Der letzte Prozess

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Verfluchte Hexe, dachte Lenz. Statt zu antworten, biss er sich auf die Zunge und für einen Augenblick loderte vor seinem geistigen Auge ein Scheiterhaufen auf. Aber wirklich nur für einen ganz kurzen Augenblick.

9

Fabian Heller

– freier Journalist –

– Recherchen aller Art –

Das Messingschild neben der Tür des Mehrfamilienhauses im Pählenweg im Hammer Stadtteil Westtünnen war halb von einem weiß-grünen Plädderschiss verdeckt. Bevor Heller die Haustür aufschloss, wischte er den Vogeldreck mit einem Papiertaschentuch ab. Er betrat den Hausflur und öffnete seinen Briefkasten. Ein Stapel Briefe und jede Menge Werbung quollen ihm entgegen. Er stöhnte leise auf, sortierte die Hochglanzbroschüren aus, die überwiegend von Discountern stammten, verteilte sie auf die benachbarten Briefkästen und erklomm mit seiner Stofftasche und den Briefen in der Hand die Treppe bis in den dritten Stock.

Bereits auf halber Höhe roch er das muffige Wischwasser und als er die letzte Biegung genommen hatte, kroch seine Etagennachbarin ihm auf den Knien rückwärts die Treppe herab entgegen. Es würde nichts nützen, sie darauf hinzuweisen, dass dies eigentlich seine Wisch-Woche war. Sie wusste das ganz genau und dies war ihre Art, ihn auf seine Pflichtvergessenheit aufmerksam zu machen. Heller hatte den Eindruck, dass sie ihm hinter ihren Fenstern auflauerte und immer genau in dem Moment zu wischen begann, in dem er das Haus betrat. Wie üblich beantwortete sie seinen Gruß auch heute nur mit einem vorwurfsvollen Schweigen und leidend zusammengekniffenen Lippen. Die Frau war noch keine dreißig und schon verbiestert wie eine alte Jungfer. So hat jeder seine eigene Art, sich selbst und anderen das Leben zu vermiesen.

In der Küche warf er die Briefe auf den Tisch und stellte die Stofftasche auf einen Stuhl. Dann holte er sich eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank, öffnete sie und ließ Flaschenöffner und Kronkorken achtlos auf der Arbeitsplatte zurück. Während er die Flasche mit einem langen Zug halb leerte, schlurfte er durch den kleinen Flur hinüber in sein Büro und ließ sich auf den Drehstuhl fallen. Das rote Lämpchen des Anrufbeantworters auf dem Schreibtisch blinkte. Statt die entgangenen Anrufe sofort abzurufen, erhob er sich unruhig wieder, trat an das Fenster in der Dachgaube und blickte hinaus über die Weiden auf den Hüls, das kleine Wäldchen ein paar hundert Meter entfernt. Ein Turmfalke stand rüttelnd in der dunstigen Luft über dem matten Grün. Plötzlich flog er ein paar Meter weiter und nahm dort erneut seinen Beobachtungsposten ein. Die blattlosen Baumkronen drüben am Wald wiegten sich leicht im Wind. Darüber kündigte sich in den Wolkenschlieren im Übergang von Gelb nach Orange die Dunkelheit an.

Fabian Heller fühlte sich wie ausgelöscht. Langsam leerte er die Bierflasche und sah zu, wie der Falke, der offenbar aus seiner schwindelerregenden Höhe eine Maus da unten im Gras entdeckt hatte, sich pfeilschnell in die Tiefe stürzte. Triumphierend sicherte das Tier seine Umgebung, bevor es mit schnellen Stößen auf die Beute zwischen seinen Fängen einzuhacken begann.

Heller ließ die leere Bierflasche auf dem Fensterbrett stehen, auf dem bereits drei andere standen, und wandte sich erneut seinem Schreibtisch zu. Er betätigte mehr aus Pflichtgefühl als aus einem inneren Antrieb heraus die Abruftaste des Anrufbeantworters, die hektisch blinkte.

Hartmut Brenner, der Chefredakteur des Westfälischen Anzeigers, hatte erstmals am Mittag und dann in immer kürzeren Abständen den ganzen Nachmittag über versucht, ihn zu erreichen. Von Anruf zu Anruf wurde die Stimme ungeduldiger und die für ihn charakteristischen Flüche nahmen zu. Brenner war wohl der größte Proll, dem Heller jemals begegnet war.

Zum letzten Mal hatte der Chefredakteur es um 19 Uhr versucht: »Verdammt, Heller, wo steckst du denn? Kannst du nicht einmal dein Handy mitnehmen, verflucht noch mal? Wir warten hier auf deinen Bericht vom Prozess. Wenn du dich bis morgen Mittag nicht meldest, rufe ich Rogalski an. Dann kannst du dir den Auftrag in den Arsch schieben, verlass dich drauf. Immer so ein Affentheater mit dir! Scheiße, Mann!«

Fabian Heller musste grinsen, als er sich vorstellte, wie Brenner als Rumpelstilzchen um seinen Schreibtisch herumgesprungen und immer wütender geworden war. Allein um das jeden Tag sehen zu können, hätte er gerne eine Festanstellung bei der Zeitung gehabt. Nebenbei wäre er dann endlich abgesichert gewesen. Aber heutzutage konnte man froh sein, wenn man hin und wieder als freier Mitarbeiter einen Auftrag über den Zaun geworfen bekam. Er griff zum Telefonhörer und wählte die Nummer der Redaktion.

»Na endlich«, schnauzte Brenner. Offensichtlich hatte er Hellers Telefonnummer auf dem Display erkannt. »Wo steckst du denn den ganzen Tag? Ich sitze hier auf heißen Kohlen, während der Herr sich fröhlich irgendwo die Eier schaukelt. Demnächst wird das Nazischwein in Detmold verurteilt und wir kriegen das nicht mit. Scheiße, Mann!«

Fabian Heller ignorierte die Pöbelei, weil Widerspruch bei Brenner eh zu nichts geführt hätte. Stattdessen erinnerte er den Chefredakteur daran, dass heute der erste Prozesstag gewesen war, von Urteil also weit und breit noch keine Spur. Dann berichtete er kurz von den Ereignissen im Gerichtssaal, die nach der ersten Zeugenaussage ein jähes Ende gefunden hatten, da die für den Angeklagten zumutbare Zeit abgelaufen war.

»Na bitte, da hattest du ja Zeit genug, den Bericht zu schreiben.«

Heller überlegte, ob er von seinem Besuch im Haus seiner Mutter erzählen sollte, aber das hätte Brenner nicht verstanden. »Ich bin da noch einer anderen Sache nachgegangen«, flunkerte er stattdessen. »Heute Morgen hat eine alte Holocaust-Leugnerin versucht, in den Sitzungssaal zu kommen. Eine junge Aktivistin hat das verhindert. Tolle Geschichte, sagt viel über das Umfeld aus, in dem der Prozess stattfindet.«

»Und das hat den ganzen Nachmittag gedauert, oder was?«

»Jedenfalls habe ich jetzt etwas, das die anderen Zeitungen so nicht bringen werden.«

»Na ja, abwarten, ob das was taugt. Wann habe ich es in meinem Postfach?«

»Gib mir eine Stunde.«

Brenner schnaufte ungehalten. »Was ist mit Bildern? Ich hoffe, du hast Fotos von Hanning gemacht.«

Mist, dachte Heller, jetzt hatte Brenner ihn an der Gurgel. »Nein, keine Fotos«, gab er betreten zu.

»Wie bitte? Keine Fotos? Verfluchte Scheiße, Heller, ich will, dass das Grauen ein Gesicht bekommt. Eine Fresse, in die man reinschlagen möchte, wenn man deinen Bericht liest.«

»Das funktioniert aber nicht. Du hättest den Alten sehen sollen. Typ lieber Opa. Wenn unsere Leser den sehen, bekommen sie am Ende noch Mitleid mit dem Dreckskerl. Da ist es besser, man zeigt seine Visage erst gar nicht.«

Einen Moment blieb es still am anderen Ende. Heller konnte nicht entscheiden, ob Brenner seine Argumente langsam verarbeitete, oder ob er einfach nur sprachlos war über so viel Unverfrorenheit.

»Also gut, Heller, ich lasse dir das ausnahmsweise durchgehen«, kam es unerwartet zurück. »Aber dann will ich demnächst Fotos von den Opfern. Wenn wir schon keine Wut gegen den Täter erzeugen können, will ich bei unseren Lesern wenigstens Mitleid mit den Opfern. Leser, die nichts fühlen, wenn sie unser Blatt lesen, laufen uns weg zur Blöd-Zeitung. Und das kannst ja wohl selbst du nicht verantworten.«

Was heißt hier ›selbst ich nicht‹, wollte Heller schon fragen, aber dann entschied er sich dagegen. Manchmal war Schweigen besser, vor allem im Umgang mit Cholerikern wie Brenner. Sollte der Idiot doch glauben, dass er das letzte Wort behielt.

»Ich mache mich dann mal an die Arbeit«, sagte er stattdessen und bemühte sich um einen reuigen Tonfall.

»Moment. Verflucht, jetzt hätte ich das Wichtigste fast vergessen«, beeilte sich Brenner. »Scheiße, Mann, ich werde alt. Also, pass auf: Du bist ja sowieso ständig auf dem Weg nach Ostwestfalen. Da gibt es so ein Kaff in der Nähe von Paderborn, das heißt Wewelsburg. Sagt dir das was?«

Irgendwas klingelte da bei Heller. Er kramte in seinen Gehirnwindungen, bis schließlich ein Schild an einer Auto­bahnabfahrt auf der A 33 zwischen Paderborn und dem Kreuz Wünnenberg-Haaren in seiner Erinnerung auftauchte. »Deutschlands einzige Dreiecksburg«, rezitierte er, als müsse das jeder wissen, weil man es in der Schule eingebimst bekam – so wie ›Drei drei drei, bei Issos Keilerei‹ oder ›tensixtysix, William the Conquerer conquers England‹.

»Genau. Himmlers Burg«, verkündete Brenner. »Und die steht, wenn man den Annalen glauben will, auf nicht weniger als dem Mittelpunkt der Welt. Genau da ist letzte Nacht ein alter Knacker über die Wupper gegangen – beziehungsweise über die Alme, die da fließt.«

»Momentchen. In einem Kaff in Ostwestfalen stirbt ein alter Mann, richtig? Kannst du mir mal verraten, was daran so besonders ist? Wenn das schon eine Meldung wert ist, brauche ich Hamm nicht zu verlassen; hier stirbt jeden Tag irgendjemand an Altersschwäche.«

»Da hättest du recht«, ging Brenner scheinbar auf das Argument ein, »wenn der Alte einfach so entschlafen wäre.«

»Ist er aber nicht?«

»Ist er aber nicht. Der wurde von einem Felsen erschlagen. Soll kein schöner Anblick gewesen sein.« Brenner lachte leise meckernd.

»Ich verstehe immer noch nicht«, wandte Heller ein. »Auch das soll auf Butterfahrten und Seniorenausflügen gelegentlich vorkommen. Sind ja nicht mehr ganz so rüstig, die alten Leute, und klettern überall rum, wo sie nicht sollen. Da kommt dann schon mal ein Steinchen ins Rutschen. Und wenn du dann ungünstig stehst …«

»Jetzt warte doch erst mal ab, Mann!«, wurde Brenner ungehalten. »Der Alte hatte in dem Kaff gar nichts zu suchen. Der war auf keiner Butterfahrt, sondern er ist drei Tage vorher mit seinen über neunzig Jahren aus einem Altersheim im Nachbarort Büren verschwunden. Das liegt immerhin 10 Kilometer entfernt.«

 

»Bisschen weit mit dem Rollator«, gab Heller zu. »Erklärt aber, warum er drei Tage gebraucht hat.«

»Quatsch! Meine Spione bei der Kripo in Paderborn haben mir zugeflüstert, dass der Alte vor seinem Tod gefoltert worden ist. Der Felsen soll auch nicht irgendwo auf morsche Knochen geprallt sein, sondern seine Rübe zermalmt haben. Regelrecht zermatscht hat es den. Und ordentlich ausgepeitscht worden soll er vorher auch noch sein.« Brenner lachte dreckig. Für Heller wurde nicht ersichtlich, was daran so lustig war.

Er pfiff leise durch die Zähne. »Jetzt verstehe ich. Der ist nicht einfach nur aus seiner Seniorenresidenz abgehauen, um auf seine alten Tage noch einmal durchs Paderborner Land zu krauchen, bevor der Deckel über ihm zuklappt. Der ist entführt und grausam gemeuchelt worden.«

»Na bitte, so langsam scheinst du zu begreifen. Und es kommt noch besser: In letzter Zeit ist die Sterberate in dem Greisengehege in Büren sprunghaft angestiegen. Nachtigall, ick hör dir trapsen! Also, Heller, was ist? Übernimmst du den Job, oder soll ich Rogalski die Kohle zuschieben? Der kriegt dann aber auch den Prozess, damit das mal klar ist. Ich zahle doch nicht zweimal Fahrtkosten und Spesen.«

»Apropos Kohle: Ich bekomme den üblichen Tagessatz – zusätzlich zu der Prozess-Sache.«

Heller hatte schon das Gefühl, sein Blatt nun endgültig überreizt zu haben und die Story los zu sein, als Brenner zu seinem Erstaunen antwortete: »Kriegst du, Alter, kriegst du. Aber dafür will ich auch etwas haben. Reicher mir die knochige Brühe mit reichlich Fleisch an. Du weißt schon, was ich brauche. Ich verlasse mich da auf deinen Riecher; lang genug ist der ja. Und diesmal will ich Fotos haben – je unappetitlicher, desto besser. Miete dich in Wewelsburg ein, schnupper Dorfluft. Mach ein paar Tage Urlaub am Mittelpunkt der Welt auf meine Kosten. So kommst du wenigstens mal raus aus deiner Muffbude und hast es bis Detmold nicht immer so weit.«

Heller überlegte kurz. So ganz spektakulär hörte sich das ja nicht an. Irgendwer hatte sich einen Spaß daraus gemacht, einen alten Mann ein bisschen zu piesacken. Genug Bekloppte liefen ja heute überall rum. Und wer weiß, vielleicht hatte der Mörder ja auch allen Grund dazu gehabt, weil der Alte ein Stinkstiefel gewesen war. Und dass in Altersheimen gelegentlich Abgänge zu verzeichnen waren, noch dazu im Winter, wenn die Fluktuation in der Gesellschaft allgemein besonders hoch war, schien auch nicht außergewöhnlich. Außerdem stand das Thema Tod momentan bei Heller nicht hoch im Kurs.

Andererseits: Was hielt ihn davon ab, Brenners ungewöhnliche Großzügigkeit auszunutzen und die zusätzliche Kohle abzugreifen? Sonderlich kompliziert konnte der Fall ja nicht sein. Und so schnell würde er eine solche Gelegenheit nicht wieder bekommen. Ein paar Tage an der frischen Luft auf dem Lande, umgeben von Burgruinen und Kühen – das würde ihn auf andere Gedanken bringen. Wenn da nicht dieses Misstrauen gewesen wäre, denn Brenner hatte noch nie etwas verschenkt.

»Was ist los, Heller? Lebst du noch?«, riss die ungeduldige Stimme des Chefredakteurs ihn aus seinen Gedanken. »Oder bist du eingeschlafen, verdammt noch mal? – Ich fasse es nicht: Da biete ich dem Kerl eine echte Chance und der pennt einfach weg!«

Heller musste grinsen. Er kannte Brenner inzwischen zu gut, um ihm diese Theatralik abzunehmen. »Also gut, ich mach’s. Mail mir alles, was du hast. Morgen fahre ich los und suche mir ein Zimmer in dem Kaff.«

»Guter Junge. Und in einer Stunde habe ich deinen Bericht auf dem Schirm, sonst war das der letzte Auftrag, den ich dir zugeschoben habe. Scheiße, Mann!«

Bevor Heller darauf antworten konnte, hatte Brenner das Gespräch beendet. Nachdenklich legte er den Hörer ab. Wenn Brenner so wenig fluchte wie in diesem Gespräch, musste man vorsichtig sein. Dann lag der Verdacht nahe, dass er etwas von einem wollte und noch einiges in petto hatte.

Er trat wieder an das Fenster und blickte hinaus. Die Dämmerung war dabei, den Wald zu verschlucken. Die Bäume hatten deutlich an Kontur verloren. Auch von dem Turmfalken war nichts mehr zu sehen. Dunst lag wabernd über der Weide und erinnerte an Nebel über dem Moor in den alten Edgar-Wallace-Filmen. Heller fröstelte bei dem Anblick.

Vielleicht war es wirklich ganz gut, sich in einen Auftrag zu stürzen, der ihn nicht immer nur alle paar Tage für ein paar Stunden beschäftigte. Besser, als zu Hause rumzuhängen und Trübsal zu blasen, war das allemal. In Wewelsburg entging er auch seinen Freunden und Verwandten, die ihn seit dem Tod seiner Mutter an den letzten Wochenenden immer fürsorglich belagert hatten. Je mehr er darüber nachdachte, desto besser gefiel ihm die Idee. Er würde niemandem Bescheid geben und einfach abtauchen. Allenfalls eine kurze Meldung auf dem AB, ohne Kontaktadresse. Nur eine Woche Auszeit. Höchstens zwei, falls Brenners Geld so lange ungehindert fließen würde.

Heller schlurfte zum Schreibtisch, schaltete seinen PC ein, atmete tief durch, holte seine Aufzeichnungen heraus und begann den Bericht über den Prozessauftakt in Detmold mit der Schilderung der nordrhein-westfälischen Kavallerie.

*

Oranienburg, 24. Oktober 1939

Geliebtes Muttchen!

Ich sende Dir herzliche Grüße aus dem KZ Sachsenhausen. Jetzt bin ich schon wieder fünf Wochen fern von Dir und den Kindern und so sehr im Lagertrott, als hätte es den Heimaturlaub gar nicht gegeben.

Das Wetter ist hier nun sehr herbstlich, feucht und kalt und das ist wahrlich kein Vergnügen bei der Arbeit im Freien. Ich muß zum Glück erst in der kommenden Woche wieder mit hinaus in die Kälte und den Regen. Den Häftlingen macht das nichts, die sind das gewohnt und fühlen auch nicht so wie wir. Zu bedauern sind allerdings die Kameraden, die jetzt Urlaub haben bei dem schlechten Wetter.

Am Freitag hatten wir einige Aufregung im Lager, denn in der Ziegelei war ein Mann verschwunden. Ich habe ihn von 2000 Häftlingen suchen lassen. Und was soll ich sagen? Der Aufwand hat sich gelohnt. Ich habe ihn gefunden. Er hatte sich unter einer Maschine eingegraben, um später zu entkommen. Ich habe kurzen Prozess gemacht und ihn vor den Augen der anderen Häftlinge sofort erschossen, damit niemals wieder einer auf den Gedanken kommt, in meinem Dienst einen Fluchtersuch zu wagen.

Du wirst das nun grausam finden, weil Du eine so feinfühlige Person bist, aber ich muß Dir sagen, daß man die Gefangenen nicht als Menschen betrachten darf. Sie sind Staatsfeinde, mit denen wir uns täglich im Überlebenskampf befinden. Und Du wirst ja nun einsehen, daß wir den gewinnen müssen, nicht wahr? Außerdem hätte es sicher Nachteile für mich zur Folge, wenn bei meiner Wache jemand verschwinden würde. Da heißt es: hart sein gegen sich und die Feinde des Reiches!

Aber das ist noch nicht alles an Neuigkeiten! Ich werde nämlich am Montag, den 11. Dezember, nach Ostwestfalen abkommandiert. Mein hartes Vorgehen und meine Unnachgiebigkeit gegenüber dem Häftlingsabschaum hier in Sachsenhausen hat sich endlich ausgezahlt und der Reichsführer ist auf mich aufmerksam geworden.

Ich werde als Wachsturmführer mit 35 Kameraden und 85 Häftlingen im Auftrag Heinrich Himmlers nach Wewelsburg gehen. Der Reichsführer besitzt dort eine Ordensburg, die in sehr schlechtem Zustand ist und die wir ausbauen sollen. Das ist natürlich eine große Ehre für mich und Du darfst recht stolz sein auf deinen Vati, daß der Reichsführer ihm eine solche Aufgabe überträgt. Außerdem verkehren auf der Burg die höchsten Würdenträger der SS und ich werde ihnen zumindest hin und wieder begegnen.

Sturmführer entspricht dem Leutnant bei den kämpfenden Truppen. Wenn ich bedenke, daß ich bei der Wehrmacht nicht einmal Unteroffizier war, bin ich doch froh, zur SS gegangen zu sein, denn hier habe ich schon den höchsten Unteroffiziersdienstgrad erreicht und werde nun sogar Offizier. Da siehst Du einmal, wie wichtig mein Dienst im KZ ist, daß er so belohnt wird.

Aber nun etwas anderes: Was wünschen sich die Kinder und mein Muttchen denn vom Weihnachtsmann? Noch bin ich in Oranienburg und kann mich darum kümmern, sofern es nichts ist, wofür ich Bezugsscheine brauche. Wer weiß, ob es in Wewelsburg das zu kaufen gibt, was Ihr Euch wünscht.

An Weihnachten bekomme ich Heimaturlaub. Ich kann es gar nicht erwarten, Dich, mein Hausmütterchen, und die Kinder wieder in die Arme zu schließen. Natürlich muß es zum Weihnachtsmahl Karpfen geben! Weihnachten ohne Karpfen ist doch nichts. Ich bringe schon seit Längerem kleine Portionen Butter beiseite und werde bis zum Urlaub sicherlich ein halbes Pfund beisammenhaben. Kaufen kann man Butter hier schon länger nicht mehr und auch andere Lebensmittel sind streng rationiert. Und Grünkohl mit Bratkartoffeln mußt Du mir einmal kochen, wenn ich zu Hause bin.

Nun, liebe zukünftige Frau Sturmführerin, muß ich mich wieder auf die Bewachung der Staatsfeinde konzentrieren.

Also, Muttchen, behalte deinen Vati recht lieb! Es grüßt und küßt Dich

Dein Dir immer treuer Vati!

10

Im Besprechungszimmer herrschte abwartendes Schweigen, als Stefan Lenz eintrat. Schröder hatte vorsorglich seitlich am Tisch Platz genommen, gegenüber von Gina Gladow, und stierte auf den unbeschriebenen Notizblock, der vor ihm lag. KK Henke klopfte mit dem Bleistiftrücken im Takt auf die Tischplatte und die Oberkommissare Jakobsmeier und Steinkämper wechselten gelangweilte Blicke.

»So, Kollegen.« Lenz setzte sich ans Kopfende des Tisches. »Dann lasst uns zügig anfangen, damit wir alle in den Feier­abend kommen. Frau Gladow, setzen Sie das Team bitte über unseren Besuch in Büren ins Bild.«

Erstaunt blickte die Kriminalkommissarin ihn an, begann aber dann mit einem flüssigen Vortrag. Lenz war beeindruckt von der Sicherheit, mit der sie ihren Bericht so ganz ohne Vorbereitung strukturierte. Als sie die Lebenshintergründe Anton Kottmanns und der anderen alten Leute in Trakt B referierte, erntete sie ungläubiges Gemurmel aus der Runde. Ihre Beschreibung des Pflegers Wolfgang, von dem Lenz nun erstmalig erfuhr, dass er mit Nachnamen Kaup hieß und in Niederntudorf wohnte, rief schließlich allgemeines Kopfschütteln hervor.

KOK Jakobsmeier urteilte: »Das darf doch nicht wahr sein. Was ist denn das für ein brauner Sumpf?«

»Genau das müssen wir klären«, stimmte Lenz zu. »Ich glaube zwar noch nicht daran, dass wir es wirklich mit einem Serientäter zu tun haben, aber die Todesumstände des Opfers Kottmann könnten ja durchaus im Zusammenhang mit seiner früheren Lagertätigkeit stehen. Der Auffindeort der Leiche spricht jedenfalls dafür.«

Gina Gladow legte das Fotoalbum, das sie mitgenommen hatten, unter ein Projektionsgerät, blätterte es langsam durch und warf die Bilder so nacheinander auf das Smartboard.

»Kann jemand von Ihnen etwas mit den Motiven anfangen?«, erkundigte sich Lenz.

»Das müsste der Wewelsburger Steinbruch sein, in dem die Häftlinge schuften mussten«, antwortete KOK Jakobsmeier.

»Dass man so etwas in einem privaten Album aufbewahrt«, zeigte sich Steinkämper verständnislos. »Ob der Alte die Fotos damals selbst geschossen hat? Wie Urlaubsfotos oder so? Blättert man das Album dann mit den alten Kameraden durch und erfreut sich an den schönen Erinnerungen, oder was?«

»Offensichtlich«, antwortete Lenz. »Wir haben das Album jedenfalls im Nachtschränkchen des alten Mannes gefunden.«

»Vielleicht ist das die Parallele zu dem Felsbrocken, mit dem der Alte erschlagen wurde«, überlegte Jakobsmeier. »Auch die Peitschenhiebe passen in das Bild. Und wenn die Nazi-Täter so alt werden, gilt das auch für die Überlebenden unter ihren Opfern. Vielleicht übt einer von denen nun Rache.« Auf das skeptische Gemurmel seiner Kollegen hin ergänzte er: »Na ja, es muss ja keiner der Alten selbst sein. Vielleicht ist es ein Nachfahre eines Opfers.«

»Sehr guter Ansatz, Kollege«, lobte Lenz. »Verfolgen Sie das bitte weiter. Frau Gladow wird Ihnen im Anschluss die Dokumente des Toten geben, die uns vielleicht weiterhelfen. Und versuchen Sie auch herauszubekommen, welche Funktion die andere Verstorbene aus der Residenz seinerzeit hatte, diese … wie hieß die doch gleich?« Er blickte Gina Gladow hilfesuchend an.

»Elfriede Gerken.«

»Richtig. Kollege Schröder, Sie und Herr Steinkämper nehmen alle anderen Bewohner aus Trakt B unter die Lupe. Wir müssen jeder Überraschung in dem Fall vorbeugen. Falls es wirklich kein einzelner Mord gewesen sein sollte, haben wir eine Menge aufzuarbeiten. Außerdem wird der Täter dann möglicherweise weitermachen und ich möchte vorbereitet sein.« Schröder verzog keine Miene, während KOK Steinkämper eifrig nickte und sich Notizen machte. »Frau Gladow geht auf die Suche nach überlebenden Opfern, die hier in der Nähe wohnen, und nimmt Kontakt zu der Ärztin auf, die Frau Gerkens Totenschein ausgestellt hat. Ich will alles über die Krankengeschichte und die genauen Todesumstände wissen. Haarklein. Im Zweifel buddeln wir sie wieder aus und obduzieren selber noch einmal. Wir können es uns nicht leisten, dass uns ein paar alte Nazis vorwerfen, wir würden einem Mordverdacht nicht hinreichend nachgehen. Ich will den Fall absolut wasserdicht haben.«

 

»Zu Befehl«, erwiderte Gina Gladow und vermied den direkten Blickkontakt.

»Gut, Kollegen.« Lenz schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Morgen ist Samstag, da müssen Sie alle ran. Mord­ermittlungen kennen zwar eigentlich kein Wochenende, aber den Sonntag gönne ich Ihnen. Am Montag erwarte ich erste Ergebnisse.«

»Und was machen Sie in der Zeit?«, entwischte es KHK Schröder in angefressenem Tonfall.

»Ich habe noch zwei Tage Urlaub«, entgegnete Lenz. »Aber Sie können beruhigt sein. Ich werde die Umgebung des Tatortes mal genau unter die Lupe nehmen. Immerhin bin ich der Einzige hier, der bis heute völlig ahnungslos war, auf was für einem historischen Boden ich in Zukunft tätig werde. Ich habe also einiges aufzuarbeiten.« Er schob seinen Stuhl zurück, stemmte sich auf der Tischplatte hoch und blickte unternehmungslustig in die Runde. »Wie sieht’s aus? Sie kennen doch sicher eine nette Kneipe in der Nähe, in der ich Ihnen zum Einstand einen ausgeben kann. Nur auf ein Stündchen.«

»Tut mir leid, Chef«, sagte KOK Jakobsmeier. »Ich muss nach Hause und auf die Kleine aufpassen. Meine Frau hat heute Mädels­abend. Einmal im Monat zieht sie mit ihren Freundinnen um die Häuser. Der Abend ist ihr heilig.«

»Ich kann auch nicht«, schloss sich KOK Steinkämper an, ohne das näher zu erläutern.

KHK Schröder murrte: »Auf mich müssen Sie auch verzichten. Hat ja schließlich keiner damit rechnen können, dass Sie hier heute aufkreuzen.«

Gina Gladow schwieg, allerdings sah Lenz ihr an, dass ihr in der Situation nicht ganz wohl war. Vielleicht konnte er bei ihr Punkte sammeln, wenn er sie nicht auch noch persönlich ansprach.

»Gut, Kollegen, dann holen wir das ein anderes Mal nach«, schloss Lenz so beiläufig wie möglich. »Dann mit etwas mehr Vorlauf. Schönen Feierabend!«

Stühle wurden geschoben, Papier raschelte, Schröder stürmte hinaus, die anderen Kollegen unterhielten sich leise, während sie ebenfalls den Besprechungsraum verließen. Lenz ging zu seinem Vorzimmer, wo Frau Gellert mit einem Headset vor ihrem PC-Bildschirm saß.

Als er eintrat, nahm sie die Kopfhörer ab und blickte ihn lächelnd an. »Sie haben sich Ihren Einstand auch anders vorgestellt, was? Noch bevor Sie richtig da sind, schon das volle Programm.«

Lenz winkte ab. »So ist das nun mal in unserem Job. Wenn ich es anders haben wollte, wäre ich zum Finanzamt gegangen. Aber ich fürchte, beliebter wäre ich dann auch nicht.«

Frau Gellert lachte.

»Sagen Sie«, Lenz bemühte sich um einen angemessen hilflosen Gesichtsausdruck, »Sie haben heute Abend wohl keine Zeit, mir das eine oder andere lohnende Lokal in Paderborn zu zeigen? Ich kenne mich ja noch nicht aus und habe keine Lust, einsam durch die Stadt zu irren.«

Wieder lachte Frau Gellert, schüttelte aber den Kopf dabei. »Ich bin sicher, dass Sie sich auch ganz schnell alleine zurechtfinden werden.«

Lenz seufzte theatralisch und verließ mit hängenden Schultern den Raum.

Die Wohnung in der Kiesau empfing ihn düster und kalt. Lenz warf seine Reisetaschen, in denen sich seine gesamte Kleidung befand, gleich im Flur in eine Ecke und drehte erst einmal eine Runde durch die Räume. Er hatte die Wohnung gemietet, ohne sie sich vorher angesehen zu haben, und so war er einigermaßen erschrocken über die Möblierung in Eiche Brutal, die sich durch alle Zimmer zog. Am schlimmsten war die Schrankwand im Wohnzimmer, die seine Augen neben der kackebraunen Farbe auch noch mit der goldschimmernden Bleiverglasung einer Vitrine traktierte. Übertroffen wurde das allenfalls von der Sitzgarnitur, deren beiger Bezug geradezu stachelig wirkte. Alles im Raum atmete den Verwesungsbrodem der alten Frau, die hier jüngst verstorben war.

Das Schlafzimmer war ähnlich grauenhaft. Lenz ärgerte sich, dass er den Kollegen für den kommenden Tag einen Besuch in Wewelsburg versprochen hatte. Wenn er das alles hier sah, hätte er besser einen Möbelwagen gemietet, den ganzen Schrott abgerissen und zur Müllkippe gebracht und wäre dann direkt zu IKEA gefahren. Es schüttelte ihn, wenn er daran dachte, auch nur eine Nacht in dem Mördertrumm von Ehebett schlafen zu müssen.

Die Küche war erwartungsgemäß klein, aber umfänglich ausgestattet. Das Bad schreckte mit glänzenden dunkelgrün-braun-marmorierten Fliesen ab, aber immerhin gab es in der Badewanne sogar einen Duschvorhang, wenn auch mit lila Blütenmuster. Der würde sich schnell auswechseln lassen. Und dann gab es noch ein kleines Zimmer mit Fenster zur Straße, in dem Lenz einen alten Sekretär vorfand. Dieses Möbelstück würde er, abgesehen von der Küche, wohl als einziges behalten.

Lenz trat an das beschlagene Fenster, drehte den Heizkörper darunter auf und blickte hinunter auf die Straße. Die Wohnung befand sich im zweiten Stock. Nebenan lag das Deutsche Haus, ein Restaurant der gutbürgerlichen Art. Daneben befanden sich Studentenkneipen. Direkt gegenüber lag der Lockvogel, eine Art Bistro, das von hier aus so modern wie gemütlich wirkte. Etwas weiter die Straße hinauf, das hatte Lenz beim Einparken gesehen, gab es ein Paderborner Brauhaus mit angrenzendem Biergarten. Die vielfältige Gastronomie in direkter Nähe und die zentrale Lage am Pader-Quell-Gebiet, nur fünf Minuten Fußweg von der Innenstadt entfernt, waren durchaus geeignet, ihn zumindest vorübergehend mit dem Umzug nach Paderborn zu versöhnen.

Lenz gab sich einen Ruck. Was sollte er den Abend in der Tristesse seiner Wohnung verbringen, wenn da draußen das Leben tobte? Er stieß sich von der Fensterbank ab und verließ seine Eichegruft, um das Brauhaus einer intensiven ersten Recherche zu unterziehen.

*

Stade, den 30. Oktober 1939

Mein lieber stolzer Offizier!

Nun liegt wieder ein lieber Brief von Dir vor mir auf dem Tisch, den ich gleich beantworten will.

Was habe ich mich über Deine Beförderung gefreut! Ich habe gleich den Kindern davon erzählt, dass der Vati nun Sturmführer ist und sogar den Reichsführer persönlich kennt, und da ist der Anton durch die Stube marschiert und war auch Sturmführer. Der Junge vermisst Dich ganz besonders.

Was Du von dem Fluchtversuch geschrieben hast, hat mich schon erschreckt, aber Ihr habt den Verbrecher ja zum Glück wieder eingefangen. Und wenn Du Dir Sorgen darüber machst, was ich über die Härte denke, die Du ihm angedeihen lassen hast, so unterschätzt Du Dein Mütterchen aber gewaltig. Es ist nur gut, daß Du ihn gleich erschossen hast. Das hat er nicht besser verdient und wird den anderen Häftlingen eine Lehre sein. Nicht auszudenken, wenn jeder einfach so ausbrechen und im Volk sein Unwesen treiben könnte!

Ich stelle mir vor, dass Dein Dienst hart ist mit all den Verbrechern, die Du dort bewachen mußt. Laß ihnen die nationalsozialistische Erziehung nur recht deutlich angedeihen.