Rassismus und kulturelle Identität

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Rassismus und kulturelle Identität
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Stuart Hall

Rassismus und kulturelle Identität

Ausgewählte Schriften 2


Herausgegeben und übersetzt von Ulrich Mehlem, Dorothee Bohle, Joachim Gutsche, Matthias Oberg und Dominik Schrage unter Mitarbeit von Britta Grell und Dominique John mit einer Bibliografie der Werke Stuart Halls von Juha Koivisto

Lektorat: Michael Haupt

Stuart Hall – Ausgewählte Schriften bei Argument:

Ideologie, Kultur, Rassismus (Schriften 1)

Rassismus und kulturelle

Identität (Schriften 2) Cultural Studies (Schriften 3)

Ideologie, Identität, Repräsentation (Schriften 4)

Populismus, Hegemonie, Globalisierung (Schriften 5)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Neuausgabe 2012 mit leicht geändertem Satzbild,

Paginierung gegenüber früheren Ausgaben geringfügig abweichend

Alle Rechte der deutschen Fassung vorbehalten

© Argument Verlag 1994

Glashüttenstraße 28, 20357 Hamburg

Telefon 040/4018000 – Fax 040/40180020

www.argument.de

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018

ISBN 978-3-86754-850-2

Sechste Auflage 2016

Inhalt

Einleitung

Imagination

creates the situation

and, then, the situation

creates imagination.

It may, of course,

be the other way around:

Columbus was discovered

by what he found.

James Baldwin

Mit seinen Beiträgen zum Thema »Rassismus und kulturelle Identität« interveniert Hall in ein Feld, das auch in der bundesdeutschen Debatte um Multikulturalismus und neuen Nationalismus heftig umkämpft ist. So dient der Begriff der kulturellen Identität im Diskurs einer multikulturellen Gesellschaft nicht nur dazu, das Recht der Eingewanderten auf Bewahrung ihrer eigenen Kultur zu begründen, sondern wird auch als Bereicherung für die Angehörigen der Mehrheit gefasst: ob diese eher als Vielfalt in der Konsumkultur oder als ökonomische Kosten-Nutzen-Rechnung (so z. B. Cohn-Bendit/Schmid 1992) erscheint, die Toleranz der Einheimischen soll sich immer lohnen. Dagegen reklamieren die ›Neue Rechte‹ und eine bis in den Konservatismus reichende Strömung denselben Ausdruck zur Verteidigung einer bedroht geglaubten nationalen Identität.

Die radikale Rassismuskritik hat den Begriff aufgrund dieser Ambivalenz daher schon früh aufgegeben, da er von den ökonomischen und institutionellen Aspekten des Rassismus ablenke. Auch eine Position, die eine Politik rechtlicher und staatsbürgerlicher Gleichstellung in den Vordergrund stellt, sieht in der Konzeption der multikulturellen Gesellschaft

»eine Ideologie zur Differenzmarkierung entlang ethnischer Unterscheidungen mit der Tendenz der unendlichen Verschärfung von Gruppenkonflikten, die im Ergebnis deren Unlösbarkeit bedeuten muss« (Radtke 1993, 99).

An ihre Stelle soll das »Lob der Gleichgültigkeit« treten (Radtke 1991).

In Taguieffs Dekonstruktion des Antirassismus (1987) taucht der Begriff der kulturellen Identität in widersprüchlicher Weise auf. Zunächst wird er zur Kennzeichnung einer gemeinschaftlich traditionellen Form des Antirassismus gefasst als

»das Recht auf kulturelle, ethnische, ja rassische Differenz (›Négritude‹, ›Jüdischsein‹): als das Recht der Völker, auf ihren eigenen Traditionen zu beharren, das Ideal der Bewahrung von Gruppenidentitäten (bis zur Pflicht der Völker, sie selbst zu bleiben) …« (18)

Das ›Recht auf Differenz‹ erscheint hier als absolute Abgrenzung, als Zwang zur Bewahrung einer Essenz; Taguieff rückt diese Position damit in die Nähe des Rassismus selbst. In seiner Polemik gegen eine Unterstellung von ›Menschen ohne Wurzeln und Bindungen‹ rekurriert er in genau entgegengesetzter Weise auf den Begriff:

»Man findet bei Sartre das Lob des Bastards, das ›antirassistische‹ Lob der Tugenden der Vermischung als den großen Auslöscher einer definierten kulturellen Identität, oder des Einwanderers ohne zuschreibbare nationale Identität als Bild (seiner selbst zum Trotz) der absoluten Unschuld, von dem das okzidentale schlechte Gewissen umfassend Gebrauch gemacht hat.« (171)

Hier dient kulturelle oder nationale Identität als ein gewissermaßen positives Gegenbild zu intellektuellen Positionen von Hybridität, die als Phantasmen und gefährliche Illusionen zurückgewiesen werden. Es bleibt für Taguieff unvorstellbar, dass gerade Mischlinge und Hybride ein Konzept kultureller Identität für sich reklamieren könnten, das auf jede Vorstellung eines Wesens und geschichtlichen Ursprungs verzichtet. Er steht hier für viele, die sich in einer binären Kette von Dichotomien verfangen haben und nur eine Alternative als politischen Ausweg denken können: entweder das Beharren auf ›erfundenen Traditionen‹ (Hobsbawm und Ranger 1983) und imaginären ›Wurzeln‹ einer ›vorgestellten Gemeinschaft‹ (Anderson 1988) oder die Selbstauslöschung in der Assimilation und Homogenisierung.

Leben und Werk des 1932 auf Jamaika geborenen und seit Anfang der fünfziger Jahre in England lebenden Stuart Hall1 stehen für eine theoretische, politische und gelebte Alternative zu diesem ausweglosen Entweder-Oder der (Selbst-) Unterwerfung. Wer zwischen den Kulturen aufwuchs und lernen musste, mit verschiedenen Identitäten zu leben und verschiedene kulturelle Sprachen zu sprechen, dem bietet sich die Chance der Übersetzung, des Brücken-Bauens. Was er über die Übersetzer sagt, gilt auch und ganz besonders für ihn selbst:

»Sie tragen die Spuren besonderer Kulturen, Traditionen, Sprachen und Geschichten, durch die sie geprägt wurden, mit sich. Der Unterschied ist, dass sie nicht einheitlich sind und sich auch nie im alten Sinne vereinheitlichen lassen wollen, weil sie unwiderruflich das Produkt mehrerer ineinandergreifender Geschichten und Kulturen sind und zu ein und derselben Zeit mehreren ›Heimaten‹ und nicht nur einer besonderen Heimat angehören. Menschen, die zu solchen Kulturen der Hybridität gehören, mussten den Traum oder die Ambition aufgeben, irgendeine ›verlorene‹ kulturelle Reinheit, einen ethnischen Absolutismus, wiederentdecken zu können.« (vgl. unten)

In allen hier vorgelegten Texten ist Halls Bindung an die Karibik, an seine Heimat Jamaika unübersehbar, so wie die scharfsinnige Ironie, mit der er seine andere Heimat Britannien beschreibt, die eine intime Vertrautheit mit der britischen Kultur in ihrer ganzen Vielfalt verrät. Die Abneigung gegen Absolutismen jeder Art führte ihn nach dem Ungarnaufstand 1956 zur britischen New Left, einer aus unzufriedenen Kommunisten und Labour-Linken bestehenden Gruppierung, wo seine Fähigkeit zum (theoretischen) Übersetzen ihn zum gefragten Redner und schließlich ersten Herausgeber des New Left Review werden ließ. Seine Fähigkeit, theoretische und politische Brücken zu bauen, lässt sich vom 1967/68 mit Raymond Williams und Edward P. Thompson verfassten May Day Manifesto bis zum entscheidend von ihm mitbestimmten Manifesto for New Times (1989) als Vorschlag für eine postfordistische Linke verfolgen. Als Mitarbeiter und später Direktor des Centre for Contemporary Cultural Studies in Birmingham erhob er die Übersetzung zwischen verschiedenen theoretischen Traditionen und empirischen Methoden als eine Arbeit kritischer Rekonstruktion zum Programm. Zur Übersetzung zwischen Theorie und Politik trug er durch seine einflussreichen Analysen des Thatcherismus sowie durch zahlreiche Interventionen in Zeitschriften wie Marxism Today bei. Heute überbrückt er unterschiedliche Wissenskulturen als Professor an der interdisziplinär orientierten Open University, wo unabhängig von Klassenzugehörigkeit, Alter und Schulabschluss studiert werden kann.

In einem seiner ersten Aufsätze zum Rassismus (›Rasse‹, Artikulation und Gesellschaften mit struktureller Dominante) diskutiert Hall die Verankerung rassistischer Strukturen am Beispiel Südafrikas. Er knüpft hier an Konzepte des französischen Marxisten Louis Althusser und seiner Schule eines strukturalistischen Marxismus2 an und bezieht deren Begriffe der Produktionsweise, der Gesellschaftsformation und der Artikulation auf die Debatten der siebziger Jahre um Entwicklung und Unterentwicklung. Damit kann Hall gegen die dominierende ökonomistische Tendenz das Weiterbestehen sogenannter vorkapitalistischer Produktionsweisen und gesellschaftlicher Organisationsformen unter Bedingungen eines mehr oder weniger entwickelten Kapitalismus denken. In der neueren Rassismusdebatte wird zwar das Verhältnis von Zentrum und Peripherie als konstitutiv für verschiedene Rassismen berührt, weitere Resultate der damaligen Forschungen bleiben jedoch heute unberücksichtigt. Hall übersetzt hier auch zwischen marxistischen und linksweberianischen Erklärungen des Verhältnisses von ›Rasse‹ und Klasse. Er betont die historische Spezifik rassistischer Stratifikationen und die analytische Notwendigkeit, von den materiellen Existenzbedingungen auszugehen, ohne dabei in den Ökonomismus zurückzufallen oder die Produktionsverhältnisse in eine Vielfalt heterogener Konflikte aufzulösen.

 

Auch der Beitrag des italienischen Marxisten und Theoretikers Antonio Gramsci für das Verständnis des Rassismus, den er in einem späteren Aufsatz weiter ausgeführt hat (1986a, dt. in 1989a), wird hier erstmals skizziert: mit seinem Begriff der Hegemonie könne gleichzeitig die Gesellschaft als einheitlicher Wirkungszusammenhang begriffen und die Nichtreduzierbarkeit politischer und ideologischer Auseinandersetzungen auf ökonomische Strukturen gedacht werden. Anders als im Funktionalismus, den Hall auch Althusser vorwirft, oder in verschiedenen systemtheoretischen Ansätzen, dürfe diese Einheit nicht immer schon vorausgesetzt, sondern müsse als eine Aufgabe begriffen werden, diese erst ökonomisch, ideologisch und politisch herzustellen. Während etwa zur gleichen Zeit die Regulationstheoretiker in Frankreich beginnen, diese Frage an ökonomischen Problemen zu untersuchen, nimmt Hall dieselbe Problemstellung zum Ausgangspunkt für seine Studien über die diskursive Konstruktionsweise und Bedeutung kultureller Identität.

Auch bei diesen Analysen am Beispiel kultureller Praktiken wie Film, Musik, Fotografie und Stil, auf die in den meisten Texten Bezug genommen wird, bildet Althusser mit seinem Beitrag zur Ideologietheorie einen Ausgangspunkt. Der Begriff des Subjekts, das sich erst durch die Anrufung einer ideologischen Macht als handlungsfähiges konstituiert und gleichzeitig einer ideologischen Struktur unterwirft, mit der es sich identifiziert, ist für Halls Überlegungen zentral: Praxis findet immer als Praxis von Subjekten statt, d. h. unter einer Ideologie und damit partiell im Medium des Imaginären (Althusser 1977).

Hall entwickelt dieses Konzept weiter, indem er die Techniken der Identifikation und ihre Kombination aufzeigt, durch die sich das empirische Subjekt der ideologischen Struktur, dem universalen Subjekt, unterwirft. In diesem Prozess spielt Repräsentation eine entscheidende Rolle, die nicht mehr als nachträgliche Vor- oder Darstellung außersprachlicher Sachverhalte, sondern als ihre Konstitution im Modus der Bedeutung selbst begriffen werden muss. Analog zu den Wahrheitsregimes, die bei Foucault als institutionelle Arrangements die Entscheidung darüber präformieren, was unter bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen als wahr zu gelten hat und was nicht (…), arbeitet Hall mit dem Begriff des Repräsentationsregimes, das zulässige Formen der kulturellen Sinnproduktion von ausgegrenzten und verdrängten unterscheidet. Die Kämpfe marginalisierter Akteure, um die es Hall geht, werden daraufhin untersucht, wie sie in die herrschenden Repräsentationsregimes intervenieren.

Den engen Zusammenhang zwischen Rassismus und seinem Konzept kultureller Identität zeigt Hall am Beispiel schwarzer Emanzipations- und Bürgerrechtsbewegungen der sechziger und siebziger Jahre, die die negative Symbolik der Farbe Schwarz umkehrten und zur Quelle eines neuen Selbstbewusstseins machten. Das Afrika der ›Wurzeln‹ wurde zum symbolischen Ort einer neuen Identität, die die Aufarbeitung der Geschichte von Verschleppung, Sklaverei und Unterdrückung aus einer eigenen Perspektive überhaupt erst möglich machte. Auch wenn diese Gegenidentifikation dem herrschenden Repräsentationsregime noch in der Umkehrung verhaftet bleibt, gegen das wesenhaft weiße Subjekt der Herrschaft ein wesenhaft schwarzes setzte, sieht Hall in ihr so lange einen unverzichtbaren Ausgangspunkt schwarzer Identitätspolitik, wie diese mit rassistischen Strukturen der Ausschließung und Marginalisierung konfrontiert sind. Im Gegensatz zu Taguieff, der in Césaires Négritude und Fanons Rebellion der ›Verdammten dieser Erde‹ nur einen schwarzen Gegenrassismus sehen konnte (1991, 239–41), begreift Hall auch diese Formen noch in ihrem historischen Zusammenhang. Deshalb nimmt er überall dort, wo es um die schwarze Erfahrung geht, emphatisch auf Fanon Bezug, der wie er aus der Karibik stammt, aber in der französischen Metropole und als Unterstützer des algerischen Unabhängigkeitskrieges einen anderen Weg einschlug.

Halls entscheidende Intervention ist also, dass der Begriff der kulturellen Identität ebenso wenig wie der der Ethnizität aufgegeben werden muss, um den Kampf für umfassende individuelle und gesellschaftliche Emanzipation führen zu können. Im Gegenteil: ein solcher Kampf zwingt jede/n Akteur/in dazu, einen Standpunkt zu beziehen, den Ort zu bestimmen, von dem aus er/sie spricht, d. h. sich zu positionieren. Bei diesem Akt des Positionierens bleiben die Herkunft, die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die sprachlichen und kulturellen Codes, über die er/sie verfügt, unverzichtbare Ressourcen: Elemente der Ethnizität.

Dennoch kann kulturelle Identität – spätestens seit der Zäsur von 1968 und dem Aufstieg neuer sozialer Bewegungen, in denen die Strategien der Identifikation selbst zum ersten Mal und über die traditionellen Grenzen des politischen Raums hinaus zum Gegenstand der Politik wurden – nicht mehr als Bewahrung eines Wesens oder einer ursprünglichen Essenz gedacht werden. Sie muss in den Kontext eines neuen Globalisierungsschubs des Weltkapitalismus gestellt werden, durch den Interdependenz und Zeit-Raum-Verdichtung ausgeweitet wurden und – für die hier behandelten Fragen zentral – die internationale Migration eine neue Qualität erlangte. Hall sieht diesen Umbruch im Zusammenhang mit dem Ende des fordistischen Akkumulationsregimes (vgl. z. B. das Manifesto for New Times, Hall 1989e). Die Bindekraft ›absolutistischer‹ Anrufungen durch ›große‹ kollektive Subjekte wie Nation oder Klasse lässt nach, das individuelle Subjekt wird ›fragmentiert‹ und ›zerstreut‹ (dislocated). Hall weiß allerdings, dass diese Erfahrung von Anfang an auch zur Moderne gehört und dass die Erzählungen des (männlichen, weißen, englischen) ›großen Subjekts‹ nie völlig beherrschend waren. Deswegen spricht er zumeist von ›Spät‹- statt von ›Postmoderne‹. Er zeigt, wie Theoretiker der Postmoderne an ihre Vorläufer anknüpfen, die bereits mitten in der Moderne mit der Dezentrierung des Subjekts begannen: Althusser verweist auf Marx, Lacan auf Freud, Derrida auf Saussure; zu einer Zeit, als die Disziplinen der Ökonomie und des Rechts noch fraglos vom Individuum als Subjekt seiner Handlungen ausgingen, arbeitete die Soziologie bereits am Problem der Sozialisation; in der Literatur und den bildenden Künsten war eine feste Vorstellung vom Ich und seinem Ort in der Gesellschaft, seiner Verankerung im Raum und in der Zeit, schon längst gesprengt worden. Auf der ideologischen Ebene bleibt daher auch in dieser neuen Form der Globalisierung das amerikanische Modell kapitalistischer Vergesellschaftung dominant, das Michel Pêcheux im Gegensatz zur staatszentrierten ›Festung‹ als ›paradoxalen Raum‹ mit ›offenen Rändern‹ beschrieben hat (Pêcheux 1983, 382f). Dieses Modell hat aus dem Widerstand der Ränder (den antikolonialen Bewegungen und den Protestbewegungen in den Metropolen selbst) gelernt und eine Vielfalt von Differenzen in seinen Rahmen integriert, die als Material der Verfeinerung und des Genusses einer wesentlich okzidentalen und an bestimmte Milieus gebundenen Yuppie-Kultur dienen. Als privilegierter Ort der modernen Kunst, als exotische Formen der Küche, der Sprache, des Lebensstils werden so die Marginalisierten reintegriert, alles, was an den Differenzen auf Widersprüche und Kämpfe verweist, dagegen ausgelöscht (vgl. unten).

In einer solchen Konzeption, in der sich unschwer auch gewisse Formen des Multikulturalismus wiedererkennen lassen, bleibt der reiche kapitalistische Westen weiterhin das Zentrum gegenüber einem ›Rest‹. Diese Beziehung wird nach Hall immer noch in Begriffen eines Diskurses gedacht, der von der Entdeckungsgeschichte vor allem der beiden Amerikas geprägt ist. Hall veranschaulicht dieses ›Wahrheitsregime‹ am Beispiel der dichotomisierenden Stereotype des edlen und des menschenfressenden Wilden und ihren Wirkungen in der Gesellschaftstheorie der Aufklärung bis zu Marx und Weber.

Gibt es unter diesen neuen Verhältnissen des Globalen noch Widerstand, Möglichkeiten für eine Politik des Lokalen zwischen ›Fundamentalismus‹ und dem Aufgehen in der kulturellen Homogenisierung? Diese Frage führt Hall zur Beschreibung einer neuen Identitätspolitik, deren Entstehen er im thatcheristischen England und den karibischen Bewegungen der siebziger Jahre beobachtet. Es handelt sich um hybride, kreolische Formen der Identitätsbildung, deren Voraussetzung gerade die Entwurzelung, die Diaspora, die Zerstreuung und Auflösung fester Zusammenhänge ist.3 Im neuen schwarzen Film und in der Literatur führt diese zu einer Bearbeitung sozialer, politischer, kultureller und geschlechtsspezifischer Widersprüche in den Immigrant/innen-communities selbst. Ihr Paradigma ist die karibische Kultur, für die es noch nie eine essenzielle Einheit und Homogenität gab, da sich in ihr drei Präsenzen – ein afrikanischer Ursprung, die europäische Kolonialherrschaft und die Verpflanzung auf ein amerikanisches, entvölkertes Territorium – von Anfang an durchdrangen.

Die Aufgabe, die sich diesen Bewegungen stellt, ist eine Konstruktion von Identität durch Differenz, die als Positionierung dem unabschließbaren Prozess der sprachlichen Sinnproduktion unterworfen ist, den Hall mit Derridas Kategorie der différance theoretisch zu fassen sucht. Dennoch kann an die Stelle der Identität kein endloses Spiel der Differenzen treten, weil soziale Akteure, um Selbstbewusstsein zu erlangen, handeln und Widerstand leisten zu können, sich in den Auseinandersetzungen positionieren müssen.

In der Dezentrierung des spätmodernen Subjekts liegt für Hall, bei aller Gefahr von Seiten eines Kapitalismus à la Benetton, aber auch eine Chance politischer Veränderung. Diese Chance kann nur dann wahrgenommen werden, wenn die politischen und theoretischen Veränderungen begrifflich erfasst und gedacht werden, wenn es gelingt, auf die neue Situation angemessen zu reagieren. Sie besteht darin, die Geschichtlichkeit und Veränderbarkeit dessen, was die Moderne »Subjekt« nannte, und seine Positionierung in den Repräsentationsregimes als etwas Gewordenes und Veränderbares zu begreifen, ohne dass dadurch die Machtverhältnisse, die diese Positionierung bestimmen, in einer angenommenen Kontingenz der Sprachspiele unsichtbar werden.

Hall verknüpft daher Derridas Gedanken der différance mit Gramscis Konzeption des Stellungskrieges (vgl. unten), den dieser – in Abgrenzung zu Lenins Oktoberrevolution – als Metapher für neue Möglichkeiten sozialistischer Politik in den entwickelten kapitalistischen Gesellschaften gebrauchte: als Kampf um Positionen in allen gesellschaftlichen Bereichen, als ein Ringen um die Hegemonie, durch die eine Vielfalt verschiedener sozialer Kräfte unter Wahrung ihrer Differenzen zu einem gemeinsamen Projekt zusammengeführt werden sollen. Die Bemühungen der organischen Intellektuellen, das widersprüchlich zusammengesetzte Alltagsbewusstsein kohärent zu machen, können mit Hall nicht als Versuche der Vereinheitlichung gefasst werden, sondern am ehesten als solche der Übersetzung.

Unter den Kampffeldern einer neuen Politik des Lokalen ist auch in Britannien die Frage der Bürgerrechte wieder aktuell geworden (vgl. Hall 1989e, 173–188). Hier bietet sich die Möglichkeit, gegen einen extrem verengten Begriff englischer Identität, wie er im Thatcherismus deutlich wird, eine neue, Differenzen integrierende Politik sozialer Menschen- und Bürgerrechte in Gang zu setzen. Deren Basis könnten gerade hybride Identitäten bzw. eine gegen das Konzept des Staatsbürgers gerichtete und dadurch geradezu desidentifikatorisch wirkende Identität als Menschenrechtsträgerin werden,

»indem sie aufgrund deren innerer Dynamik … (nicht nur) auf die noch nicht allgemein zugestandenen Menschen- und Bürgerrechte (etwa der sog. 2. und 3. Generation) verweist, sondern auch immer … auf die Frage, wer noch, wenn schon ich, als TrägerIn von Menschen- und Bürgerrechten zu ›erklären‹, anzuerkennen ist.« (Wolf 1994, 13)

Diese Problematik verweist zurück auf das Problem der nationalen Identität, die traditionell als Gegenbegriff par excellence gegenüber jeder Vorstellung von Mischkultur gilt. Hall gelingt es (in Die Frage der kulturellen Identität), die Herausbildung nationaler kultureller Identitäten selbst als Hybridbildung zu fassen, in der heterogene ethnische, kulturelle, sprachliche, soziale und regionale Elemente zu einer widersprüchlichen Einheit gewaltsam zusammengefügt wurden; das Vergessen dieser gewaltsamen Ursprünge war die Voraussetzung für die Entstehung und Verbreitung eines ›Nationalbewusstseins‹ in breiten Teilen der Bevölkerung. Erst der Niedergang dieser Identitäten (und die Verbissenheit, mit der sie vom Thatcherismus beschworen und kriegerisch in Szene gesetzt werden, ist gerade ein Zeichen dieser – gefährlichen – Agonie) macht sichtbar, dass sie selbst, auch in ihrer höchsten Machtentfaltung (z. B. als das viktorianisch geprägte Englischsein der Jahrhundertwende) nichts anderes als Ethnizitäten darstellen.

 

In seiner Wendung gegen einen ideologischen Begriff von nationalstaatlich gefasster kultureller Identität kann dieses Konzept eine geradezu subversive Kraft entfalten: es desartikuliert Fragen der Herkunft, der territorialen und gruppenbezogenen Bindungen von ihren herrschaftsförmigen Besetzungen. Ethnizität bleibt unverzichtbarer Teil auch einer neuen Politik der Repräsentation, da ohne sie eine Positionierung in und gegen herrschende Repräsentationsregimes nicht denkbar ist. Gerade in der Reklamation auch ihrer britischen Komponente durch Schwarze afrokaribischer oder asiatischer Abstammung zeigt sich, dass eine Identitätspolitik des Hybriden keinen Verlust politischer Handlungsfähigkeit bedeuten muss.

Die Auswahl der Beiträge orientierte sich am Schwerpunktthema, das seit etwa zehn Jahren in den Arbeiten Halls immer mehr in den Vordergrund tritt. Der Band versteht sich als Ergänzung zum ersten von Nora Räthzel im Argument Verlag herausgegebenen Band (1989a), der einen Querschnitt über verschiedene Arbeitsschwerpunkte in dem außerordentlich reichhaltigen und vielseitigen Werk Stuart Halls gab.

Der erste Teil: Umkämpfte Identitäten – neue Politiken der Repräsentation beginnt mit dem Vortrag Neue Ethnizitäten (1988e), der am Beispiel des neuen schwarzen britischen Films alle zentralen Aspekte des Themas der kulturellen Identität schon einmal umreißt. Ihm folgt ein Beitrag, den Hall auf einer Tagung der linken Filmzeitschrift Framework hielt (1989f, später unter dem Titel Kulturelle Identität und Diaspora nochmals in leicht gekürzter Fassung veröffentlicht [1990f]) und der – diesmal unter Bezugnahme auf den karibischen Film und die Arbeiten von Fotografen – das Thema der kulturellen Identität weiter entfaltet. Die beiden in einem Reader zu Kultur, Globalisierung und Weltsystem enthaltenen Vorträge Das Lokale und das Globale – Globalisierung und Ethnizität sowie Alte und neue Identitäten, alte und neue Ethnizitäten (Hall 1991a) geben ein übergreifendes Bild konkurrierender Modelle kultureller Identitäten, sowohl aus der Perspektive einer globalen kapitalistischen Massenkultur als auch vom Standpunkt der lokalen Gegenkräfte aus. Hier finden sich am englischen Beispiel erste Ausführungen zum Thema der nationalen kulturellen Identität.

Der zweite Teil: Rassismus, westliche Dominanz und Globalisierung vertieft die zuletzt genannten Aspekte. Der in einem Reader der UNESCO veröffentlichte Aufsatz ›Rasse‹, Artikulation und Gesellschaften mit struktureller Dominante (1980g) zeigt – am Beispiel von Diskussionen über die ökonomischen, politischen und ideologischen Grundlagen des Apartheidregimes – Halls Interventionen in verschiedene Debatten marxistischer Theorie, auf die in den Kerntexten zur kulturellen Identität nicht mehr explizit Bezug genommen wird. Hier stehen Fragen der ökonomischen Struktur im Vordergrund. Dagegen analysiert The West and the Rest (1992c) – ein Einführungstext für den Reader Formations of Modernity, der einem Seminar der Open University zugrunde lag – Diskurse des Westens über die anderen Teile der Welt, ohne die weder das Phänomen des Rassismus noch die Zwänge einer schwarzen Identitätspolitik begriffen werden können. Der Band schließt mit einem ebenfalls für ein Seminar der Open University (Modernity and its Futures) konzipierten Text (Die Frage der kulturellen Identität, 1992g), in dem noch einmal, diesmal mit stärker historischen und theoriegeschichtlichen Bezügen und wiederum unter Einbeziehung aktueller Tendenzen in der globalen Entwicklung, die Zerstreuung der modernen Identitäten und die kulturell hybride Form sogar der nationalen kulturellen Identitäten im Mittelpunkt stehen.

Dieser Text schließt mit einem Zitat Salman Rushdies, der seinen Roman Die Satanischen Verse ein ›Liebeslied an Bastarde wie uns‹ nennt. Hall selbst arbeitet an einer politischen Theorie für Bastarde, zu denen sich alle die zählen können, die ohne die Gewissheiten großer kollektiver Identitäten noch linke Politik machen wollen.


August 1994 Die Herausgeber

1 Zu genaueren Angaben zur Biografie und wissenschaftlichen Tätigkeit Halls vgl. das Vorwort zu Hall 1989a von H. Gustav Klaus sowie die Interviews mit Hall in Gulliver (Hall 1977g) und in Argument 118 (Hall 1979b). (Alle Werke Halls sind im Anhang in der Bibliografie von Juha Koivisto aufgeführt, die auch Hinweise auf vorliegende deutsche Übersetzungen enthält.)

2 Vgl. hierzu die in Hall 1989a übersetzten Texte 1977f und 1988b, sowie die Arbeiten über Marx (1974a, 1977c), die ebenfalls auf Althussers Ansatz zurückgreifen.

3 Ansätze einer ähnlichen Konzeption kultureller Identität finden sich bei Auernheimers Studie über Jugendkulturen der Immigrant/innen in Deutschland (1988). Er gehört zu den wenigen Vertreter/innen eines Konzepts der interkulturellen Erziehung (Auernheimer 1990), die mit einem differenzierten Begriff von kultureller Identität arbeiten.