Lolly Willowes

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Obwohl also eine Partnerschaft in der Brauerei das selbstverständliche Ziel für James zu sein schien, war Everard durch seine Entscheidung sehr geschmeichelt und beeilte sich, die wissenschaftlichen Verbesserungen, die sein Sohn vorschlug, in die Tat umzusetzen. Trotz seines natürlichen Misstrauens, was Neuerungen betraf, hoffte er, dass James sich durch diese Dinge unmerklich von seinem Schmerz ablenken lasse, und kaufte ihm aus demselben väterlichen Grund einen neuen Malztrichter, wie er ihm Jahre zuvor ein Gewehr zum Krähenschießen gekauft hatte. James war sehr zufrieden mit dem Trichter. Aber es war nicht festzustellen, ob er seinen Schmerz gelindert hatte, denn er verbarg seine Gefühle zu sehr, und durch das Übertreiben seiner Verschlossenheit – reserviert sogar über seine eigene Reserviertheit – schien er lediglich ein junger Mann mit einem roten Gesicht und einem mäßigen Konversationsbedürfnis zu sein.

Everard und Laura erreichten mit James nie jene Ebene der Vertrautheit, die es Mitgliedern derselben Familie erlaubt, einander allein wegen der Verwandtschaft zu akzeptieren. Ihre Liebe für ihn war von Scheu gefärbt; jener Scheu, die die Liebe in jenem Augenblick lehrt, in dem sie sich vergeblich sieht. Aber sie waren froh, ihn bei sich zu haben, besonders Everard, der alt genug war, um den Gedanken zu würdigen, seine Pflichten, auch die unveräußerliche Pflicht, ein Willowes zu sein, auf jüngere Schultern zu übertragen. Keiner konnte diese Bürde besser übernehmen als James. Alles an ihm, von seiner Haltung zu Pferd bis zu seiner Auswahl von Ledereinbänden für die Hausbibliothek, bewiesen die Ausgewogenheit eines guten Geschmacks und gesunden Menschenverstandes, unaufdringlich, edel und anspruchsvoll.

Die Ledereinbände lagen bald in Lauras Händen. Neue Bücher waren genau das, was sie brauchte, denn sie war fast mit den Büchern der Bibliothek von Lady Place am Ende. Hätte man die Damen in Seide und Seehundfell davon in Kenntnis gesetzt, sie hätten über Lauras Erziehung noch bedauernder den Kopf geschüttelt. Aber natürlich war es ihnen nicht in den Sinn gekommen, dass eine junge Dame in ihrer Bekanntschaft ohne Einschränkungen lesen durfte, was sie wollte, und Mrs. Willowes hatte keinen Grund gesehen, dies zu erwähnen.

Also las Laura ungestört und ohne andere zu stören, denn die Unterhaltungen auf den Teegesellschaften und Bällen gaben ihr zufällig nie Gelegenheit, irgendetwas zu erwähnen, was sie von Locke über den Verstand oder von Glanvil über Hexen erfahren hatte. Ja, da Laura die meisten Bücher nicht kannte, die ihre Töchter lesen durften, hielten die Mütter der Nachbarschaft sie für ziemlich ungebildet. Trotzdem konnten sie sie deswegen nicht weniger leiden, denn ihre Unwissenheit, wenngleich für das andere Geschlecht attraktiver als Bildung, hatte so wenig Liebliches an sich, dass sie völlig ohne Reiz war. Sie hatten auch keinen Grund, mit ihrem Äußeren unzufrieden zu sein. Welche Schönheiten ihres Äußeren Laura auch haben mochte, sie waren so wenig lieblich wie die Schönheiten ihres Geistes, und ihr vornehmes Auftreten ließ sie älter erscheinen, als sie eigentlich war.

Laura war mittelgroß, dünn und ziemlich knochig. Ihre Haut war dunkel und neigte zur Fahlheit; sie erschien noch brauner im Kontrast zu ihren Augen, die groß waren und weit auseinanderstanden und jenes Grau hatten, das weder zu Blau noch zu Grün tendiert, sondern nur ein verwässertes Schwarz zu sein scheint. Solche Augen sind selten und noch seltener in Verbindung mit einem braunen Teint. Bei Laura war die Wirkung zu irritierend, um angenehm zu sein. Fremde hielten ihr Aussehen für bemerkenswert, gingen aber nicht ins Detail, und jene, die sie besser kannten, hielten sie für unscheinbar. Nur Everard und James hätten sie hübsch gefunden, wenn man sie nach ihrer Meinung gefragt hätte. Dies war nicht nur die Voreingenommenheit des einen Willowes für einen anderen. Sie hatten sie zu Hause gesehen, wo Temperament Farbe auf ihre Wangen und Lebhaftigkeit in ihre Bewegungen brachte. Draußen und in Gesellschaft war sie nicht lebhaft. Sie ging ungern aus; sie besuchte selten Feste, ausgenommen jene, bei denen die Teilnahme von Miss Willowes von Lady Place eine höfliche Verpflichtung war; und dort fand sie wenig Grund, lebhaft zu sein. Da sie nicht kokett war, fühlte sie sich nicht verpflichtet, ein Mindestmaß an Amüsement vorzutäuschen, da sie dies nicht fühlte, und dieser Mangel machte sie unempfindlich gegenüber der Pflicht jeder jungen Frau im heiratsfähigen Alter, charmant zu sein, gleichgültig, ob dieser Charme auf ein bestimmtes Objekt gerichtet war oder, in Ermangelung dessen, gleichmäßig in uneigennütziger Liebe auf die Menschheit verteilt wurde. Dies konnte an ihrer Erziehung liegen – so lautete die Erklärung ihrer Umgebung. Aber ihre Erziehung hatte nur ein Temperament gefördert, welches der Notwendigkeit zu heiraten – oder irgendetwas Positives dazu zu tun – gleichgültig gegenüberstand, und diese Gleichgültigkeit wurde verstärkt durch die Umstände, die sie zu einer so engen Vertrauten ihres Vaters machten.

Es gibt nichts Gefährlicheres für die normalen Neigungen einer jungen Frau gegenüber jungen Männern als ein vertrauter Umgang mit einem Mann, der doppelt so alt ist wie sie. Laura verglich all jene jungen Männer, die sie andernfalls als passendes Ziel ihrer Wünsche akzeptiert hätte, mit ihrem Vater. So aber fand sie, dass keiner dem Vergleich mit ihrem Vater standhielt. Sie waren aktiv, gutaussehend und gingen mit großem Erfolg auf Fasanenjagd; oder sie waren witzig, elegant gekleidet und Mitglied in einem Londoner Club; trotzdem hatte Laura nicht die Absicht, ihre Gesellschaft gegen die ihres Vaters einzutauschen, auch wenn jene ihr unmissverständlich zu verstehen gaben, dass sie dies von ihr wünschten, und bis dahin erwies sie ihnen wenig Aufmerksamkeit, weder in Gedanken noch in Taten.

Als Tante Emmy aus Indien zurückkam und das Gästezimmer mit Kisten aus Zedernholz füllte, erklärte sie Everard energisch: »Mein Lieber, es ist höchste Zeit, dass Laura heiratet! Warum ist sie denn noch nicht verheiratet?« Dann, da sie ein leichtes, peinvolles Zucken im Gesicht ihres Bruders über diesen schneidenden Kasernenhofton bemerkte, fügte sie hinzu: »Ein Mädchen wie Laura muss nur eine Wahl treffen. Diese walisischen Augen … Immer wenn sie mich ansehen, werde ich an Mama erinnert. Everard! Du musst mir erlauben, sie für eine Saison nach Indien mitzunehmen.«

»Du musst Laura fragen«, sagte Everard. Und sie gingen zusammen in den Obstgarten, wo Emmy die herabgefallenen Äpfel auflas und sie mit der Gier einer Verbannten aß. Weiter wurde nichts darüber gesagt. Emmy war sich ihres falschen Vorgehens bewusst. Beschämt, dass sie eine Willowes’sche Anstandsregel durch ihr Einmischen verletzt hatte, nahm sie die Chance wahr, sich wieder in die Gunst ihres Bruders einzuschmeicheln, und beschwor ihre gemeinsame Kindheit unter ebendiesen Bäumen.

Aber Everard schwieg aus Kummer. Er war guten Glaubens der Ansicht, dass seine Erleichterung, wenn er die zaghaft keimenden Bemühungen von Lauras Verehrern bereits in ihrem Keime erstickt sah, der Überzeugung entstammte, dass für sie keiner gut genug war. So unschuldig, wie die gleichgültige Laura es getan haben könnte, aber nicht tat, wartete er auf den idealen Freier. Nun hatte Emmys taktlose Sorge einen kalten Schatten auf die fernere Zukunft nach seinem Tode geworfen. Und was die nähere Zukunft betraf, hatte sie nicht davon gesprochen, Laura nach Indien mitzunehmen? Er würde brav sein. Er würde kein Wort sagen und das Mädchen von etwas abhalten, das sich zu ihrem Vorteil herausstellen könnte. Aber bei dem Gedanken, dass sie ihn verlassen würde, um in ein so fernes Land zu gehen, in ein so ungewohntes Leben, verschwand die Wärme aus seinem eigenen Leben.

Emmy entfaltete ihren Plan vor Laura; das heißt, sie entfaltete seine äußeren Hüllen. Laura lauschte ihren Geschichten über das Leben in Indien voller Vergnügen. Exerzierhöfe und Mangofrüchte, frühmorgendliche Ritte über die Kilpawk Road, das ächzende Lied der Träger, die die englischen Mem Sahibs auf Sänften zu den Bergstationen hochtrugen, Papageien, die durch den Dschungel flogen, Ajahs mit Rubinen in den Nasenflügeln, Glacéhandschuhe, die in Einmachgläsern mit Schraubverschlüssen aufbewahrt wurden – der ganze würdevolle und schlichte Pomp des altmodischen Madras winkte ihr zu, winkte wie die dunklen Arme, an denen Reifen aus weichem Gold und buntem Glas klirrten. Aber als das Winken die Form einer umständlichen Einladung Tante Emmys annahm, zog Laura sich zurück, machte diesen und jenen Einwand und erklärte schließlich ihre Weigerung, die sie vom Moment der Einladung an auszusprechen vorhatte.

Sie wollte weder ihren Vater noch Lady Place verlassen. Ihr Leben befriedigte sie vollkommen. Sie wollte nicht anders leben, als wie sie aufgewachsen war. Mit unbeschwerter Gewissenhaftigkeit spielte sie die Rolle der Hausherrin, unterstützt bei jeder Gelegenheit von langjährigen Dienstboten, die genauso verliebt in die gemächliche Gangart der Tage waren wie sie. Zu bestimmten Jahreszeiten spukte ein frischer, harziger Geruch wie ein ländlicher Geist im Haus herum. Das war Mrs. Bonnet, die die traditionelle Bienenwachspolitur herstellte, von der allein man erwarten konnte, dass sie den richtigen Glanz bei den elegant gebauchten Vorderseiten der Kommoden und Truhen hervorbrachte. Die grauen Tage im frühen Februar wurden mit tropischen Düften durch Urgroßtante Salomes Rezept für Orangenmarmelade gewürzt; und bei schönem Wetter wurden am Nachmittag des Karfreitags die ausgestopften Füchse und Otter aus ihren Glasstürzen genommen, gebürstet und zum Lüften auf den Rasen gestellt.

Dies waren alte Bräuche, sie waren lange vor Lauras Zeit entstanden. Aber die stetige Ablagerung von Familienbräuchen ging immer weiter, und Laura konnte sich selbst bereits daran erinnern, wie sich die Summe der Willowes’schen Familiengewohnheiten vermehrte. Da gab es das Mittsommernachtspicknick in Pott’s Dingle – kalte Taubenpastete und Apfelmost und mottenumschwärmte Kerzen, die im Gras flackerten. Dann gab es die Zeremonie des Hopfenkranzes, die James aus Deutschland mitgebracht hatte, und den Pantomimeabend im Armenhaus und jenes besondere Siegelwachs, das man nur in Padua bekommen konnte. Vor langer Zeit hatte man den Kindern erlaubt, sich an ihrem Geburtstag das Essen zu wünschen, und noch immer aß James am siebzehnten Juli Ente und grüne Erbsen und Stachelbeerpudding, während Laura am neunten Dezember ein Fasan mitsamt seiner prächtigen Schwanzfedern aufgetischt wurde. Und am Ende des Obstgartens wuchs ungehindert ein ganzes Brennnesselbeet, denn Nannie Quantrell, das alte Kindermädchen, vertraute sehr auf die Kraft junger Nesseln, wenn man sie im Frühling zur Blutreinigung aß. Dabei zitierte sie mit Betonung einen Vers, den ihr ihre Großmutter beigebracht hatte:

 

Äßen sie Nesseln im März

Und tränken sie Beifuß im Mai,

So wäre es mit manch’ jungem Mädchen

Nicht gar so schnell vorbei.

Auch Laura hätte sehr gern Beifuß im Mai getrunken, denn dieser Vers von Nannie, so oft und so eindrucksvoll wiederholt, hatte sich in ihrem Kopf festgesetzt. Sie hatte schon immer eine Vorliebe für Botanik gehabt, sie hatte auch eine Neigung zum Brauen geerbt. Eine ihrer frühesten Freuden war es gewesen, mit Everard zur Brauerei zu gehen und in die großen Bottiche zu schauen, während er sie mit seiner linken Hand festhielt und mit seiner rechten einen langen Stock durch den klumpigen Schaum tauchte, der allmählich nachgab, bis tief unten durch den sich hin- und herwälzenden Spalt das Bier zu sehen war.

Botanik und Brauereikunst verband sie nun zu einer Beschäftigung, denn durch den Anreiz, den ihr Nannies Verse gaben, wandelte sie auf den vergessenen grünen Seitenpfaden des ländlichen Arzneibuches. Von Everard erhielt sie eine kleine Destille, vom Rezeptbuch der Familie viel Information und gute Ratschläge; und wo diese sie im Stich ließen, waren Nicholas Culpepper oder die greise Goody Andrews, die wegen ihrer Hochachtung für den Mond eine alte Busenfreundin von Nicholas hätte sein können, bereit, ihr auszuhelfen. Sie suchte in Feld, Wald und Wiesen nach Kräutern und Heilpflanzen, und unzählig waren die Tinkturen und Sude, die sie aus Mariengras, Zipfelkraut, Schlüsselblume und der Zichorienwurzel herstellte, während ihre Salate, die sie in Feldern und unter Hecken sammelte, von Everard gegessen wurden, zuerst hoffend und vertrauensvoll, später dann mit schmeichelhaftem Appetit. Von ihm ermutigt schrieb sie ein kleines Buch mit dem Titel Gesundheit am Wegesrand, in dem der Gebrauch von überlieferten Heilpflanzen und Kräutern empfohlen wurde. Es wurde anonym von der örtlichen Druckerei herausgebracht und erregte überhaupt kein Aufsehen. Everard war dadurch mehr gekränkt als sie und kaufte die restlichen Bücher auf, ohne ihr etwas davon zu sagen. Beifuß aber kam in dem Buch nicht vor, denn man hatte ihr nie erlaubt, seine Kräfte auszuprobieren, und sie wollte kein Rezept aufnehmen, das sie nicht selbst ausprobiert hatte. Nannie hielt Beifuß für nicht weniger wirksam als Brennnesseln, wusste aber nicht, wie sie ihn behandeln sollte. Einmal, vor langer Zeit, hatte sie einen Sud hergestellt, wobei sie die Blätter in kochendem Wasser ziehen ließ, dann durch ein Sieb schüttete und Henry und James zu trinken gab. Doch beiden wurde davon schlecht, und Mrs. Willowes hatte seinen weiteren Verzehr verboten. Laura war sich sicher, dass ihr von Beifuß nicht schlecht werden würde. Sie bat um Erlaubnis, den Tee zu versuchen, doch es war zwecklos: Nannies Verbot war ebenso strikt wie das ihrer Herrin. Trotzdem hatte Nannie ihren Glauben nicht verloren. Sie erzählte, dass für diesen Zweck der Beifuß von einer besonderen Art sein müsse, die nicht in Somerset wachse; am Zaun des Schusters in ihrem Heimatdorf wachse dieser Beifuß allerdings besonders üppig. Lange nachdem diese Diskussion stattgefunden hatte, fand Laura in Aubreys Miscellany ein Zitat von Plinius, das beschrieb, wie Artemis die Kräfte des Beifuß dem träumenden Perikles enthüllt hatte. Eilig erzählte sie Nannie davon. Nannie war erfreut, wollte aber nicht zugeben, dass ihr Glaube einer Bestätigung bedurfte: »Diese Griechen wussten auch nicht alles!«, sagte sie und fuhr mit ihrer Nadel in die rote Hülle des Schmirgelsäckchens, das die Form einer Erdbeere hatte und über und über mit gelben Perlen verziert war.

Fast zehn Jahre lang führte Laura den Haushalt für Everard und James. Nichts passierte, was die stille Heiterkeit ihres Lebens störte, außer der Geburt erst der einen Tochter von Henry und Caroline und dann die einer zweiten, aber davon wurde dies nicht sehr gestört. Everard, einst so glücklich über eine Tochter, war willens, auch über Enkelinnen glücklich zu sein. Als Henry sich würdevoll wegen ihres Geschlechts entschuldigte, sagte ihm Everard jenen Kinderreim auf, aus dem hervorgeht, woraus kleine Jungs und Mädchen gemacht sind. Henry war erleichtert, dass sein Vater ein mögliches Ende der männlichen Linie der Willowes so leicht nahm, wünschte sich aber doch, der alte Herr sei nicht ganz so leichtfertig. Er konnte sich nicht dazu herablassen, seinen Vater wegen dieser unwissenschaftlichen Theorie der Geschlechter Lügen zu strafen. Er bemerkte missmutig, dass Töchter sehr teuer werden könnten, wo man jetzt so viel Aufhebens um die Erziehung von Frauen mache.

In seiner Angst um die männliche Linie der Willowes hatte Henry es für selbstverständlich gehalten, dass sein Bruder nie heiraten würde. Und es stimmt: Wenn es ein Zeichen dafür ist, dass man nicht an eine Sache denkt, nur weil man sich nicht dazu äußert, dann hatte James nicht an Heirat gedacht. Er war beinahe dreiunddreißig, als er plötzlich mit seiner üblichen ruhigen Knappheit erklärte, er würde nun heiraten. Die Dame seiner Wahl war eine Miss Sibyl Mauleverer. Sie war die Tochter eines Pfarrers, aber eines angesagten Londoner Pfarrers, was ohne Zweifel der Grund war, dass sie nicht im mindesten jenen Pfarrerstöchtern glich, die Everard und Laura bisher zu Gesicht bekommen hatten. Miss Mauleverers Röcke waren so lang und so üppig, dass sie in Falten auf dem Boden um sie herum lagen, wenn sie still stand, und mit beiden Händen angehoben werden mussten, wenn sie ging. Ihre Hüte saßen steiler auf ihrem Kopf, als man es je in Somerset gesehen hatte, und sie besaß einen jener glatten Aberdeen-Terrier, die gerade in Mode waren. Es war in der Tat schwer, sich vorzustellen, dass dieses vornehme Wesen in einer Pfarrei geboren und aufgewachsen war. Aber nichts konnte christlicher sein als ihre Entschlossenheit, ihre neuen Verwandten zu lieben und umgekehrt von ihnen geliebt zu werden. Sie nannte Everard Väterchen, sie brachte Laura bei, den Cakewalk zu tanzen, sie brachte Mrs. Bonnet bei, petits canapés à l’Impératrice zu machen; nachdem sie Brewer nicht beibringen konnte, einen Steingarten anzulegen, redete sie davon, es selbst zu tun, und wenngleich sie alte Eiche vorgezogen hätte, gestand sie ein, von den Walnuss- und Mahagonimöbeln der Willowes bezaubert zu sein. So beharrlich versuchte sich diese hübsche junge Person angenehm zu machen, dass es von Laura und Everard unhöflich gewesen wäre, wenn sie nicht auf ihre Schmeicheleien eingegangen wären. Tatsächlich wunderte sich jeder insgeheim, was James an jemandem so Prächtigem und Auffallendem wie Sibyl finden konnte. Aber sie waren zu taktvoll, um dies selbst untereinander zuzugeben, und gaben sich mit höflichem Erstaunen darüber zufrieden, dass Sibyl Interesse an so einem Langweiler – und dazu auch noch vom Land – wie James fand.

Lady Place war ein großes Haus, und es schien nur rechtens, dass James mit seiner Frau dort einziehen würde. Es schien ebenso richtig, dass sie Lauras Platz als Herrin des Hauses einnehmen sollte. Die Schwägerinnen debattierten mit viel Höflichkeit über diesen Punkt; jede bestand auf der anderen Anrecht, wie zwei vor dem Eingang knicksende Königinnen. Aber Sibyl war die besuchende Königin und musste Laura aus Höflichkeit nachgeben und die Verantwortung für den Haushalt übernehmen. Sie trug sie sehr leicht, und sobald sie erfuhr, dass sie ein Kind erwartete, gab sie sie wieder an Laura zurück, die es sich zum Prinzip machte, petits canapés servieren zu lassen, wann immer jemand zum Essen kam.

Was für kleinliche Zweifel Everard und Laura auch immer über James’ Frau gehegt haben mochten, sie wurden beiseitegelegt, als Sibyl einem Knaben das Leben schenkte. Es wäre gegenüber dem Erbe der Willowes nicht loyal gewesen, von seiner Mutter anzunehmen, sie käme nicht aus ebenso gutem Hause. Everard musste sich nicht einmal an die Herzogin von Suffolk erinnern. Titus, der seine fetten Händchen auf den Busen seiner Mutter streckte; Titus, ein körperloses Girren der Zufriedenheit aus dem Kinderzimmer oben, hätte eine weitaus fraglichere Verbindung gerechtfertigt, als James sie geschlossen hatte.

Ein Jahr später zündete Everard höchst feierlich die einzige Kerze zum ersten Geburtstag seines Enkels an, auf dem Kuchen, den Mrs. Bonnet gebacken hatte, den Laura mit Zuckerguss versehen hatte, den Sibyl mit Blumen geschmückt hatte. Die Flamme flackerte ein wenig in der Zugluft, und Everard, ängstlich vor bösen Omen, ließ die Verandatüren schließen. Es war seltsam, dass die Wipfel der Koniferen an einem so strahlenden Septembernachmittag im Wind wankten und dass man den rauen Atem des Herbstes ahnungsvoll ums Haus streichen hörte. Laura starrte auf die Kerze. Sie verstand die Unruhe ihres Vaters, und gleichermaßen abergläubisch wie er hielt sie den Atem an, bis sie sehen konnte, dass sich die Flamme wieder aufrichtete und der erste kleine Tropfen Wachs auf den glänzenden Blechstern, der die Kerze hielt, hinabfloss. An jenem Abend gab es nach dem Essen im Garten ein Feuerwerk für die Schulkinder. So viele Raketen wurden von Everard und James abgeschossen, dass eine Zeit lang der nördliche Himmel von einem Dickicht aus glänzendem Schilf erleuchtet war, das feurige Pollen aussprühte. So heiß und aufgeregt wurde Everard bei der Überwachung dieser Pracht, dass er den kalten Wind vergaß und seinen Mantel auszog.

Zwei Tage später klagte er über Schmerzen in der Seite. Der Doktor sah ernst drein, als er aus dem Schlafzimmer kam, obwohl Laura ihn drinnen mit seinem alten Freund hatte lachen und ihn wegen seines Schlaftrunkes aufziehen hören. Everard habe eine Lungenentzündung, teilte er ihr mit; er würde zwei Schwestern schicken. Sie kamen, und ihre gestärkten weißen Schürzen erschienen ihr wie unbeschriftete Grabsteine. Von Anfang an hatte sich ihre Seele ahnungsvoll geduckt, und tatsächlich gab es zu keiner Zeit viel Hoffnung für den alten Herrn. Wenn er bei Bewusstsein war, lag er sehr friedlich da, sein Gesicht dem Fenster zugewandt, und beobachtete die Schwalben, wie sie rastlos von Baum zu Baum flogen. »Es wird einen harten Winter geben«, sagte er zu Laura. »Sie sammeln sich früh zur Reise.« Und dann: »Glaubst du, sie wissen, wohin sie fliegen?«

»Ich bin sicher, sie wissen es«, antwortete sie, um ihn zu trösten. Er betrachtete sie, lächelte schlau und schüttelte den Kopf. »Dann sind sie klüger als wir.«

Als Großvater Henry, jener gebieterische Mann, über die Landesgrenze zog, folgte ihm ein hoheitsvoller Zug von Dienern und Dienstmägden, Stuten, Wallachen und Spaniels, Wagen voller Haushaltsgerät und langsamen Landkarren, beladen mit wippendem Grünzeug. »Ich möchte sicher sein, dass es gute Tafeläpfel geben wird«, sagte er, »werde ich doch in Lady Place mein ganzes Leben lang wohnen.« Der Tod war eine andere Sache. Die Familiengrabstätte der Willowes befand sich in Dorset, woanders wollte Henry auch nicht liegen. Nun war Everard an der Reihe. Die Toten schienen ihn ohne Erstaunen willkommen zu heißen – die früheren Everards und Titus, Lauras und Emmelines; sie waren sich sicher, dass er kommen würde; sie stimmten seinem Entschluss bei, zu ihm zu kommen.

Laura stand am offenen Grab, aber den Haufen frischer Erde und die Bohlen, die darüberlagen, mochte sie nicht. Ihre Augen wanderten zu den anderen Gräbern. Sie rief sich ihre Geschichten in Erinnerung, denn sie kannte sie gut. Viermal im Jahr hatte Mrs. Willowes den Friedhof besucht, und als Kind war es Laura als eine feierliche und köstliche Ehre erschienen, sie bei diesen Expeditionen zu begleiten. Es war besonders im Sommer herrlich, an der Friedhofsmauer unter dem dichten Dach der Linden zu sitzen oder die Grabsteine anzufassen, mal heiß, mal kalt, während ihre Mutter von Grab zu Grab ging mit ihren Stulpenhandschuhen und ihrem Gartenkorb. Danach aßen sie immer ihre Sandwiches auf einer Wiese und machten der alten Mrs. Dymond einen Besuch, deren Söhne und Enkel aus ererbter Pflicht das Gras und die Büsche des Familiengrabes schnitten. Als Laura älter wurde, fiel ihr der aktive Teil dieser Ausflüge zu; und in den letzten Jahren, als sie allein ging, überließ sie sich oft halb der Fantasie, dass ihre tote Mutter, deren Grab sie gerade pflegte, ein wenig abseits im Schatten säße, um gleich aufzustehen und zu ihr zu kommen, weil sie sich gerade an einen seltsamen Charakterzug des benachbarten Großonkels erinnert und gründlich darüber nachgedacht hatte.

 

Die Bienen summten in den reglosen Linden. Die Sonne – es dauerte noch ungefähr eine Stunde, bis sie unterging – schien mit einem heftigen und ausdauernden Interesse auf die kleine Gruppe. »Mitten im Leben sind wir dem Tode nahe«, sagte Mr. Warbury, dessen Stimme außerhalb seiner Kirche in der stummen, sonnigen Luft ziemlich pietätlos klang. »Mitten im Tode sind wir dem Leben nahe«, dachte Laura, wäre ein passenderer Ausdruck für den Augenblick. Ihr kleiner Körper schien in dem gleißenden Sonnenlicht von ungeheurer Vitalität zu beben, schien unbewusst auf die Hitze, Gerüche und Farben zu reagieren. Mit blinden, klarsichtigen Augen sah sie, wie der Sarg ins Grab gelassen und die Erde darauf geschaufelt wurde. Sie wurde sich bewusst, dass um sie herum Bewegung entstanden war, dass die Zuschauer sich zerstreuten, dass Füße scharrten und Abschied genommen wurde. Aber es schien ihr nicht bewusst zu werden, dass auch für sie die Zeit gekommen war, Abschied zu nehmen. Sie beobachtete den Totengräber, der seine Arbeit nun etwas geschäftiger fortsetzte. Ein Arm schob sich unter den ihren. Eine Stimme sagte: »Liebe Laura! Wir müssen jetzt gehen!«, und Caroline führte sie weg. Caroline liefen Tränen übers Gesicht; sie schien zu weinen, weil es Zeit war zu gehen.

Laura wollte sich auf einen letzten Blick umdrehen, doch Caroline hinderte sie daran. Ihre Tränen flossen schneller, sie schüttelte den Kopf und seufzte. Sie erreichten das Tor. Es schloss sich mit einem zufriedenen Klicken hinter ihnen, denn sie waren die Letzten.

Gegenüber vom Friedhof waren die Tore des alten Zuhauses. Die Auffahrt war lang, gerade und gepflegt. Sie war nur eine Wagenspur durch eine Wiese gewesen, als das alte Haus noch eine Farm war. Am Ende der Auffahrt stand das graue Steinhaus. Eine purpurfarbene Clematis verdeckte die Eingangstür, und eine weiße Katze lag schlafend in einem Beet Kapuzinerkresse. Die Vorhänge waren aus Achtung vor dem Verstorbenen zugezogen worden. Laura betrachtete das Haus. Seit ihrer frühesten Kindheit war es ein vertrauter Anblick gewesen, ein vertrauter Gedanke. Aber jetzt sah sie es mit anderen Augen an: Eine Vorahnung von Vertreibung überkam sie, und sie sah, indem sie Lady Place vergaß, mit der Sehnsucht einer Verstoßenen auf den Wohnsitz, der vor so langer Zeit abgelegt worden war. Das Haus war wie ein altes, blindes Kindermädchen, das in der Sonne sitzt und Erinnerungen nachhängt. Es schien ein Akt äußerster Undankbarkeit zu sein, all dies zu verlassen und ohne ein Wort der Liebe wegzugehen. Aber die Tore waren verschlossen, die Zeit des Willkommens vorbei.

Sie standen noch eine Weile auf der Straße, keiner machte eine Bewegung, jeder wartete auf des anderen Anfang. Eine hohe Pappel wuchs links vom Tor des Kirchhofs. Ihr spärlicher Schatten berührte kaum die weiße Oberfläche der Straße. Einige Wespen summten um ihren Stamm, und kurz darauf stach eine von ihnen Henry. Dies schien der Sporenstich zu sein, auf den alle gewartet hatten; sie wandten sich um und gingen zur Straßenecke, wo die Kutschen standen, um sie zum Bahnhof zurückzufahren.

Jeder hatte Mitleid mit Laura, denn alle wussten, wie sehr sie ihren Vater geliebt hatte. Sie alle waren der Meinung, es sei gut, dass Henry und Caroline sie nach London mitnahmen. Sie hofften, dass diese Veränderung sie von ihrem Schmerz ablenken würde. In der Zwischenzeit gab es eine Menge zu tun – auch das war eine Ablenkung. Kleider und Besitztümer mussten aussortiert, Familie und Freunde besucht und Kondolenzbriefe beantwortet werden. Daneben musste sie ihre eigenen angehäuften persönlichen Dinge auflösen. Sie hatte achtundzwanzig Jahre in einem Haus gelebt, in dem es eine Tradition des Hortens und niemals Platzmangel gab, sodass die Ansammlung beträchtlich war. Es gab altes Spielzeug, seltsam geformte und leuchtend bunte Steine, Schulbücher, Aquarellskizzen der Hunde und des Gartens; ein Bündel Tanzkarten, wegen ihrer kleinen Bleistifte aufgehoben, die ihrerseites zu einem unlösbaren Knoten verfilzt waren; Teile unvollendeter Handarbeiten, Schmuckkästchen, Zeitungsausschnitte und unerklärliche Gegenstände, die Erinnerungsstücke an Dinge gewesen sein mussten, die sie vergessen hatte. Diese Schätze durchzugehen, beschäftigte die Oberfläche ihrer Gedanken. Aber mit jedem Stück, das sie wegwarf, schien sie auch die Bedeutung ihrer Jugend zu leugnen.

So beschäftigt wurde sie den ganzen Tag von ihrem eigentlichen Kummer ferngehalten. Aber beim Dunkelwerden ging sie dann aus dem Haus und lief die Nussbaumallee am Fuße des Gartens auf und ab. Die kalte Luft, die vom Boden aufstieg, sprach traurig von der Beerdigung, die bemoosten Pfade klangen gedämpft und demütig unter ihrem Schritt, und die Gerüche des Herbstes trauerten mit ihr. Brewer, der Gärtner, sah sie hin und her laufen, während er die Glut seines Laubfeuers austrat; eine zarte Gestalt, die sich gelassen zwischen den reglosen Zweigen bewegte. Er allein hatte den Tod seines Herrn ohne großes Aufheben hingenommen. Der Tod, der zu den Alten kam, war für ihn ein harmloser Gedanke, aber wenn er Laura sah, seufzte er tief, als ob er sie gepflanzt hätte und sehe sie jetzt vom Sturm zerdrückt und geknickt.

Zehn Tage nach Everards Tod verließen Henry und Caroline Lady Place und nahmen Laura mit. Sie empfand den Abschied weniger schmerzlich, als sie erwartet hatte, und nach der Ankunft in Apsley Terrace schickte Caroline sie sofort zu Bett, was ihre Traurigkeit vereinfachte, da sie sich wie ein unglückliches Kind fühlen konnte.

Laura hatte gehört, wie die anderen alle der Meinung waren, der Umzug nach London würde ihr guttun. Sie hatte sich nicht vorstellen können, dass eine äußere Veränderung ihre Stimmung verändern würde. Aber jetzt bemerkte sie, dass die Verwandten sie besser eingeschätzt hatten als sie selbst. In Somerset hatte sie wegen des Todes ihres Vaters getrauert. In London trat ihre Trauer vor der plötzlichen Wahrnehmung ihres Verlustes zurück. Sie hatte geglaubt, dass die Trauer sie viele Jahre begleiten würde, und hatte Beschäftigung dafür geplant. Jetzt suchte sie sie wie plötzliche Schneestürme heim, ein hastiges Dunkelwerden am Himmel, ein vorübergehendes Weiß und eine Kälte, die auf sie fiel. Sie versuchte, das Gefühl des Verlusts wiederzufinden, welche sie wie einen Schleier getragen hatte. Es war verschwunden und mit ihm auch ihr Gefühl von der Würde der Trauer.

Henry und Caroline taten alles, um zu verhindern, dass sie traurig war. Wenn sie bei ihr eine Schande hätten ignorieren wollen, hätten sie nicht taktvoller, nicht zartfühlender vorgehen können.

Der erste Winter floss wie ein halbgefrorener Strom vorbei. Zur Jahreswende wurde es äußerst kalt. Sandsäcke aus roter Baumwolle wurden auf die Fensterbretter gelegt, und Fancy und Marion mit ihren kleinen Muffs aus Lammfell liefen auf dem Round Pond Schlittschuh. Laura lief nicht Schlittschuh, sondern ging mit Caroline schnellen Schritts den Pfad entlang und lauschte dem Kratzen und Schaben der Schlittschuhe auf dem Eis und dem Schreien der Möwen über ihrem Kopf. Sie empfand es viel kälter in London als auf dem Land, wenn ihr auch Henry versicherte, dass dies unmöglich sei. Sie bekam Frostbeulen, was sie sehr ärgerte, da sie seit ihrer Kindheit keine Frostbeulen mehr gehabt hatte. Denn Nannie Quantrell schickte sie am frühen Morgen immer hinaus, damit sie barfuß über den bereiften Rasen lief. Es gab einen kleinen Garten in Apsley Terrace, der aber mit Kies bestreut worden war, da Henry die Qualität des Londoner Grases nicht mochte; und außerdem war es nicht jene Art von Garten, in dem man barfuß herumlaufen konnte.