Lolly Willowes

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Sylvia Townsend Warner

Lolly Willowes

oder Der liebevolle Jägersmann

Roman

Aus dem Englischen von Ann Anders

Mit einem Nachwort von Manuela Reichart

DÖRLEMANN

Die englische Originalausgabe »Lolly Willowes; or The Loving Huntsman« erschien 1926 bei Chatto & Windus, London.




Für Bea Isabel Howe

Überarbeitete Übersetzung

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Copyright © 1926 Sylvia Townsend Warner

Copyright © 1978 Beneficiaries of Sylvia Townsend Warner

First published in the United Kingdom in the English language in 1926 by Chatto & Windus. Published in 1993 by Virago Press, an imprint of Little, Brown Book Group.

© 2020 Dörlemann Verlag AG, Zürich

Umschlaggestaltung: Mike Bierwolf

Umschlagfoto: © Julietphotography/Shutterstock

Porträt Seite 5: © Howard Coster. National Portrait Gallery, London

Satz und eBook-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-908778-79-0

www.doerlemann.com

Inhalt

  Cover

  Titelei und Impressum

  Porträt

  Teil 1

  Teil 2

  Teil 3

  »Weil ich selber eine bin«

  Zum Buch

  Zur Autorin und zu ihrer Übersetzerin sowie zur Verfasserin des Nachworts


Sylvia Townsend Warner

Teil 1

Als ihr Vater starb, zog Laura Willowes nach London zu ihrem älteren Bruder und seiner Familie.

»Natürlich wirst du«, sagte Caroline, »bei uns wohnen.«

»Aber das bringt all eure Pläne durcheinander. Es macht doch solche Umstände. Bist du sicher, dass ihr mich haben wollt?«

»Aber, Liebste, ja.«

Caroline sprach voll Zuneigung, aber in Gedanken war sie woanders. Sie war bereits nach London zurückgekehrt, um ein Federbett für das kleine Gästezimmer zu kaufen. Wenn man den Waschtisch zur Tür hinrücken würde, wäre dann neben dem Kamin noch Platz für den Schreibtisch? Vielleicht wäre auch eine Kommode der zusätzlichen Schubladen wegen günstiger? Ja, das war’s. Lolly konnte den kleinen Sekretär aus Walnussholz mit den falschen Griffen auf der einen Seite und mit dem Deckel, der aufsprang, wenn man die Feder neben dem Tintenfass berührte, mitbringen. Er hatte Lollys Mutter gehört, und Lolly hatte ihn immer benutzt, weshalb Sibyl keine Einwände erheben konnte. Sibyl hatte eigentlich überhaupt keinen Anspruch auf ihn. Sie war erst seit zwei Jahren mit James verheiratet, und falls der Sekretär auf der Tapete im Damenzimmer Ränder hinterlassen sollte, so konnte sie doch leicht ein anderes Möbelstück davorstellen. Ein Gestell mit Farnen und anderen Topfpflanzen würde sich dort gut machen.

Lolly hatte ein sanftes Wesen, und die kleinen Mädchen liebten sie – sie würde sich bald in ihrem neuen Zuhause einleben. Das große Gästezimmer konnten sie Lolly nicht geben, und das kleine Zimmer war das praktischere von beiden für gewöhnlichen Besuch. Es schien übertrieben, ein Paar großer Leintücher für einen einzigen Gast zu waschen, der nur wenige Nächte blieb. Aber so war es nun einmal, und Henry hatte recht – Lolly sollte zu ihnen ziehen, London würde eine schöne Abwechslung für sie sein. Sie würde nette Menschen kennenlernen, und ihre Chance zu heiraten wäre in London größer. Lolly war achtundzwanzig. Sie würde sich beeilen müssen, wenn sie noch einen Mann finden wollte, bevor sie dreißig war. Arme Lolly! Schwarz stand ihr überhaupt nicht. Sie sah fahl aus, und ihre blassen grauen Augen waren noch blasser und auffallender als sonst unter diesem völlig unkleidsamen, schwarzen Pilzhut. Trauerkleider sahen nie vorteilhaft aus, wenn man sie in der Provinz kaufte.

Während Caroline diese Gedanken durch den Kopf gingen, dachte Laura an gar nichts. Sie hatte eine rote Geranie gepflückt und betupfte ihr linkes Handgelenk mit dem Saft der zerdrückten Blütenblätter. So hatte sie, als sie jünger war, ihre blassen Wangen gefärbt und sich dann über die Regentonne am Gewächshaus gebeugt, um zu schauen, wie sie aussah. Aber das Spiegelbild zeigte nur eine dunkle, verschwommene Lolly, sehr dunkel und sanft wie die Dame auf dem alten Heiligenbild, welches im Esszimmer hing und als der Leonardo bezeichnet wurde.

»Die Mädchen werden sich sehr freuen«, sagte Caroline. Laura riss sich zusammen. Es war also alles entschieden, und sie würde in London mit Henry und Caroline, seiner Frau, und Fancy und Marion, seinen Töchtern, leben. Sie würde von nun an das hohe Haus in der Apsley Terrace bewohnen, wo sie bisher nur als Schwägerin vom Land zu Besuch gewesen war. Sie würde etwas Besonderes an der Hausfassade entdecken, sodass sie sicheren Schrittes davor würde anhalten können, ohne auf die Nummer oder den Türklopfer zu schauen. Drinnen würde sie ohne Zögern wissen, welche der braunen, polierten Türen wohin führte, und die Lage der Zisterne, die sie einst so sehr verwirrt hatte, als sie eines Nachts wach gelegen und versucht hatte, den Grundriss des Hauses zusammenzusetzen, würde ihr ziemlich gleichgültig werden. Sie würden im Hyde Park spazieren gehen und die Kinder auf ihren Ponys beobachten und die modisch aufgeputzten Damen die Rotten Row entlangreiten sehen, und sie würde mit der Kutsche ins Theater fahren.

Das Londoner Leben war sehr abwechslungsreich und aufregend. Es gab viele Geschäfte, Umzüge der königlichen Familie und der Arbeitslosen, den goldenen Tunnel von Whiteleys und das Glitzern der Straßen bei Nacht. Sie dachte an die Straßenlaternen, die so unparteiisch, so unerschütterlich in ihren erhabenen Leuchtzirkeln schienen, und fühlte sich beschämt vor deren prüfendem Blick. Jede würde sie weitergeben, sie und ihren Schatten, wenn sie die unbekannten Straßen und Plätze beschritt – aber sie wären ihr ja dann vertraut –, und folgte damit geheimen Befehlen der Zukunft. Und bald würde sie die Laternen für so selbstverständlich halten, wie die anderen Londoner es taten. Aber in London würde es kein Gewächshaus mit schimmerndem Wasserbecken geben und keine Apfelkammer und keinen Gartenschuppen, erdig und warm, in dem Mohnblumen in Bündeln von der Decke hingen, keine Sonnenblumenkerne in einer Holzkiste und Zwiebeln in dicken Papiertüten und Stränge geteerter Schnur und Lavendel, der auf einem Tablett langsam trocknete. Sie musste das alles zurücklassen oder sich nur noch als Besucherin daran erfreuen, es sei denn, James und Sibyl wären wie Henry und Caroline der Meinung, dass sie natürlich bei ihnen wohnen müsse.

Sibyl sagte: »Liebste Lolly! Du wirst also bei Henry und Caroline wohnen … Wir werden dich mehr vermissen, als ich sagen kann, aber natürlich willst du lieber nach London. Das gute alte London mit seinem malerischen Nebel und den interessanten Leuten und überhaupt. Ich beneide dich sehr. Aber du darfst Lady Place nicht ganz vergessen. Du musst uns häufig besuchen, damit Tito seine Tante nicht vergisst.«

»Wirst du mich vermissen, Tito?«, fragte Laura und beugte sich hinab, um ihr Gesicht gegen sein stachliges Lätzchen und an seinen zarten, warmen Kopf zu lehnen. Tito umschloss ihren Finger mit seiner Hand.

»Ich bin sicher, er wird deinen Ring vermissen, Lolly«, sagte Sibyl. »Du musst dir die restlichen Zähnchen an der schäbigen alten Koralle ausbeißen, wenn Tante Lolly geht, nicht wahr, mein Engel?«

»Ich gebe ihm den Ring, wenn du meinst, dass er ihn wirklich vermissen wird, Sibyl.«

Sibyls Augen leuchteten auf, aber sie sagte: »Oh nein, Lolly, das könnte ich nicht annehmen. Ach, es ist doch der Familienring.«

Als Fancy Willowes herangewachsen und verheiratet war und ihren Mann im Krieg verloren und einen Lastwagen für das Vaterland gefahren und aus patriotischen Gründen wieder geheiratet hatte, sagte sie zu Owen Wolf-Saunders, ihrem zweiten Mann: »Wie wenig unternehmungslustig die Frauen früher waren! Nimm zum Beispiel Tante Lolly. Großvater hinterließ ihr fünfhundert Pfund im Jahr, und sie war beinahe dreißig, als er starb, und trotzdem fiel ihr nichts Besseres ein, als zu Mum und Dad zu ziehen und dort zu bleiben.«

»Die Situation der alleinstehenden Frau war vor zwanzig Jahren noch ganz anders«, antwortete Mr. Wolf-Saunders. »Feme sole, weißt du, und feme covert und all der Quatsch.«

Bereits 1902 gab es einige fortschrittliche Geister, die sich wunderten, warum Miss Willowes, der es ganz gut ging und die wahrscheinlich nicht mehr heiraten würde, sich nicht einen eigenen Hausstand einrichtete und etwas Künstlerisches oder Emanzipiertes anfing. Lauras Verwandten allerdings kam so etwas nicht in den Sinn. Kaum dass ihr Vater gestorben war, hielten sie es für selbstverständlich, dass sie ganz in dem Haushalt des einen oder anderen Bruders aufgehen würde. Und Laura, die sich vorkam wie ein Stück Familienbesitz, das im Testament vergessen worden war, war bereit, über sich verfügen zu lassen, wie es die anderen für das Beste hielten.

 

Diese Ansicht war altmodisch, aber die Willowes waren eine konservative Familie und blieben ihren altmodischen Ansichten treu. Sie hielten der Vergangenheit aus Vorliebe, nicht aus Vorurteil die Treue. Sie schliefen in Betten und saßen auf Stühlen, deren Bequemlichkeit sie unmerklich dazu brachte, den gesunden Menschenverstand ihrer Vorfahren zu respektieren. Nachdem sie herausgefunden hatten, dass gut ausgewähltes Holz und gut ausgewählter Wein durch Lagern immer besser wurden, waren sie der Meinung, dass dasselbe Gesetz auch auf gut ausgewählte Gewohnheiten zuträfe. Mäßigung, gesittetes Reden, Muße und eine großzügige Schlichtheit waren Verhaltensregeln, die ihnen das Beispiel ihrer Vorfahren vorschrieben.

Indem sie diese Richtlinien beachtet hatten, hatte kein Mitglied der Familie je große Bedeutung erlangt. Vielleicht war es nur Urgroßtante Salome gelungen, dem Ruhm etwas näher zu kommen. Die Familie war sehr stolz darauf, dass Urgroßtante Salomes Blätterteigpasteten von König George III. gelobt worden waren. Und Urgroßtante Salomes Gebetbuch, das die Messen für König Charles, den Märtyrer, und für die Wiedereinsetzung der königlichen Familie und für das Wohlergehen des Hauses Hannover – ein schönes Beispiel unparteiischer Pietät – enthielt, fand stets bei der Ehefrau des Familienoberhauptes Verwendung. Salome, wenngleich mit einem Domherrn aus Salisbury verheiratet, hatte ihre bestickten Glacéhandschuhe ausgezogen, ihre Ärmel hochgeschoben und war in die Küche gegangen, um für den Tisch seiner Majestät den Teig zu kneten, wobei ihre venezianischen Spitzenbänder in der mehligen Schüssel hingen. Sie war ein treuer Untertan, eine gläubige Kirchgängerin und eine gute Hausfrau, und die Willowes waren zu Recht stolz auf sie. Titus, ihr Vater, hatte eine Fahrt zu den Westindischen Inseln gemacht und von dort einen grünen Halsbandsittich mitgebracht, der erste seiner Art, der je in Dorset gesehen wurde. Der Sittich wurde Ratafee gerufen und lebte fünfzehn Jahre. Nach seinem Tod wurde er ausgestopft; und wie zu Lebzeiten auf seinem Ring sitzend, schaukelte er am Sims des Porzellanschranks und musterte vier Generationen der Willowes mit seinen Glasaugen. Im frühen neunzehnten Jahrhundert fiel ein Auge heraus und ging verloren. Das Auge, das ihm nun eingesetzt wurde, war zwar größer, aber weniger ausdrucksvoll und glänzend. Dadurch bekam Ratafee einen ziemlich lüsternen Blick, was aber der Wertschätzung, die er genoss, keinen Abbruch tat. Auf seine bescheidene Weise hatte der Vogel in der Grafschaft Geschichte gemacht, und die Familie erkannte das an und überließ ihm eine Nische in ihrer eigenen Chronik.

Neben dem Porzellanschrank und unter Ratafee stand Emmas Harfe, grün mit vergoldeten Voluten und Akanthusblättern im Stile Davids. Als Laura noch klein war, schlich sie sich oft in das leere Wohnzimmer und zupfte an den wenigen Saiten, die noch nicht gerissen waren. Sie antworteten mit einem melancholischen und gequälten Ton, und Laura pflegte sich dann immer bei der Vorstellung wohlig zu gruseln, wie Emmas Geist zurückkäme, um mit kalten Fingern Musik zu machen, nachdem sie sich wie sie lautlos in das leere Wohnzimmer geschlichen hatte. Aber Emmas Geist war ein freundlicher Geist. Emma war an Schwindsucht gestorben, und als sie tot dalag mit einem Strauß Schneeglöckchen in ihren gefalteten Händen, wurde eine Locke ihres Haares abgeschnitten und in ein Bild einer Trauerweide, deren Zweige sich über ein weißes, gepolstertes Satingrab ausbreiteten, eingestickt. »Dies«, sagte Lauras Mutter, »ist ein Erbe deiner Großtante Emma, die gestorben ist.« Und die arme junge Lady tat Laura leid, die von allen ihren Verwandten als Einzige, so schien es ihr, das Pech gehabt hatte zu sterben.

Henry, 1818 geboren, Großvater von Laura und Neffe von Emma, wurde bereits mit vierundzwanzig Jahren das Haupt des Hauses Willowes, denn sein Vater und sein unverheirateter älterer Bruder starben beide innerhalb von zwei Wochen an Pocken. Als junger Mann hatte Henry ein wildes und ungestümes Temperament gezeigt, weshalb es ganz gut war, dass er die Freiheit des jüngeren Sohnes hatte, um seiner Wege zu gehen. Er hatte diese Freiheit genutzt, eine walisische Dame geheiratet und sich in der Nähe von Yeovil niedergelassen, wo ihm sein Vater eine Beteiligung an einer Brauerei erwarb. Es herrschte die verständliche Erwartung, dass er, nachdem er Familienoberhaupt geworden war, wenn schon nicht die walisische Frau und Familie, zumindest Somerset verlassen und in seine Heimat zurückkehren würde. Aber dies tat er nicht. Ihm war die Gegend, in der er die ersten Jahre seiner Ehe verbracht hatte, ans Herz gewachsen. Der unbedachte Witz seines Onkels, des Admirals, dass Henry einer Waliserin mit einem komisch hohen Hut wie dem von Mother Shipton, die immer mit den Schuhen in der Hand zur Kirche ging, den Hof machte, hatte ihn insgeheim von seinen Verwandten entfremdet. Und der gewichtigste Grund von allen war, dass Lady Place – ein kleines, solides Herrenhaus, auf das er schon seit einiger Zeit ein Auge geworfen hatte und zu dessen Herrin er, sollte er je Geld genug haben, seine Frau gern gemacht hätte – gerade zum Verkauf stand. Die Hartnäckigkeit der Willowes, die über so lange Zeit den Familiensitz in Dorset unverändert gelassen hatte, verlegte nun ebendiesen Familiensitz über die Grenze der Grafschaft. Das alte Haus wurde verkauft und die Möbel und Familienerbstücke nach Lady Place gebracht. Mehrere Saiten an Emmas Harfe sprangen, einige Federn wurden aus Ratafees Schwanz gerissen, und Mrs. Willowes, die eine streng protestantische Erziehung besaß, wurde mehrere Sonntage lang durch das Geschehen in Salomes Gebetbuch verstört. Aber im Großen und Ganzen überstand die Tradition der Willowes den Umzug vorzüglich. Die Tische und Stühle standen wieder in demselben Verhältnis zueinander wie zuvor; die Bilder hingen in derselben Reihenfolge, wenn auch an neuen Wänden; und die Hügel von Dorset konnte man immer noch vom Fenster aus sehen, wenngleich nun von den Fenstern der Südfront statt von den Fenstern der Nordfront. Sogar die Brauerei, sosehr es ihr auch an Tradition mangelte, bekam bald Patina und wurde untrennbar ein Teil des Lebens der Willowes.

Henry Willowes hatte drei Söhne und vier Töchter. Everard, der älteste Sohn, vermählte sich mit seiner Cousine zweiten Grades, Miss Frances D’Urfey. Sie brachte dem Haus in Somerset noch mehr Willowes’schen Besitz: eine Granatsteinsammlung, ein Teeservice in Beige und Gold, Erbstück des Admirals, seines Zeichens Porzellanliebhaber, der alle seine Nichten und Neffen und Großneffen mit Worcester, Minton und Fernöstlichem bedacht hatte; sowie zwei Ölgemälde italienischer Meister, die der jüngere Titus, Emmas Bruder, in Rom gekauft hatte, als er seiner Gesundheit wegen dorthin reiste. Sie gebar Everard drei Kinder: Henry, geboren 1867; James, geboren 1869; Laura, geboren 1874.

Bei Henrys Geburt lagerte Everard zwölf Dutzend Flaschen Port bis zu seiner Volljährigkeit ein. Everard war stolz auf die Brauerei und erklärte, dass Bier das passende Getränk für Engländer jeglicher Herkunft und ausländischen Weinen vorzuziehen sei. Aber er dehnte diesen Bann nicht auf Port und Sherry aus; es war Bordeaux, den er besonders verachtete. Weitere zwölf Dutzend wurden für James eingelagert, und damit schien die Sache ein Ende zu haben.

Everard liebte die Frauen; er wünschte sich sehnlichst eine Tochter, und als er eine bekam, war sie ihm umso teurer, hatte er doch fast schon die Hoffnung aufgegeben. Seine Freude über dieses Ereignis konnte jedoch nicht so eindeutig ausgedrückt werden. Er konnte für Laura keinen Port einlagern. Endlich fand er eine Lösung seiner Schwierigkeiten. Nachdem er unter dem mysteriösen und unangebrachten Vorwand, er werde kahl, nach London gefahren war, kam er mit einer kleinen Perlenkette zurück, die, zierlich und gleichmäßig gereiht, genau um den Hals des Babys passte. Jahr um Jahr, so erklärte er, solle die Kette vergrößert werden, bis sie den Hals einer erwachsenen jungen Frau bei ihrem ersten Ball umschlösse. Der Ball, fuhr er fort, müsse im Winter stattfinden, denn er wünsche Laura mit Hermelinbesatz zu sehen. »Mein Lieber«, sagte Mrs. Willowes, »das arme Mädchen wird wie ein Beefeater aussehen.« Aber Everard ließ sich davon nicht abbringen. Ein ausgestopftes Hermelin, das er als Junge gesehen hatte, war noch immer sein Idealbild einer verzauberten Prinzessin, so rein und so schlank war es gewesen, so elegant hatte sein niedliches Köpfchen auf dem langen Hals gesessen. »Ein Wiesel!«, rief seine Frau aus, »Everard, wie kannst du so etwas lieben?«

Laura entging dem üblichen Los von Neugeborenen, da sie überhaupt nicht rot war. Everard schien es, als sei sein Hermelin wahrhaftig zum Leben erwacht. Er war vom ersten Anblick an in ihre Weiblichkeit vernarrt. »Oh, die hübsche kleine Lady!«, rief er aus, als sie ihm das erste Mal, in Schals gewickelt und im klaren Sonnenlicht eines frostigen Dezembermorgens wimmernd, gezeigt wurde. Drei Tage später taute es, und Mr. Willowes nahm an einer Fuchsjagd teil. Aber schon nach der ersten Strecke kam er zurück. »Es war eine Füchsin«, sagte er, »so eine hübsche, junge Füchsin. Sie erinnerte mich an meine eigene, und ich dachte, ich reite zurück, um zu sehen, ob sie brav ist. Hier ist die Rute.«

Laura wuchs fast wie ein Einzelkind auf. Als sie aus dem Säuglingsalter heraus war, kamen ihre Brüder in die Schule. Wenn sie in den Ferien nach Hause kamen, pflegte Mrs. Willowes zu sagen: »Nun spielt schön mit Laura. Sie hat eure Kaninchen jeden Tag gefüttert, während ihr in der Schule wart, aber lasst sie nicht in den Teich fallen.«

Henry und James taten ihr Bestes, den Wünschen der Mutter zu folgen. Wenn Laura dem Rand des Teiches zu nahe kam, dachte der eine von beiden meistens daran, sie zurückzurufen; und bevor sie ins Haus zurückkehrten, riss Henry vorsorglich ein Büschel Gras heraus, um damit verräterischen grünen Schlamm wegzuwischen, der zufällig an ihren Schuhen hätte sein können. Aber richtige Spiele waren mit einer so viel jüngeren Schwester kaum möglich. Sie entledigten sich der brüderlichen Pflicht, ihr Werfen und Fangen beizubringen, und wenn sie Räuber und Gendarm spielten, wurde Laura pflichtgemäß eine passive weibliche Rolle gegeben. Dies erfüllte die Forderungen des Anstands; wenn man später im Spiel entdeckte, dass sich die gefangene Prinzessin oder die treue Squaw unbemerkt zu Brewer ins Kutschenhaus fortgeschlichen hatte oder zu Oliver Cromwell, der Kröte, die unter dem niedrigen, graubraunen Dach von Veilchenblättern nahe dem unbenutzten Melonenbeet lebte, so hatte das keine großen Auswirkungen auf den Fortgang des Dramas. Ja, einmal, als Laura als gefangene Prinzessin an einen Baum gebunden worden war, wurden ihre Brüder so sehr durch eine Serie von Einzelkämpfen um ihre Gunst mitgerissen, dass sie vergaßen, zurückzukommen und sie zu befreien, bevor sie sich ewige Freundschaft schworen und ins Heilige Land aufbrachen. Mr. Willowes, der durch einen abendlichen Mückenschwarm von der Brauerei nach Hause kam, ging zufällig in den Obstgarten, um nachzusehen, ob die Kaninchen noch weitere Triebe angenagt hatten. Dort fand er Laura, wie sie zufrieden in ihren Fesseln dasaß und sich ein Lied von der Schnecke vorsang, die keinen Regenmantel besaß. Mr. Willowes war äußerst erregt, als er durch Lauras unbekümmerten Bericht erfuhr, was geschehen war. Er zog ihr die Schuhe aus und rieb ihr die Füße. Dann trug er sie in sein Arbeitszimmer und gab Anweisung, einen Krug süßer, heißer Limonade für sie zuzubereiten. Sie trank sie auf seinen Knien sitzend, während er ihr von dem neuen Frettchen erzählte. Als man Henry und James hören konnte, die sich mit Kriegsgeschrei dem Haus näherten, setzte Mr. Willowes Laura in seinen Ledersessel und ging zu ihnen hinaus. Das Kriegsgeschrei stockte und versiegte ganz, als die beiden das strenge Gesicht ihres Vaters erblickten. Dunkelheit schien sich wie ein Fluch über sie zu senken, als er sie daran erinnerte, dass die Abendbrotzeit vorbei sei, und ihnen bedeutete, dass, wäre er nicht zufällig auf sie gestoßen, Laura immer noch an den Bon-Chrétien-Birnbaum gefesselt säße.

Dies geschah an einem jener Tage, an dem Mrs. Willowes mit Kopfweh daniederlag. »Irgendetwas passiert immer, wenn ich einen meiner Tage habe«, pflegte die bedauernswerte Dame zu jammern. Es passierte auch an einem ihrer Tage, dass Everard Laura mit den kandierten Kirschen des Nachmittagskuchens fütterte. Laura wurde es schnell sehr übel davon, und der Stalljunge wurde auf Everards Stute losgeschickt, um in Windeseile den Doktor herbeizuholen.

 

Mrs. Willowes erholte sich nie ganz nach Lauras Geburt. Im Lauf der Zeit wurde sie immer leidender, wenn auch stets auf angenehme Weise. Selten ging es ihr gut genug, um Gäste zu empfangen, deshalb wuchs Laura in einem stillen Haushalt auf. Hin und wieder kamen Damen in Capes aus Seide oder Seehundfell – je nach Jahreszeit – und saßen auf dem Sofa und sagten dann: »Laura ist schon fast ein großes Mädchen. Vermutlich werden Sie sie bald zur Schule schicken.« Mrs. Willowes hörte ihnen mit halbgeschlossenen Augen zu. Sie lehnte abweisend den Kopf zur Seite und gab ausweichende Antworten. Und immer, wenn sie durch gänzliches Schließen der Augen den Gästen bedeutet hatte zu gehen, pflegte sie Laura zu sich zu rufen und zu ihr zu sagen: »Liebling, werden deine Röcke nicht etwas kurz?«

Dann musste Nannie einen weiteren Abnäher aus Lauras Gingham- oder Merino-Röcken herauslassen, und einige Monate vergingen, bis die Damen sich wieder zum Angriff sammelten. Sie alle mochten Mrs. Willowes, aber sie waren sich untereinander einig, dass sie sich etwas zusammenreißen müsse, um ihren Pflichten nachzukommen, besonders ihrer Pflicht gegenüber Laura. Es war wirklich nicht richtig, dass Laura so viel sich selbst überlassen war. Die arme, liebe Miss Taylor war ein Schatz. Hatte sie sich nicht in allen wichtigen Schulzimmern in der Nachbarschaft über Halbinseln unterrichtet? Aber drei Stunden täglich mit Miss Taylor und Mme Brevets Tanzstunden im Winter reichten nicht, ja, konnten nicht reichen, um alle Bedürfnisse Lauras zu erfüllen. Sie müsse in Gesellschaft gleichaltriger Mädchen heranwachsen, sonst würde sie exzentrisch werden. Eine weitere kleine Andeutung könnte der armen Mrs. Willowes sicher die Augen öffnen. Aber obwohl Mrs. Willowes die guten Ratschläge mit dem schmeichelhaften Anschein aufnahm, sie lasse sich von ihnen beeindrucken, und die Teetassen mit sehr viel köstlicher Sahne auffüllte, deuteten die Damen in Seide oder Seehundfell vergeblich an, denn Laura war noch immer im Haus, als ihre Mutter starb.

Im Laufe ihrer letzten Lebensjahre wurde Mrs. Willowes immer geschickter, Verantwortung zu umgehen, und ihr Tod erschien als der vollkommenste Ausdruck dieser Fertigkeit. Es war, als hätte sie mit einem sanften Katzengähnen gesagt: »Ich glaube, ich werde mich jetzt in mein Grab begeben«, und hätte das Zimmer verlassen, ihren weißen Schal hinter sich herziehend.

Laura trauerte in Röcken, die fast zum Boden reichten, denn Miss Boddle, die Hausschneiderin, besaß ein zartes Feingefühl dafür, was angemessen war, und war nicht der Meinung, dass Beine trauernd aussehen könnten. In der Tat waren Lauras Beine sehr dünn und munter, sie kletterten gern auf Bäume und sprangen über Heuhaufen und hatten nicht das Verlangen, sich von der Welt zurückzuziehen und einer jungen Dame zu gehören. Aber als Laura die neuen Kleider, die so eigenartig rochen, angezogen und sich im Spiegel traurig und erwachsen gesehen hatte, fügte sie sich dem Unvermeidlichen. Früher oder später musste sie sich dem Junge-Dame-Sein unterwerfen, und so schien es ihr nur passend, dass diese Umstellung aus traurigem Anlass geschehe. Passender jedenfalls als das herkömmliche höfliche Durcheinander und Getue des gesellschaftlichen »Coming-outs«. Dieser eigenartige Ausdruck bedeutete, soweit sie es beurteilen konnte – sobald die Champagnerflaschen geleert waren und das duftige Ballkleid von den dünnen Schultern gehoben wurde –, ein Drinnenbleiben.

Wie die Dinge sich entwickelten, erhielt sie eine Entschädigung für den Verlust ihrer Freiheit. Denn Everard brauchte Trost, er brauchte eine Frau, die ihn tröstete, und unterstützt von Miss Boddles Andeutungen, gelang es Laura bald, ihn zu überzeugen, dass ihre Tröstungen von echter fraulicher Art waren. Es war einfach, viel einfacher als gedacht, erwachsen zu sein, vorausschauend und bedachtsam zu sein, sich angemessen zu bewegen und zu denken, bevor man sprach. Ihre Hände sahen bereits viel weißer auf dem schwarzen Schoß aus. Sie konnten den Platz ihrer Mutter nicht einnehmen – das war so unmöglich, wie deren leichte Hand beim Klavierspielen zu haben, hatte Mrs. Willowes doch einen früheren Schüler von Field zum Lehrer und besaß ein jeu perlé; aber sie konnte ihren eigenen Platz einnehmen. So verhielt sich Laura sehr tapfer – sagte die Verwandtschaft und nickte sich zustimmend zu – und ging ihren neuen Aufgaben nach und weinte nur, wenn sie im Gartenschuppen allein war, wo sie ein Paar alter Gartenhandschuhe an die Form der Hände ihrer Mutter erinnerte.

Ihr Verhalten war umso wichtiger, da keiner der Brüder zu Hause war, als Mrs. Willowes starb. Henry, inzwischen Mitglied der angesehensten Anwaltsvereinigung, hatte gerade einer Miss Caroline Fawcett einen Heiratsantrag gemacht. Als er nach der Beerdigung nach London zurückfuhr, ließ sich der Eindruck nicht vermeiden, dass er aus dem Schatten, der über Lady Place lastete, in seinen privaten Sonnenschein einer standesgemäßen Verlobung reiste.

Er verließ einen Vater und eine Schwester, die Trost fanden, indem sie einander trösteten. Denn obwohl James bei ihnen war, und obwohl sein Schmerz keine Grenzen kannte, durften sie von ihm kaum Trost erwarten. James war in Deutschland gewesen, wo er Chemie studierte, und als sie das Telegramm losschickten, überlegten Everard und Laura, wie lange er brauchen würde, um Lady Place zu erreichen, und planten, wie sie ihn am liebevollsten empfangen konnten, denn sie hatten bereits begonnen, einen dickeren Mantel familiärer Herzlichkeit gegen die Kälte des Verlustes zu weben. Als sie die offene Kutsche auf dem Kies der Auffahrt hörten und das Rascheln der feuchten Rhododendronblätter, sahen sie sich ermutigend an und schöpften Kraft bei dem Gedanken an das helle Feuer in seinem Zimmer, an das sorgfältig geplante Abendessen, das ihn erwartete. Aber als er vor ihnen stand und sie in sein rotes, zuckendes Gesicht blickten, waren sie fassungslos über die Heftigkeit seines Schmerzes, der so anders als ihrer erlitten wurde. Nichts, was sie anzubieten hatten, konnte dieses Leid lindern. Sie überließen ihn sich selbst und suchten Zuflucht in ihrer gegenseitigen Gesellschaft, sowohl vor seinem Schmerz als auch vor ihrem eigenen, und wenn er dabei war, saßen sie still da, wie zwei artige Kinder in der Gegenwart eines erwachsenen Schmerzes, den sie noch nicht verstehen konnten.

James nahm ihre Zurückhaltung mit stiller Dankbarkeit an; oder aber er bemerkte sie überhaupt nicht – es war genau nicht festzustellen. Bald nach seiner Rückkehr tat er etwas so Beispielloses in den Annalen der Familie, dass man es nur mit seiner außerordentlichen Gemütserregung erklären konnte: Ohne irgendjemandem etwas davon zu sagen, räumte er die Möbel um, wobei er einen Spiegel und ein mandelgrünes Sofa aus dem Zimmer seiner Mutter in sein eigenes transportierte. Nachdem er dies getan hatte, kam er langsam die Treppe herunter und ging zu den Stallungen, wo Laura und sein Vater sich einen Wurf Welpen anschauten. Er erzählte es ihnen mit ungerührter Stimme, wie man über alltägliche Begebenheiten spricht. Als sie etwas zaghaft zu antworten versuchten, als hielten auch sie es für eine ganz natürliche und praktische Anordnung, da fügte er hinzu, dass er nicht die Absicht habe, nach Deutschland zurückzugehen, sondern dass er von nun an in Lady Place bleiben und seinem Vater bei der Brauerei helfen würde.

Everard freute sich sehr darüber. Sein Vertrauen in die Vorzüge des Brauereigewerbes waren durch die Weigerung seines ältesten Sohnes, etwas damit zu tun haben zu wollen, heftig ins Wanken geraten. Noch bevor Henry die Schule verlassen hatte, war sein Ehrgeiz auf die Jurisprudenz gerichtet. Als ihn einer seiner Lehrer im Debattierclub der Schule reden hörte, sagte er ihm, er besäße die Fähigkeit zum Juristen. Dieses Kompliment räumte die letzten Zweifel, welche Laufbahn er einschlagen sollte, bei ihm aus, und bald darauf wurde diese Fähigkeit bei Diskussionen mit seinen Eltern erprobt. Everard war verletzt, und Mrs. Willowes schien leicht verächtlich, denn sie besaß ein altmodisches Vorurteil gegenüber akademischen Berufen und glaubte, ihr Sohn treffe eine schlechte Wahl, da er sich nicht durch seinen Fleiß, sondern durch seinen Geist ernähren wollte. Aber Henry besaß ebenso viel Willowes’sche Entschlossenheit wie sein Vater oder seine Mutter, und sein Vorrat davon war fünfundzwanzig Jahre jünger und lebhafter als der ihre. »Die Zeiten ändern sich«, sagte Everard. »Eine Fabrik auf dem Land ist nicht mehr das Gleiche für einen jungen Mann wie zu meiner Zeit.«