungewöhnlichen Mitteln, wurde von einer Sekunde auf die andere ein hochbrisanter politischer Fall. In diesem Moment hoffte er inständig, dass der Tote nicht Anton Kottmann war.

»Da wird uns Ihre Frau Finke aber einiges zu erklären haben«, ätzte Gina Gladow.

Lenz ging nicht auf die Formulierung ein. »Sehen Sie nach, was Sie sonst noch finden«, ordnete er an.

Während die Kommissarin sich die letzte Schublade des Nachtschränkchens vornahm, trat er wieder vor den Kleiderschrank, durchwühlte rücksichtslos alle Fächer und tastete auch die Hosen, Hemden und Jacketts ab, ohne jedoch irgendetwas zu finden.

»Nichts weiter«, meldete Gina Gladow. »Nur der Personalausweis und der Führerschein.«

»Gut. Wir versiegeln das Zimmer. Die Spusi soll sich hier einmal gründlich umsehen.«

Während Lenz auf dem Flur die Zimmertür zuzog, schlug ihnen von der Sitzecke aufgeregter Lärm entgegen. Wolfgang stand vor einer Gruppe alter Männer und Frauen und versuchte, sie mit pumpenden Handbewegungen zu beruhigen. Während Lenz umständlich ein Siegel aus einer Tasche hervorkramte, lief Gina Gladow schon einmal vor. Schließlich näherte sich auch Lenz dem Tumult, der immer lauter und ungehaltener wurde.

»Sagen Sie mal«, schmetterte ihm ein alter Mann mit Glatze entgegen, der sich schwer auf einen Krückstock stützte, »klärt uns jetzt vielleicht einmal jemand auf, was das alles hier soll? Was ist mit dem Kameraden Kottmann? Wolfgang und die Politesse hier wollen uns nichts sagen!«

Lenz seufzte und informierte die alten Leute mit knappen Worten sachlich über den Leichenfund in Wewelsburg. »Ob es sich dabei um Ihren Mitbewohner handelt, müssen wir aber erst noch abschließend klären.«

»Wie lange wollen Sie sich das eigentlich noch mit ansehen?«, giftete der alte Mann. »Sie glauben wohl, nur weil wir alt sind …« Er ließ in der Schwebe, was die Polizeibeamten seiner Ansicht nach genau glaubten.

»Das ist doch Unsinn«, entgegnete die junge Kommissarin wenig taktvoll und rief entsprechende Entrüstung in den faltigen Gesichtern hervor. »Wir sind sogar verpflichtet, jedem Hinweis nachzugehen. Vor allem, wenn es sich um den Verdacht eines Kapitalverbrechens handelt.«

»Kapitalverbrechen?«, krächzte eine alte Frau. »Hier geht es nicht um Geld, Kindchen, hier geht es um Mord.«

»Das ist doch dasselbe!«, belehrte sie der Glatzkopf ungeduldig von oben herab.

»Was? Geld und Mord?« Die alte Dame war entsetzt.

»Nein. Kapitalverbrechen und Mord.«

»Was sollen wir uns nicht länger ansehen?«, bemühte sich Lenz in sachlichem Ton um eine Beruhigung der Lage.

»Die Politesse hier nimmt uns nicht ernst«, schimpfte ein Mann mit stattlicher Statur, griechisch anmutender Kopfform und weißem Lockenschopf. »Nur weil wir alt sind und alte Leute Geld kosten, ist unser Leben in diesem Staat nichts mehr wert. Wir können ruhig sozialverträglich umgebracht werden. Dafür bekommt der Mörder dann am Ende noch das Bundesverdienstkreuz.«

Inzwischen hatte der Lärm auch Kerstin Finke aus ihrem Büro gelockt. »Was ist denn nun schon wieder los, Herr Merschhaus?«

»Ja, Sie wollen von alldem natürlich nichts wissen«, giftete der. »Das schadet nur dem Ruf des Hauses, nicht wahr? Aber Mord ist Mord, da ändern auch Sie nichts dran.«

»So«, ging Lenz nun mit autoritär erhobener Stimme dazwischen. »Jetzt beruhigen wir uns alle mal wieder und setzen uns hin.« Als Merschhaus widersprechen wollte, brachte er ihn mit einer schneidenden Handbewegung zur Ruhe. »Wir sind hier, um Sie nach Ihren Beobachtungen und Befürchtungen zu fragen. Und ich erwarte, dass Sie uns nach Kräften unterstützen.«

Das beruhigte nicht nur Merschhaus. Lenz beobachtete gleichermaßen erstaunt wie erfreut, dass ihm sein Befehlston augenblicklich Respekt eingebracht hatte. Auch die anderen alten Leute murmelten zustimmend und nach und nach ließen sich alle in der Sitzecke nieder.

»Was ist denn nun passiert?«, fragte Lenz jovial und vollführte eine einladende Geste. »Herr Merschhaus, bitte.«

»Wir haben dieser jungen Dame hier …«, er wies mit abfälliger Mimik auf Gina Gladow, »gesagt, dass das nicht der erste Mord in diesem Haus ist.«

»Herr Kottmann wurde nicht hier ermordet!«, ging Kerstin Finke dazwischen. »Niemand ist hier jemals ermordet worden!«

Lenz gab ihr gestisch zu verstehen, dass sie ihn einfach mal in Ruhe machen lassen sollte, und hakte nach: »Was wollen Sie damit andeuten, Herr Merschhaus?«

»Andeuten will ich gar nichts«, stellte der alte Mann herrisch klar. »Ich klage an. Vor drei Monaten ist eine weitere Mitbewohnerin in diesem Haus vergiftet worden. Für mich deutet das ohne jeden Zweifel auf einen Serientäter hin.«

»Langsam, Herr Merschhaus. Was ist genau passiert?«

»Elfriede Gerken«, rapportierte Merschhaus zackig. »Lag morgens tot in ihrem Bett. Angeblich Herzversagen.« Er lachte laut auf. »Ha! Elfi und Herzversagen! Von wegen. Am Abend vorher haben wir noch getanzt und am Morgen war sie plötzlich tot. Vergiftet worden ist die Elfi! Darauf verwette ich mein Ritterkreuz!«

Kerstin Finke war inzwischen vor Wut rot angelaufen und tigerte mit vor der Brust verschränkten Armen und gesenktem Blick vor der Sitzecke auf und ab. Die platzt gleich, dachte Lenz. Noch fünf Minuten und sie bekommt einen Herzinfarkt.

»Frau Finke«, sprang er ihr zur Hilfe, »was sagen Sie denn zu der Sache?«

Die Residenz-Leiterin hatte sichtbar Mühe, zumindest nach außen hin Ruhe zu bewahren. Sie atmete mehrmals tief durch, bevor sie mit gepresster Stimme antwortete: »Frau Gerken war 93 Jahre alt. Als wir sie morgens in ihrem Bett gefunden haben, haben wir gleich unsere Hausärztin gerufen. Die hat sie gründlich untersucht …«

»Ha!«, rief Merschhaus dazwischen. »Gründlich untersucht! Elf Minuten war sie in Elfis Zimmer. Elf Minuten! Ich habe auf die Uhr gesehen. Von wegen: gründlich untersucht! Die wusste doch schon vorher, was sie diagnostizieren sollte.«

»Herr Merschhaus, bitte!«, wies Lenz ihn zurecht und blickte dann Kerstin Finke aufmunternd an.

»Frau Dr. Reuther ist eine ausgewiesene Notfallärztin«, erklärte die Residenzleiterin bestimmt. »Sie hat eindeutig Herzversagen festgestellt. Ohne jeden Zweifel. Und genau so steht es auch im Totenschein.«

»Ihr steckt doch hier alle unter einer Decke.« Merschhaus sprang auf. »Einen nach dem anderen bringt ihr von uns um die Ecke. Und ich weiß auch warum: Weil wir euch lästig sind. Ihr habt Angst, dass wir euren guten Ruf gefährden. Deshalb müssen wir weg. Aber damit ist jetzt Schluss. Ab sofort lassen wir uns nur noch von Wolfgang helfen.« Die anderen Alten nickten und murmelten zustimmend. »Alle anderen Pflegekräfte haben absolutes Verbot, unsere Zimmer zu betreten.«

»So geht das nicht, Herr Merschhaus!« Kerstin Finke richtete sich auf und wurde mit einem Mal geschäftlich. »Ich leite dieses Haus und ich lasse mir von niemandem vorschreiben, wie ich das mache. Auch von Ihnen nicht, Herr Merschhaus. Glauben Sie mir, gerade bei den Bewohnern aus Trakt B täte es mir leid, wenn ich sie verlieren würde. Aber wenn es nicht anders geht, werde ich Ihnen allen kündigen!«

Nun richtete sich das aufgeregte Gemurmel der Alten gegen Merschhaus. Der japste entrüstet nach Luft und drehte sich schließlich zu den anderen um. »Krisensitzung!«, ordnete er an. »In fünf Minuten im Aufenthaltsraum. Wir lassen uns doch nicht drohen, Kameraden!« Gefolgt von den anderen marschierte er voraus und stieß eine Glastür so heftig auf, dass sie laut vor die Wand schlug. Der Pfleger Wolfgang wechselte einen unsicheren Blick mit seiner Chefin und folgte den alten Leuten dann mit besorgter Miene. Augenblicklich war die Sitzecke bis auf die Polizeibeamten und Kerstin Finke verwaist.

»Was war das denn jetzt?«, fragte Gina Gladow fassungslos. »Und was hat es mit dem Trakt B auf sich?«

Kerstin Finke ließ sich in einen der Sessel fallen und schnappte ebenfalls nach Luft. »Da wohnen unsere besonders zahlungskräftigen Bewohner. Deshalb fordern die auch immer eine besondere Zuwendung. Und die bekommen sie auch, aber in diesem Fall kann ich unmöglich nachgeben.«

»Und was hat Herr Merschhaus damit gemeint, dass die Bewohner des Traktes B dem Ruf des Hauses schaden?«, erkundigte sich Lenz. »Zahlungskraft ist doch nicht rufschädigend – eher im Gegenteil.«

Kerstin Finke rang mit sich und setzte mehrfach zu einer Antwort an. Schließlich sagte sie: »Also gut, Sie werden es ja sowieso herauskriegen. Alle Bewohner im Trakt B haben eine Vergangenheit, die nicht jedem gefällt.«

»Waren das Nutten und Zuhälter, oder was?«, zeigte sich Gina Gladow verständnislos.

»Unsinn!« Die Residenz-Leiterin sah Lenz direkt in die Augen. »Dann hätten wir sie nicht aufgenommen. Sie waren im Dritten Reich bei der SS und haben in Wewelsburg gearbeitet.« Als wäre sie geradezu erleichtert, nachdem sie das ausgesprochen hatte, lehnte sie sich nun in ihrem Sessel zurück.

»Wie bitte?« Gina Gladow blickte zwischen Lenz und Kerstin Finke hin und her. »Der Kottmann war nicht der einzige Nazi hier?«

Auch Lenz hatte Mühe, das Gehörte richtig einzuordnen. »Und warum haben die sich ausgerechnet hier bei Ihnen versammelt?«

»Die Zeit in Wewelsburg war für alle die schönste Zeit ihres Lebens. Nach dem Krieg …«

»Sie meinen, nach dem Dritten Reich«, fiel ihr Gina Gladow ins Wort. »Das sollte man nicht in einen Topf werfen.«

»Nach dem Dritten Reich«, fuhr die Residenz-Leiterin fort, »waren sie in ganz Deutschland verstreut, hatten dort ihre Familien und ihre Berufe. Aber jetzt, im Alter, sind sie alle allein. Und da zieht es sie eben wieder in die Nähe des Ortes zurück, an dem sie sich so wohlgefühlt haben. Hier bei uns haben sie sich wiedergetroffen. In dieser Gemeinschaft fühlen sie sich zu Hause.«

»Und das lassen Sie sich auch besonders bezahlen.« Gina Gladows Tonfall ließ offen, ob das eine Feststellung oder ein Vorwurf war.

»Die alten Leute können es sich leisten. Und diejenigen, die selbst nicht so viel Geld haben, werden aus einem Fonds unterstützt.«

»Ein Fonds für Altnazis? Das wird ja immer schöner!« Gina Gladow schüttelte angewidert den Kopf. »Und da regen Sie sich über Nutten und Zuhälter auf.«

 

»Warum vertrauen die alten Leute nur Wolfgang?« Lenz bemühte sich im Gegensatz zu seiner jungen Kollegin um Ruhe und Beschwichtigung.

»Weil er ihre Vergangenheit nicht verurteilt, sondern …«

»Sondern?«, kam es lauernd von Gina Gladow.

»Na ja, er bewundert die alten Leute und begegnet ihnen mit Respekt.«

»Ein Neonazi?«, spuckte die junge Kriminalbeamtin förmlich aus.

»So würde ich ihn nicht bezeichnen. Er hat … na ja … eher konservative Ansichten.«

»In was für einem Sumpf sind wir hier eigentlich gelandet? Altnazis, ein Fonds für Alte Kameraden und ein Neonazi als Pfleger.« Gina Gladow schüttelte heftig den Kopf. »Ich könnte kotzen!«

Lenz konnte ihre Reaktion nachvollziehen. Gleichzeitig tat ihm Kerstin Finke leid, die wie ein begossener Pudel in ihrem Sessel hockte. »Wir möchten dann bitte noch das Zimmer von Frau Gerken sehen«, sagte er.

»Das geht nicht«, entgegnete sie. »Das Zimmer ist schon wieder belegt. Da ist nichts mehr so wie bei Frau Gerken. Unsere Bewohner bringen ihre eigenen Möbel mit, verstehen Sie?«

Wolfgang kam wieder aus dem Beratungsraum der alten Leute und stellte sich neben Gina Gladow, die augenblicklich einen großen Schritt von ihm weg machte.

»Sind die Zimmer alle gleich aufgebaut?«, setzte Lenz seine Befragung fort.

»In Trakt B ja«, antwortete die Residenz-Leiterin.

»Haben Sie selbst Frau Gerken aufgefunden?«

»Nein, Wolfgang hatte Dienst und war dafür zuständig, die Bewohner in diesem Trakt bei ihrer Morgentoilette zu unterstützen.«

Lenz wandte sich dem Pfleger zu. »Beschreiben Sie uns bitte, wie Sie Frau Gerken aufgefunden haben.«

»Na ja, sie lag ganz normal im Bett, als ich hereinkam. Ich dachte zuerst, sie würde noch schlafen, auch wenn das ungewöhnlich war. In diesem Trakt sind fast alle Bewohner Frühaufsteher. Ich habe versucht, sie zu wecken, und dabei festgestellt, dass sie nicht mehr lebte.«

»Was heißt ›ganz normal‹? Lag sie auf dem Rücken oder auf der Seite?«

»Auf dem Rücken.«

»Und die Hände?«

»Die hatte sie auf der Bettdecke … wie sagt man? … verschränkt.« Wolfgang legte seine Hände wie zum Gebet zusammen und zeigte sie Lenz.

»Hm. Haben Sie noch selbst etwas unternommen oder gleich Frau Finke informiert?«

»Ich habe den Notknopf betätigt und der Stationsleiterin gesagt, sie soll sofort die Notärztin alarmieren. Die kam dann auch kurz darauf und hat den Tod festgestellt.«

»Können Sie sich sonst an irgendetwas Ungewöhnliches erinnern?«

»Nein, wie gesagt: Alles war wie immer.«

»Lag vielleicht etwas auf dem Nachttischchen? Oder auf dem Boden?«

Wolfgang dachte einen Moment nach. »Da waren nur Frau Gerkens Herztabletten auf dem Nachttischchen und ein halb ausgetrunkenes Glas Wasser, sonst nichts.«

»Frau Gerken hatte doch Herzprobleme?«

»Na ja, das haben doch die meisten in dem Alter. Wahrscheinlich war einfach die Tanzveranstaltung am Abend vorher zu viel für sie. Aber dazu kann Ihnen Frau Dr. Reuther Näheres sagen.«

»Wie kommt Herr Merschhaus auf die Idee, dass es sich um einen nicht natürlichen Tod gehandelt hat?«

»Keine Ahnung. Es ist eben einfach schwer, zu sehen, wie in diesem Alter ein Weggefährte nach dem anderen stirbt. Wenn da irgendetwas faul gewesen wäre, hätte Frau Dr. Reuther das gemerkt.«

»Danke«, schloss Lenz die Befragung. »Sie können jetzt gehen.«

Gina Gladow hatte die ganze Zeit über wie unbeteiligt danebengestanden. Nun blickte sie Lenz herausfordernd an.

»Ich denke, wir kommen hier jetzt nicht weiter«, sagte der und wandte sich Kerstin Finke zu. »Die Kollegen von der Spurensicherung werden sich heute noch Herrn Kottmanns Zimmer ansehen. Sorgen Sie bitte dafür, dass niemand es bis dahin betritt. Sobald der DNA-Abgleich gemacht wurde und wir Klarheit haben, melde ich mich bei Ihnen.« Er reichte ihr noch einmal die Hand und nickte ihr freundlich zu. Dann folgte er seiner Kollegin, die schon die Treppe hinablief, ohne sich von der Leiterin zu verabschieden.

Unten in der Halle winkte Gina Gladow Mario lächelnd zu.

»Bis bald?«, rief der Marley-Darsteller hinter ihnen her.

»Vielleicht!« Die Kommissarin lachte.

Als Lenz auf dem Beifahrersitz Platz nahm und sie sich hinter das Steuer schwang, sagte der Hauptkommissar grimmig: »So etwas will ich nicht noch einmal erleben!«

»Was genau meinen Sie?«, hakte die Kommissarin unbeeindruckt nach, startete den Motor und wendete den Wagen routiniert in einem einzigen Anlauf.

»Dass Sie so mit Zeugen umgehen, wie Sie das mit Frau Finke gemacht haben.«

»Die hat Ihnen gefallen, was?«

»Jetzt werden Sie nicht auch noch unverschämt! Frau Finke ist für die Bewohner der Senioren-Residenz verantwortlich. Da ist es ja wohl ganz normal, dass sie Schuldgefühle entwickelt, wenn einer mir nichts, dir nichts verschwindet und drei Tage später ermordet aufgefunden wird.«

»Von Schuldgefühlen habe ich bei der Dame nichts bemerkt«, widersprach Gina Gladow. »Obwohl die ja wirklich angebracht wären. Im Übrigen muss man schon verdammt abgebrüht sein, wenn man alte Nazis beherbergt.«

»Nein, als Leiterin eines Altersheimes muss man sehen, dass man die Kosten deckt. Da sind alle zahlungskräftigen Kunden ein Segen. Und was die Alten angeht: Wenn die sich etwas hätten zuschulden kommen lassen, wären sie nach 1945 verurteilt worden.«

Nun lachte Gina Gladow laut auf. »Wo leben Sie eigentlich? Glauben Sie etwa auch noch an den Klapperstorch? Von denen ist doch kaum einer vor Gericht gekommen. Und wenn doch, dann wurden die Verfahren verschleppt. Die gesamte Justiz und selbst die Adenauer-Regierung waren braun verseucht. Die alten Kameraden haben schon dafür gesorgt, dass keinem von ihnen etwas passiert.« Sie schüttelte den Kopf und schnaufte grimmig. »Das ist ja selbst heute noch nicht anders. Sehen Sie sich doch die Prozesse der letzten Jahre an. Welcher der alten Verbrecher wird denn noch nennenswert verurteilt? Sogar Neonazis können jahrelang ungehindert und gedeckt durch unsere Verfassungsschutzorgane morden. Und wenn sie dann vor Gericht stehen, wie Beate Zschäpe, dauert so ein Prozess Jahre, weil der Rechtsstaat den Tätern die Füße leckt. Wir machen uns doch lächerlich!«

»Was vor Gericht passiert, liegt nicht in unserer Verantwortung«, sagte Lenz so gleichmütig wie möglich. »Wir sind für die Strafverfolgung zuständig. Und Frau Finke hat sich nichts zuschulden kommen lassen. Deshalb ein für alle Mal: So einen Auftritt wie heute erlauben Sie sich nicht noch einmal. Habe ich mich da klar ausgedrückt?«

»Glasklar, Chef.« Gina Gladow grinste ihn spöttisch von der Seite an. »Von jetzt an kusche ich und mache Männchen, wenn Sie den Raum betreten.«

Lenz hatte Mühe, nicht laut zu werden, als er sich ihr nun ganz zuwandte. »Sie behandeln Ihre Vorgesetzten ab sofort respektvoll und akzeptieren die dienstliche Hierarchie. Sonst werde ich persönlich dafür sorgen, dass Ihre Karriere bei der Kriminalpolizei ein schnelles Ende findet. Und das täte mir aufrichtig leid, denn Sie scheinen im Grunde eine sehr gute Polizistin zu sein.«

Gina Gladow starrte von nun an stur geradeaus, während Lenz aus seinem Seitenfenster blickte und die Landschaft an sich vorbeiziehen ließ, ohne wirklich etwas wahrzunehmen. Er brauchte Zeit, bis seine Wut verraucht war. Was war nur mit ihm los, dass er sich derart aus der Reserve locken ließ?

Die letzte Szene in der Empfangshalle der Senioren-Residenz drängte sich wieder in sein Gedächtnis. Marios Grinsefresse tauchte vor ihm auf und er dachte über die unterschiedlichen Reaktionen seiner jungen Kollegin auf ihn während der Hinfahrt und auf Filz-Mario nach. Daraus sollte mal einer schlau werden. Das ließ sich tatsächlich allenfalls durch den Altersunterschied erklären.

»Sie können ruhig laut denken«, ätzte Gina Gladow vom Fahrersitz aus. »Ich durchschaue Sie sowieso.«