Rassismus und kulturelle Identität

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Kulturelle Identität und Diaspora

Ein neuer karibischer Film ist im Entstehen, der das Genre des ›Dritte-Welt-Films‹ ergänzt. Er ähnelt den pulsierend-lebendigen Filmen und anderen Formen visueller Repräsentation afrokaribischer (und asiatischer) ›Schwarzer‹ – den neuen postkolonialen Subjekten – in der Diaspora des Westens, und doch unterscheidet er sich von ihnen. Alle diese kulturellen Praktiken und Formen der Repräsentation rücken das schwarze Subjekt in ihr Zentrum und stellen das Thema der kulturellen Identität in Frage. Wer ist dieses sich entwickelnde, neue Subjekt des Films und von wo aus spricht es? Tätigkeiten der Repräsentation schließen immer Positionen ein, von denen aus wir sprechen oder schreiben: Positionen der Artikulation (enunciation). Während wir meinen, sozusagen in ›unserem eigenen Namen‹, von uns selbst und unserer eigenen Erfahrung zu sprechen, legen neue Artikulationstheorien nahe, dass der Sprechende und das Subjekt, über das gesprochen wird, niemals identisch sind und niemals exakt den gleichen Platz einnehmen. Identität ist weder so vollkommen transparent noch so unproblematisch, wie wir denken. Statt Identität als eine schon vollendete Tatsache zu begreifen, die erst danach durch neue kulturelle Praktiken repräsentiert wird, sollten wir uns vielleicht Identität als eine ›Produktion‹ vorstellen, die niemals vollendet ist, sich immer in einem Prozess befindet und immer innerhalb – nicht außerhalb – der Repräsentation konstituiert wird. Diese Sichtweise hinterfragt die Autorität und Authentizität, die der Begriff der ›kulturellen Identität‹ für sich beansprucht.

Wir versuchen hier, einen Dialog, eine Untersuchung zum Thema kulturelle Identität und Repräsentation zu eröffnen. Selbstverständlich muss auch das ›Ich‹, das hier schreibt, selbst als ein ›artikuliertes‹ gedacht werden. Wir alle haben einen bestimmten Ort, eine bestimmte Zeit, eine spezifische Geschichte und Kultur, von denen aus wir schreiben und sprechen. Was wir sagen, steht immer ›in einem Kontext‹ und ist positioniert. Ich wurde in Jamaika geboren und verbrachte dort meine Kindheit und Jugend in einer Familie der unteren Mittelschicht. Als Erwachsener habe ich in England, im Schatten der schwarzen Diaspora – ›im Bauch der Bestie‹ – gelebt. Ich schreibe vor dem Hintergrund einer lebenslangen Beschäftigung mit Cultural Studies. Wenn der Eindruck entsteht, der vorliegende Text sei von den Erfahrungen der Diaspora und von ihren Erzählungen über Verschleppung bestimmt, dann sollten wir uns daran erinnern, dass jeder Diskurs ›platziert‹ ist, und somit auch das, woran das eigene Herz hängt, seine Gründe hat.

Es gibt mindestens zwei unterschiedliche Wege, über ›kulturelle Identität‹ nachzudenken. Die erste Position bestimmt ›kulturelle Identität‹ im Sinne einer gemeinsamen Kultur, eines kollektiven ›einzig wahren Selbstes‹, das hinter vielen anderen, oberflächlicheren oder künstlich auferlegten ›Selbsten‹ verborgen ist und das Menschen mit einer gemeinsamen Geschichte und Abstammung miteinander teilen. Nach dieser Definition reflektieren unsere kulturellen Identitäten die gemeinsamen historischen Erfahrungen und die gemeinsam genutzten kulturellen Codes, die uns als ›einem Volk‹, unabhängig von den sich verändernden Spaltungen und Wechselfällen in unserer aktuellen Geschichte, einen stabilen, gleichbleibenden und dauerhaften Referenz- und Bedeutungsrahmen zur Verfügung stellen. Diese ›Einheit‹, die allen anderen oberflächlicheren Differenzen zugrunde liegt, ist die Wahrheit oder das Wesen des ›Karibischseins‹ bzw. der schwarzen Erfahrung. Es ist diese Identität, die von einer karibischen oder schwarzen Diaspora entdeckt, ausgegraben, ans Licht gebracht und durch filmische Repräsentation ausgedrückt werden muss.

Ein derartiges Konzept kultureller Identität spielte in allen postkolonialen Kämpfen, die unsere Welt so tiefgreifend umgestaltet haben, eine entscheidende Rolle. Es stand schon zu Beginn des Jahrhunderts im Zentrum der Vision von Dichtern der ›Négritude‹, wie Aimé Césaire und Léopold Senghor1 und im Zentrum der Vision des panafrikanischen politischen Projektes. Es ist weiterhin eine äußerst machtvolle und kreative Kraft für die sich entwickelnden Repräsentationsformen heute marginalisierter Völker. In den postkolonialen Gesellschaften ist die Wiederentdeckung dieser Identität, wie Frantz Fanon es einmal nannte, zum Objekt einer »leidenschaftlichen Suche« geworden, die

»von der geheimen Hoffnung genährt und geleitet wird, jenseits der gegenwärtigen Misere, dieser Selbstverachtung, dieser Abdankung und Selbstverleugnung, eine schöne und leuchtende Ära zu finden, die uns sowohl vor uns selbst als auch vor den anderen rehabilitiert.« (Fanon 1981, 178)

Neue Formen kultureller Praxis in diesen Gesellschaften richten sich zu Recht an diesem Projekt aus, denn nach Fanon

»gibt sich [der Kolonialismus] nicht damit zufrieden, das Volk in Ketten zu legen, jede Form und jeden Inhalt aus dem Gehirn des Kolonisierten zu vertreiben. Er kehrt die Logik gleichsam um und richtet sein Interesse auch auf die Vergangenheit des unterdrückten Volkes, um sie zu verzerren, zu entstellen und auszulöschen.« (Ebd.)

Mit seiner Beobachtung stellt Fanon die Frage nach der Natur dieser ›tiefgehenden Suche‹, die die neuen Formen visueller und filmischer Repräsentation antreibt. Geht es nur um die Erschließung dessen, was die koloniale Erfahrung begraben und überlagert hat, darum, die versteckten Kontinuitäten ans Licht zu bringen, die von der kolonialen Erfahrung unterdrückt worden sind? Oder erfordert diese Forschung eine gänzlich andere Praxis, nicht die Wiederentdeckung, sondern die Produktion von Identität, nicht eine Identität, die sich in der Archäologie, sondern in der Wieder-Erzählung der Vergangenheit finden lässt?

Wir sollten jedoch zunächst nicht die Bedeutung dieses Aktes der imaginären Wiederentdeckung unterschätzen oder vernachlässigen, die mit dem Konzept einer wiederentdeckten, wesenhaften Identität verbunden ist. ›Verborgene Geschichten‹ haben in der Entwicklung der wichtigsten sozialen Bewegungen unserer Zeit eine bedeutende Rolle gespielt: im Feminismus, im Antikolonialismus und im Antirassismus. Die fotografischen Arbeiten einer Künstlergeneration von Jamaikaner/innen und Rastafaris wie z. B. Armet Francis (ein in Jamaika geborener Fotograf, der seit seinem achten Lebensjahr in Britannien lebt) sind Zeugnis für die anhaltende kreative Macht dieser Identitätskonzeption innerhalb der entstehenden Repräsentationspraktiken. Francis’ Fotografien von Menschen des Schwarzen Dreiecks, die in Afrika, in der Karibik, in den USA und im Vereinigten Königreich aufgenommen worden sind, versuchen »die tiefe Einheit der schwarzen Menschen, die durch Kolonisierung und Sklaverei über die afrikanische Diaspora verteilt wurden«, in visueller Form zu rekonstruieren. Seine Arbeit ist ein Akt imaginärer Wiedervereinigung.

Entscheidend ist, dass solche Bilder einen Weg eröffnen, der Erfahrung von Zerstreutheit und Fragmentierung, die allen Geschichten der aufgezwungenen Diaspora gemeinsam ist, einen imaginären Zusammenhang zu verleihen. Sie tun dies, indem sie Afrika als die Mutter dieser unterschiedlichen Zivilisationen repräsentieren oder ›versinnbildlichen‹. Das ›Zentrum‹ dieses Dreiecks ist immer noch Afrika. Afrika ist der Name für den fehlenden Begriff, die große Aporie, die im Mittelpunkt unserer kulturellen Identität steht und die ihr eine Bedeutung verleiht, die sie lange Zeit nicht besaß. Niemand kann heute bei der Betrachtung dieser strukturellen Bedeutungen, im Lichte der Geschichte von Deportation, Sklaverei und Migration übersehen, dass die Wunde der Trennung, der ›Verlust der Identität‹, der für die karibische Erfahrung wesentlich gewesen ist, nur dann zu heilen beginnt, wenn diese vergessenen Verbindungen erneut einen Platz erhalten. Solche Arbeiten stellen eine imaginäre Vollständigkeit oder Fülle wieder her, die gegen die zerbrochene Vorstellung unserer Vergangenheit gesetzt werden kann. Sie sind Ressourcen des Widerstandes und der Identität, anhand deren wir uns mit den fragmentarischen und pathologischen Formen auseinandersetzen können, in denen diese Erfahrungen innerhalb des dominanten Regimes der filmischen und visuellen Repräsentation des Westens rekonstruiert wurden.

Nun gibt es eine zweite, mit der ersten verwandte und doch davon unterschiedene Sichtweise von kultureller Identität. Die zweite Position erkennt in dem, ›was wir wirklich sind‹ oder – da die Geschichte eingegriffen hat – ›was wir geworden sind‹, neben den vielen Ähnlichkeiten auch die entscheidenden Punkte einer tiefen und signifikanten Differenz. Wir können nicht mehr länger exakt über ›eine Erfahrung, eine Identität‹ sprechen, ohne ihre andere Seite anzuerkennen: die Brüche und Diskontinuitäten, welche gerade die karibische ›Einzigartigkeit‹ ausmachen. In diesem zweiten Sinne ist kulturelle Identität ebenso eine Frage des ›Werdens‹ wie des ›Seins‹. Sie gehört ebenso zur Zukunft wie zur Vergangenheit. Sie ist nicht etwas, was schon existiert, was Ort, Zeit, Geschichte und Kultur transzendiert. Kulturelle Identitäten haben Ausgangspunkte und Geschichten. Wie alles Historische unterliegen sie ständiger Veränderung. Weit entfernt davon, in einer wesenhaften Vergangenheit für immer fixiert zu sein, sind sie dem permanenten ›Spiel‹ von Geschichte, Kultur und Macht unterworfen. Weit entfernt davon, in einer bloßen ›Wiederentdeckung‹ der Vergangenheit begründet zu sein, die darauf wartet, entdeckt zu werden, und die, wenn sie entdeckt wird, unser Bewusstsein über uns selbst bis in alle Ewigkeit absichert, sind Identitäten die Namen, die wir den unterschiedlichen Verhältnissen geben, durch die wir positioniert sind und durch die wir uns selbst anhand von Erzählungen über die Vergangenheit positionieren.

 

Nur diese zweite Sichtweise ermöglicht es uns, den traumatischen Charakter der ›kolonialen Erfahrung‹ richtig zu verstehen. Die verschiedenen Weisen, mit denen schwarze Menschen und schwarze Erfahrungen in den dominanten Repräsentationsregimes positioniert und unterworfen wurden, waren Effekte einer gezielten Ausübung von kultureller Macht und Normalisierung. Wir wurden durch jene Regimes nicht nur in Sinne von Saids ›Orientalismus‹ innerhalb der Wissenskategorien des Westens als unterschiedene und andere konstruiert. Vielmehr hatten sie die Macht, uns dazu zu bringen, dass wir uns selbst als ›Andere‹ wahrnahmen und erfuhren. Jedes Repräsentationsregime ist ein Machtregime, das, worauf uns Foucault hinweist, durch das verhängnisvolle Doppel von ›Macht/Wissen‹ geformt ist. Doch dieses Wissen ist internalisiert und nicht äußerlich. Es ist eine Sache, ein Subjekt oder eine Gruppe in einem herrschenden Diskurs als das Andere zu positionieren. Es ist jedoch etwas ganz anderes, sie diesem ›Wissen‹ nicht nur durch das Aufzwingen eines Willens und einer Herrschaft, sondern auch durch die Macht des inneren Zwangs und durch subjektive Anpassung (conformation) an die Norm zu unterwerfen. Das ist die Lehre – die dunkle Majestät – aus Fanons Einsicht in die kolonisierende Erfahrung in Schwarze Haut, weiße Masken.

Diese innere Enteignung der kulturellen Identität verkrüppelt und verunstaltet. Wenn ihrem Schweigen nichts entgegengesetzt wird, bringt es – wie es Fanon lebhaft beschreibt – »Menschen ohne Ufer, ohne Grenzen, ohne Farbe, Heimatlose, Nicht-Verwurzelte, Engel« (Fanon 1981, 185) hervor. Trotzdem verändert diese Vorstellung des Andersseins als innerem Zwang unser Konzept von ›kultureller Identität‹. In dieser Perspektive ist kulturelle Identität alles andere als ein fixiertes Wesen, das unveränderlich außerhalb von Geschichte und Kultur läge. Sie ist nicht irgendein in uns vorhandener universeller und transzendentaler Geist, in dem die Geschichte keine grundlegenden Spuren hinterlassen hat. Sie ist nicht ein für alle Mal festgelegt. Sie ist kein fixierter Ursprung, zu dem es irgendeine letzte und absolute Rückkehr geben könnte. Sie ist aber auch nicht nur ein bloßes Trugbild. Sie ist etwas Reales, nicht nur ein bloßer Trick der Einbildungskraft. Sie hat ihre Geschichten – und Geschichten haben ihre realen, materiellen und symbolischen Effekte. Die Vergangenheit spricht weiterhin zu uns. Doch da unsere Beziehung zu ihr, wie die Beziehung des Kindes zur Mutter, immer schon eine ›nach der Trennung‹ ist, spricht sie uns nicht als einfache, faktische ›Vergangenheit‹ an. Sie wird immer durch Erinnerung, Phantasie, Erzählungen und Mythen konstruiert. Kulturelle Identitäten sind die instabilen Identifikationspunkte oder Nahtstellen, die innerhalb der Diskurse über Geschichte und Kultur gebildet werden. Kein Wesen, sondern eine Positionierung. Daher gibt es immer eine Identitätspolitik, eine Politik der Positionierung, für die es keine absolute Garantie eines unproblematischen, transzendentalen ›Gesetzes des Ursprungs‹ gibt.

Diese zweite Sichtweise der kulturellen Identität ist uns weniger vertraut und verunsichert uns stärker. Wenn Identität nicht in einer direkten, ungebrochenen Linie aus einem fixierten Ursprung hervorgeht, wie können wir dann ihre Formierung verstehen? Wir könnten uns schwarze, karibische Identitäten so vorstellen, dass sie von zwei gleichzeitig wirksamen Achsen oder Vektoren, einem der Ähnlichkeit und Kontinuität und einem der Differenz und des Bruches, ›eingerahmt‹ werden: Karibische Identitäten müssen immer als die dialogische Beziehung zwischen diesen beiden Achsen gedacht werden. Die eine gibt uns eine gewisse Grundlage in der Vergangenheit und Kontinuität im Verhältnis zu ihr. Die zweite erinnert uns daran, dass das, was wir miteinander teilen, gerade die Erfahrung tiefgreifender Diskontinuität ist: Die Völker, die in die Sklaverei, Deportation, Kolonisation und Migration getrieben wurden, kamen vor allem aus Afrika – und als das Angebot an Menschen aus Afrika zurückging, wurde es vorübergehend durch Vertragsarbeiter/innen vom asiatischen Subkontinent aufgefrischt. (Diese oftmals vernachlässigte Tatsache erklärt, weshalb wir in Guayana oder auf Trinidad die paradoxe ›Wahrheit‹ des Fehlers von Christoph Columbus sehen können, die in den Gesichtern der dort ansässigen Völker symbolisch eingeschrieben ist: Wir können Asien‹ finden, wenn wir nach Westen segeln, wenn wir wissen, wo wir suchen müssen.)

In der Geschichte der modernen Welt gibt es kaum traumatischere Brüche als diese erzwungenen Trennungen von Afrika – ein Bruch, der in der europäischen Vorstellung von Afrika als ›dem dunklen Kontinent‹ bildlich zum Ausdruck kommt. Dabei kamen die Sklaven ebenso aus unterschiedlichen Ländern, Stammesgemeinschaften und Städten und hatten unterschiedliche Sprachen und Götter. Die afrikanische Religion, die das geistige Leben der Bewohner/innen der Karibik so maßgeblich bestimmt, unterscheidet sich deutlich vom christlichen Monotheismus in dem Glauben, dass Gott so mächtig ist, dass er lediglich durch eine Vervielfältigung geistiger Manifestationen erfahren werden kann, die überall in der natürlichen und sozialen Welt präsent sind. Diese Götter leben weiter in einer untergründigen Existenz, in einem religiösen Universum, das aus haitianischem Voodoo, Pocomania, Native Pentecostalism, Black Baptism, Rastafarianismus und dem lateinamerikanischen Katholizismus der schwarzen Heiligen zusammengemischt ist. Das Paradoxon besteht darin, dass es die Entwurzelung der Sklaverei und der Deportation und die Eingliederung in die Plantagenwirtschaft (sowie in die symbolische Ökonomie) der westlichen Welt waren, welche diese Menschen über ihre Unterschiede hinaus gerade in dem Moment ›vereinten‹, als sie vom direkten Zugang zu ihrer Vergangenheit abgeschnitten wurden.

Aus diesem Grund bleibt die Differenz in und neben der Kontinuität bestehen. Nach einer längeren Abwesenheit bedeutet eine Rückkehr in die Karibik, den Schock der ›Dopplung‹ von Gleichheit und Differenz erneut zu erfahren. Als ich die französische Karibik zum ersten Mal besuchte, sah ich sofort den Unterschied zwischen Martinique und beispielsweise Jamaika, der nicht eine bloße Differenz der Topografie und des Klimas ist, sondern eine tiefgreifende kulturelle und historische Differenz. Sie positioniert die Bewohner/innen von Martinique und Jamaika sowohl als Gleiche als auch als Verschiedene. Darüber hinaus werden die Trennungslinien der Differenz immer wieder in Beziehung zu unterschiedlichen Referenzpunkten neu positioniert. Für den entwickelten Westen sind wir mehr oder weniger ›das Gleiche‹. Wir gehören zum Marginalisierten und Unterentwickelten, zur Peripherie, zum ›Anderen‹. Wir sind der äußere Rand, die ›Kante‹ der metropolitanen Welt, immer der ›Süden‹ in Bezug auf das, was für andere El Norte ist.

Gleichzeitig stehen wir nicht alle in der gleichen Beziehung des Andersseins‹ zu den metropolitanen Zentren. Jede Gruppe hat ihre ökonomische, politische und kulturelle Abhängigkeit unterschiedlich ausgehandelt. Und diese ›Differenz‹, ob sie uns gefällt oder nicht, ist bereits in unsere kulturellen Identitäten eingeschrieben. Zudem ist es dieses Aushandeln von Identität, das uns von anderen lateinamerikanischen Menschen mit einer sehr ähnlichen Geschichte unterscheidet – wir sind Menschen aus der Karibik, les Antilliens (›Inselbewohner‹ von ihrem Festland aus gesehen), und wir unterscheiden uns auch untereinander als Menschen aus Jamaika, Haiti, Kuba, Guadeloupe, Barbados etc. …

Wie kann nun dieses Spiel von ›Differenz‹ innerhalb der Identität beschrieben werden? Die gemeinsame Geschichte – Deportation, Sklaverei, Kolonisierung – hat all diese Gesellschaften maßgeblich gestaltet und vereint uns über unsere Differenzen hinweg. Doch sie konstituiert keinen gemeinsamen Ursprung, weil sie nur eine Übertragung im metaphorischen wie im wörtlichen Sinne darstellte. Die Einschreibung der Differenz ist ebenso spezifisch und entscheidend. Ich benutze das Wort ›Spiel‹, da die Doppelbedeutung dieser Metapher wichtig ist. Einerseits weist sie auf die Instabilität, die Unbestimmtheit, auf das Fehlen einer abschließenden Lösung hin. Andererseits erinnert sie uns daran, dass der Ort, an dem diese ›Doppelung‹ am deutlichsten zu hören ist, das vielfältige ›Spiel‹ der karibischen Musik ist. Daher kann das kulturelle ›Spiel‹ nicht wie im Film durch eine einfache binäre Opposition – ›Vergangenheit/Gegenwart‹, ›die Anderen/Wir‹ – repräsentiert werden. Seine Komplexität geht über diese binäre Repräsentationsstruktur hinaus. An verschiedenen Orten, zu verschiedenen Zeiten, in Bezug auf verschiedene Fragen werden die Trennungslinien wieder neu gezogen. Sie werden nicht nur zu sich wechselseitig ausschließenden Kategorien, was sie hin und wieder sicherlich gewesen sind, sondern auch, was sie manchmal sind, zu Differenzialpunkten entlang einer gleitenden Skala.

Ein triviales Beispiel ist die Art und Weise, wie Martinique sowohl ›französisch‹ ist als auch nicht ›französisch‹ ist. Natürlich ist es ein département von Frankreich, was sich in seinem Lebensstandard und Lebensstil widerspiegelt. Fort de France ist wesentlich reicher und ›modischer‹ als Kingston. Kingston ist nicht nur augenscheinlich ärmer, sondern befindet sich an einem Übergangspunkt zwischen einer anglo-afrikanischen und einer afro-amerikanischen Mode, für all jene, die sich Modetrends überhaupt leisten können. Das typisch ›Martinikanische‹ besteht in der speziellen und eigentümlichen Ergänzung, die die schwarze und farbige Haut der Menschen zur ›Verfeinerung‹ und Kultiviertheit der aus Paris stammenden Haute Couture beiträgt: eine Verfeinerung, die, weil sie schwarz ist, immer grenzüberschreitend ist.

Wollen wir diesen Sinn von Differenz, der nicht pures ›Anderssein‹ meint, einfangen, müssen wir das Wortspiel eines Theoretikers wie Jacques Derrida entfalten. Derrida benutzt bei seiner Schreibweise von ›Differenz‹ ein regelwidriges ›a‹ – différance – als eine Markierung, die unser gewohntes Verständnis bzw. unsere Übersetzung des Wortes/Begriffs stören soll. Dadurch wird das Wort zu neuen Bedeutungen in Bewegung gesetzt, ohne die Spur seiner anderen Bedeutungen auszulöschen. Christopher Norris zufolge verbleibt Derridas Verständnis von différance

»in der Schwebe zwischen den beiden französischen Verben für ›verschieden sein‹ und ›aufschieben‹2, die beide zu seiner Aussagekraft beitragen, von denen aber keine die Bedeutung von différance voll erfassen kann. Sprache hängt von Differenz ab, wie Saussure gezeigt hat …, von der Struktur klar unterscheidbarer Aussagen, die ihre grundlegende Ökonomie ausmacht. Derrida betritt in dem Maße neuen Boden, wie er ›Verschiedensein‹ unmerklich in ›Aufschieben‹ übergehen lässt … Es ist der Gedanke, dass Bedeutung durch das Spiel der Signifikation immer aufgeschoben ist, vielleicht bis zu dem Punkt einer endlosen Ergänzbarkeit.« (Norris 1982, 32)

Dieser zweite Sinn von Differenz stellt die binären Oppositionen, welche Bedeutung und Repräsentation stabilisieren, in Frage und zeigt, dass Bedeutung nie endgültig und vollständig ist, sondern sich weiterbewegt und andere zusätzliche oder ergänzende Bedeutungen einschließt. Dies bringt – wie Norris an anderer Stelle gezeigt hat (Norris 1987, 15) – die klassische Ökonomie von Sprache und Repräsentation durcheinander. Ohne Differenzbeziehungen könnte es keine Repräsentation geben. Was dann aber innerhalb der Repräsentation konstituiert wird, ist für weitere Aufschiebungen, Schwankungen und Reihungen offen.

An welcher Stelle gelangt nun Identität in diese unbegrenzte Aufschiebung von Bedeutung hinein? Derrida hilft uns hier weniger, als er könnte, obwohl der Gedanke der ›Spur‹ uns einer Antwort näherbringt. Hier scheint es manchmal, als ob Derrida seinen Anhänger/innen erlaubt hat, sich seine tiefgründigen theoretischen Einsichten in Form einer Zelebrierung formaler ›Verspieltheit‹ anzueignen, die sie ihrer politischen Bedeutung entleert. Wenn die Signifikation von der endlosen Neupositionierung ihrer unterschiedlichen Ausdrücke abhängt, so resultiert Bedeutung in jedem spezifischen Fall aus dem kontingenten und arbiträren Halt – der notwendigen und temporären ›Unterbrechung‹ in der unbegrenzten Semiosis der Sprache. Dies beeinträchtigt nicht das ursprüngliche Verständnis von différance. Die Gefahr des Missverstehens existiert nur dann, wenn wir diesen ›Einschnitt‹ von Identität – diese Positionierung, die Bedeutung erst möglich macht – als natürlich und dauerhaft betrachten, anstatt ihn als das wahrzunehmen, was er ist: ein arbiträres und kontingentes ›Ende‹. Ich möchte hinzufügen, dass ich jede dieser Positionen insofern als ›strategisch‹ und arbiträr begreife, als es keine dauerhafte Entsprechung zwischen einem einzelnen Satz, den wir abschließen, und seiner wahren Bedeutung als solcher geben kann. Bedeutung entfaltet sich über die arbiträre Beendigung hinaus weiter, die sie überhaupt erst zu einem beliebigen Moment möglich macht. Sie ist immer entweder über- oder unterdeterminiert, entweder ein Überschuss oder eine Ergänzung. Es bleibt immer etwas ›übrig‹.

 

Mit diesem Konzept von ›Differenz‹ wird es möglich, die Positionierungen und Neupositionierungen karibischer kultureller Identitäten im Verhältnis zu mindestens drei ›Präsenzen‹ – ich benutze hierbei die Metapher von Aimé Césaire und Léopold Senghor – neu zu denken. Bei den ›Präsenzen‹ handelt es sich um die Présence Africaine, die Présence Européenne und um die dritte, vieldeutigste ›Präsenz‹ von allen, die Présence Américaine. Natürlich lasse ich für diesen Moment die zahlreichen anderen kulturellen ›Präsenzen‹ (die indische, chinesische, libanesische etc.), die darüber hinaus die Komplexität der karibischen Identität konstituieren, außer Acht. Ich benutze den Begriff ›Amerika‹ hier nicht im Sinne der ›Ersten Welt‹ – der große Cousin des Nordens, dessen ›Ränder‹ wir bevölkern –, sondern im zweiten, wesentlich umfassenderen Sinne: Amerika, die ›Neue Welt‹, Terra Incognita.

Die Présence Africaine ist der Ort des Verdrängten. Afrika war – weiter als die Erinnerung reicht, durch die Macht der Erfahrung der Sklaverei zum Schweigen verurteilt – tatsächlich in allen Aspekten des täglichen Lebens präsent: im Alltag und in den Bräuchen der Sklavenquartiere, in den unterschiedlichen Sprachen und im Patois der Plantagen, in den oftmals von ihren Taxinomien losgelösten Namen und Begriffen, in den verborgenen syntaktischen Strukturen, in denen andere Sprachen gesprochen wurden, in den Geschichten und Erzählungen für die Kinder, in religiösen Praktiken und Glaubensrichtungen, im spirituellen Leben, in der Kunst, im Handwerk, in der Musik und in den Rhythmen der Sklaven- und postemanzipatorischen Gesellschaft. Das Afrika als Signifikant, das in der Sklaverei nicht mehr direkt repräsentiert werden konnte, blieb und bleibt die ungesprochene und unaussprechbare ›Präsenz‹ in der karibischen Kultur. Sie ›verbirgt‹ sich hinter jeder sprachlichen Flexion, hinter jeder erzählerischen Wendung des karibischen kulturellen Lebens. Sie ist der Geheimcode, mit dem jeder westliche Text ›neu gelesen‹ wurde. Sie ist der basso continuo, auf dem jeder Rhythmus und jede Körperbewegung beruht. Dies war und ist das ›Afrika‹, das noch »in der Diaspora lebendig und wohlauf ist« (Hall 1976c).

Als ich in den vierziger und fünfziger Jahren in Kingston aufwuchs, war ich von den Zeichen, der Musik und den Rhythmen dieses Afrikas der Diaspora – das allein als Ergebnis langer und diskontinuierlicher Transformationsprozesse existierte – ständig umgeben. Obwohl die meisten Menschen um mich herum in den unterschiedlichsten Schattierungen braun oder schwarz (Afrika ›spricht‹!) waren, habe ich kein einziges Mal gehört, dass jemand sich selbst oder die anderen als ›afrikanisch‹ oder als Menschen ›afrikanischer Abstammung‹ bezeichnete. Erst in den siebziger Jahren wurde die afrokaribische Identität für die Mehrheit der jamaikanischen Menschen in ihrer Heimat und im Ausland historisch zugänglich. In diesem historischen Moment, in dem die Jamaikaner/innen ihr ›Schwarzsein‹ entdeckten, erkannten sie sich selbst als Söhne und Töchter der ›Sklaverei‹.

Diese tiefgreifende kulturelle Entdeckung konnte jedoch nicht direkt und ohne ›Vermittlung‹ stattfinden. Sie wurde erst durch die Einflüsse der postkolonialen Revolution auf das Alltagsleben, durch die Bürgerrechtskämpfe, die Rastafari-Kultur und die Reggae-Musik – Metaphern, Erscheinungen oder Signifikanten einer neuen Konstruktion des ›Jamaikanischseins‹ – erfahrbar. Diese bezeichneten das ›neue‹ Afrika der Neuen Welt, das in dem ›alten‹ Afrika verwurzelt ist. Es war eine spirituelle Entdeckungsreise, die in der Karibik zu einer autochthonen kulturellen Revolution führte. Dies ist, so ließe sich behaupten, ein notwendigerweise ›aufgeschobenes‹ Afrika, ein Afrika als spirituelle, kulturelle und politische Metapher.

Es ist die Präsenz/Abwesenheit Afrikas in dieser Form, die ›Afrika‹ zu einem bevorzugten Signifikanten für die neuen Konzeptionen karibischer Identität werden ließ. Alle Menschen in der Karibik, unabhängig von ihrem ethnischen Hintergrund, müssen sich früher oder später mit dieser afrikanischen Präsenz auseinandersetzen. Schwarze, Braune, Farbige oder Weiße – alle müssen der Présence Africaine ins Gesicht blicken und ihren Namen nennen. Ob es sich dabei jedoch um den eigentlichen Ursprung unserer Identitäten handelt, um eine über vierhundert Jahre der Vertreibung, Zersplitterung und Deportation hinweg unveränderte Identität, zu der wir letztendlich und im wörtlichen Sinne zurückkehren können, daran darf zu Recht gezweifelt werden. Das ›ursprüngliche‹ Afrika existiert nicht mehr, auch Afrika unterlag Wandlungsprozessen. In diesem Sinne lässt sich Geschichte nicht rückgängig machen. Wir dürfen nicht den Fehler des Westens wiederholen, der Afrika genau dadurch normalisiert und sich angeeignet hat, indem er es in einer zeitlosen Zone der ursprünglichen und unveränderlichen Vergangenheit einfror. Zwar müssen nun auch die karibischen Menschen endlich mit Afrika rechnen, aber es kann nicht irgendwie wiederentdeckt werden.

Wir dürfen das unwiderruflich unser Eigen nennen, was Edward Said einmal als »imaginative Geografie und Geschichte« bezeichnet hat, die

»dem Geist hilft, das Bewusstsein seiner selbst dadurch zu intensivieren, dass sie die Distanz und Differenz zwischen dem, was ihm nah, und dem, was weit von ihm entfernt ist, dramatisiert« (Said 1985, 55; eig. Übers.)

Diese Geografie und Geschichte »[besitzt] einen imaginativen oder figurativen Wert, den wir benennen und fühlen können« (ebd.). Unsere Zugehörigkeit zu ihr begründet das, was Benedict Anderson mit dem Begriff der ›imaginären Gemeinschaft‹ umschrieben hat (Anderson 1988). Zu diesem ›Afrika‹, das unausweichlich Teil der karibischen Vorstellungswelt ist, können wir im wörtlichen Sinne nicht einfach heimkehren.

Der Charakter dieser aufgeschobenen ›Heimreise‹, ihre Dauer und Komplexität sind in zahlreichen Texten anschaulich behandelt worden. Die dokumentarischen Archiv-Fotografien von Tony Sewell – Garveys Kinder: Das Erbe des Marcus Garvey3 erzählen die Geschichte einer ›Heimkehr‹ zu einer afrikanischen Identität, die notwendigerweise über den Umweg London-Vereinigte Staaten führte. Sie ›endet‹ nicht in Äthiopien, sondern bei Garveys Statue vor der St.-Ann-Gemeinde-Bibliothek auf Jamaika, sie ›endet‹ auch nicht mit einem traditionellen Stammeslied, sondern mit der Musik von Burning Spear und dem Redemption Song von Bob Marley. Hier finden wir unsere ›lange Reise zurück in die Heimat‹. Der couragiert geschriebene Bildkommentar von Derek Bishton, Black Heart Man – die Reise-Geschichte eines weißen Fotografen ›auf den Spuren des gelobten Landes‹ –, hat seinen Anfangspunkt in England und führt weiter über Shashemene, den Ort in Äthiopien, den viele Jamaikaner/innen auf der Suche nach dem gelobten Land durchstreifen, direkt in die Sklaverei. Die Reise endet jedoch in Pinnacle, Jamaika, wo sich die ersten Niederlassungen der Rastafarians entwickelt haben, und sie endet ›jenseits‹ davon – zwischen den Armen und Enteigneten im Kingston des zwanzigsten Jahrhunderts und in den Straßen von Handsworth, England, wo Bishtons Entdeckungsreise begonnen hatte. Diese symbolischen Reisen sind notwendig für uns alle, und sie sind notwendigerweise zirkulär. Hier finden wir das Afrika, in das wir – ›über einen Umweg‹ – zurückkehren müssen: das Afrika, das ein Teil der Neuen Welt geworden ist, das Afrika‹, das wir selbst geschaffen haben, das ›Afrika‹, wie wir es in unserer Politik, unserer Erinnerung und in unseren Wünschen und Sehnsüchten wiedererzählen.