Der Krimi in Literatur, Film und Serie

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Der Krimi in Literatur, Film und Serie
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Stefan Neuhaus

Der Krimi in Literatur, Film und Serie

Eine Einführung

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

Umschlagabbildung: Silhouette von Basil Rathbone als Sherlock Holmes.

Quelle: By Rumensz – Own work, CC0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=30967870


Prof. Dr. Dr. h.c. Stefan Neuhaus ist Inhaber des Lehrstuhls für Neuere deutsche Literatur an der Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz.

© Henriette Kriese

© 2021 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Internet: www.narr.de

eMail: info@narr.de

Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

ISBN 978-3-8252-5556-5 (Print)

ISBN 978-3-8463-5556-5 (ePub)

Inhalt

 1. Einleitung1.1 Ein spannendes und vielfältiges Genre1.2 Vorgehensweise1.3 Gratifikationen für Krimi-Leser*innen

 2. Merkmale2.1 Was ist ein ‚Krimi‘?2.2 Gängige Strukturen, Themen und Motive des Krimis2.3 Konzeptionelle und kontextuelle Grundlagen2.4 Diskurse von (poetischer) Gerechtigkeit2.5 Rationalität und Emotionalität2.6 Zuschreibungen von Gut und Böse2.7 Zuschreibungen des Wertes: Unterhaltung, Kunsthandwerk und Kunst

 3. Literatur- und filmgeschichtlicher Abriss3.1 ‚Ursprungserzählung‘ und Genretraditionen3.2 Vom Buch zum Film

 4. Kriminalerzählungen4.1 Ein Sammelbegriff4.2 Der Anfang im 18. Jahrhundert mit der Frage nach dem Motiv der (Un-)Tat: Friedrich Schillers Der Verbrecher aus verlorener Ehre (1786)4.3 Der Einbruch von Kontingenz: Theodor Fontanes Unterm Birnbaum (1891)4.4 Die unbeantwortbare Frage nach der Schuld: Fritz Langs M (1931)4.5 Die schwierige Abgrenzung von Kriminalerzählung, Detektiverzählung und Thriller: Nele Neuhaus’ Böser Wolf (2012)

 5. Detektiverzählungen5.1 Typen des Detektivs5.2 Eine moderne Detektivfigur vor der Moderne: E.T.A. Hoffmanns Das Fräulein von Scuderi (1819)5.3 Das Muster des Genres: Edgar Allan Poes The Murders in The Rue Morgue (1841)5.4 Das Muster der Detektivfigur: Sherlock Holmes in Sir Arthur Conan Doyles The Hound of the Baskervilles (1902)5.5 Holmes im Film: The Hound of the Baskervilles (1939)5.6 Muster der Variation: Hercule Poirot in Agatha Christies The Murder of Roger Ackroyd (1926)5.7 Poirot im Film: The Murder of Roger Ackroyd (2000)5.8 Das Muster des Kinder-Detektivs: Erich Kästners Emil und die Detektive (1929)5.9 Emil im Film: Emil und die Detektive (1931)5.10 Der bekannteste ‚hard-boiled detective‘: Philip Marlowe in Raymond Chandlers The Big Sleep (1939)5.11 Marlowe im Film: The Big Sleep (1946)5.12 Requiem für den Detektiv: Friedrich Dürrenmatts Das Versprechen (1958)5.13 Matthäi im Film: Es geschah am hellichten Tag (1958)5.14 Der Detektiv als Stehaufmännchen in der späten Postmoderne: Simon Brenner in Wolf Haas’ Das ewige Leben (2003)5.15 Brenner im Film: Das ewige Leben (2015)

 6. Thriller6.1 Es geht um den Nervenkitzel6.2 Der Vorläufer: Friedrich Schillers Der Geisterseher (1789)6.3 Liebe, Tod und Wahnsinn: Alfred Hitchcocks Rebecca (1940)6.4 Der lange Schatten der Vergangenheit: John Schlesingers Marathon Man (1976)6.5 Ein postmoderner Meta-Thriller: Kenneth Branaghs Dead Again (1992)

 7. Erzählungen von Agenten und Spionen7.1 Der Spion im Mittelpunkt7.2 Britische Snoblesse: Ian Flemings Roman Goldfinger (1959)7.3 Filmische Nonchalance: Albert R. Broccolis und Harry Saltzmans Goldfinger (1964)

 8. Krimikomödien und Krimiparodien8.1 Bunt ist alle Parodie8.2 Adel vernichtet: Kind Hearts and Coronets (1949)8.3 Very English: Die James-Bond-Parodie Johnny English Strikes Again (2018)8.4 Ein Fünf-Sterne-Krimi-Komödie-Parodie-Satire-Cocktail: Fargo (2014ff.)

  9. Fazit: Ein mörderisch gutes Genre

  10. Literaturverzeichnis 10.1 Primärwerke 10.2 Filme 10.3 Monographien, Sammelwerke und Aufsätze 10.4 Internet-Quellen

  Abbildungsnachweis

  Sachregister

  Personenregister

1. Einleitung
1.1 Ein spannendes und vielfältiges Genre

Ein Blick in die Programme von Verlagen, Fernsehsendern und Filmanbietern legt die Vermutung nahe, dass es kein populäreres Genre gibt als den Krimi. Stellvertretend für viele sei auf zwei Superlative hingewiesen: „Nur von ShakespeareShakespeare, Williams Werken und von der Bibel sind mehr Exemplare verkauft worden als von [Agatha] ChristieChristie, Agathas Romanen, inzwischen über zwei Milliarden“ (Hamann 2016, 26). Nach den Romanen und Erzählungen setzten Filme und Serien die Erfolgsgeschichte fort. Für die Erstausstrahlung der Francis-DurbridgeDurbridge, Francis-Verfilmung Das HalstuchDas Halstuch als sechsteiliges Fernsehspiel im Januar 1962 wurde die sensationelle Einschaltquote von 89 Prozent ermittelt.

Einführungen in die Kriminalliteratur gibt es bereits (v.a. Vogt 1971; Vogt 1998; Nusser 2009), ein Handbuch von 2018 dokumentiert den Forschungsstand (Düwell u.a. 2018). Ebenso hat der Kriminalfilm in seinen verschiedenen Ausprägungen immer wieder Beachtung erfahren (Hickethier 2005; Grob 2012; Koebner/Wulff 2013). Dazu kommen Studien zu Subgenres und besonderen Themen (z.B. Föcking/Böger 2012; Hißnauer u.a. 2014). Allerdings ist das Feld der grundlegenden Handreichungen immer noch übersichtlich, wenn man sie mit dem Erfolg des Genres vergleicht.

Der wichtigste Grund dürfte sein, dass die Popularität des Genres als Zeichen schneller Konsumierbarkeit und somit als Beleg für seine Trivialität gewertet wird (vgl. z.B. Alewyn 1998, 52; Wörtche 2007, 344; Nusser 2009, 11; Worthington 2011, 1). Mit anderen Worten: Wenn etwas so einfach gestrickt ist wie ein Krimi, dann lohnt sich keine (literatur- oder kultur-)wissenschaftliche Auseinandersetzung (es sei denn, man blickt auf das Genre als Kulturbetriebsphänomen). Dieses Urteil ist allerdings ein Vor-Urteil. So hat beispielsweise Josef HoffmannHoffmann, Josef in seiner Studie Philosophien der KriminalliteraturPhilosophien der Kriminalliteratur versucht, die „Entstehung der Kriminalliteratur aus dem Geist der westlichen Philosophie“ zu erklären (Hoffmann 2013, 41). Auch andere Genres waren oder sind populär und auch hier ist der größere Teil stets eher der Unterhaltung gewidmet. Das heißt aber nicht, dass es nicht einen Anteil an herausragenden, innovativen und im Wortsinn bemerkenswerten Beispielen gibt, die eine genauere Betrachtung geradezu herausfordern. GoethesGoethe, Johann Wolfgang von Die Leiden des jungen WertherDie Leiden des jungen Werther und Die WahlverwandtschaftenDie Wahlverwandtschaften sind frühe Beispiele für Liebesromane – aber doch wohl keineswegs trivial.

 

Die bisherigen Studien, Sammelbände und Nachschlagewerke können keinen historischen Überblick über den ‚ganzen‘ Krimi geben, obwohl beeindruckende Versuche vorliegen (vgl. z.B. Arnold/Schmidt 1978 u. Walter 2002). Der vorliegenden Einführung kann und wird es ebenfalls nicht gelingen, alle Medien und Aspekte abzudecken und das allein für den „Kriminalroman“ festgestellte „erhebliche[s] Forschungsdesiderat“ zu beheben (Wörtche 2007, 345). Dennoch soll erstmals der Versuch gewagt werden, den Krimi in Literatur, Film und Serie gemeinsam beispielhaft zu beleuchten. Auch das kann natürlich nur sehr selektiv geschehen, und dies bereits, wenn es um die Einbeziehung anderer kultureller Traditionen geht. Die im deutschsprachigen Raum besonders populäre US-amerikanische und britische Krimi-Tradition soll in die Darstellung mit einbezogen werden.

Die Ausdifferenzierung des Genres hat zu einer segmentierten Betrachtung verschiedener Subgenres geführt, die allerdings in ihrer idealtypischen Ausprägung nur selten vorkommen. Wie soll man sinnvoll eine Kriminalerzählung von einer Detektivgeschichte oder einem Thriller abgrenzen? Die Handlung entwickelt sich äußerst selten entweder retrospektiv-analytisch oder in die Zukunft gerichtet, in den meisten Fällen findet man eine Mischung von beidem vor. Und wohin gehören beispielsweise die Spionageerzählung oder der Spionagefilm? James BondJames Bond jagt in der Regel nicht politisch motivierte Verbrecher, sondern Kriminelle, die den Globus in Geiselhaft nehmen.

Kriminelle Handlungen sind in Literatur und Film ohnehin an der Tagesordnung. Letztlich kann nur das gewählte Analyseraster offengelegt und dann am Einzelbeispiel diskutiert werden, welches Thema überwiegt: Die Krimihandlung oder die Liebe zwischen den Protagonisten, selbst wenn gewalttätiges Verhalten eine große Rolle spielt, oder ein politisches Thema wie Rassismus, auch wenn Polizei und Gerichtsverfahren einen breiten Raum einnehmen. Ist also Harper LeeLee, Harpers To Kill a MockingbirdTo Kill a Mockingbird (Wer die Nachtigall stört) von 1960, ein moderner Klassiker der US-amerikanischen Literatur, nun ein Krimi? Wie steht es mit der Verfilmung von 1962 unter der Regie von Robert MulliganMulligan, Robert, die drei Oscars bekam und als einer der besten amerikanischen Filme überhaupt gilt? (AFI’S 100 Years 2019). Gregory PeckPeck, Gregory spielt die Hauptrolle, einen Anwalt, der einen Farbigen verteidigt, wobei der Plot als allegorische Anklage des alltäglichen Rassismus in den USA angelegt ist. Handelt es sich nun bei Buch und Film um Krimis?

Offenbar ja, denn es sind gleich mehrere Merkmale des Krimis zu finden – ein (angebliches) Verbrechen, Polizeiarbeit, eine Gerichtsverhandlung und am Ende noch versuchter Mord mit Notwehr. Andererseits zögert man, auch weil der Begriff des Krimis in der Praxis seiner Verwendung so weit herabgesunken ist, dass er vor allem die populären Ausprägungen des Genres meint. Deshalb ist beispielsweise Tatort-Kommissar Felix Murot, gespielt von Ulrich Tukur, so umstritten. Vor allem jene, die Entspannung durch Spannung suchen und erwarten, dass gängige Muster des Genres bedient werden, fühlen sich überfordert. Angriff auf Wache 08Angriff auf Wache 08 von 2019 beispielsweise (Regie Thomas StuberStuber, Thomas, mit ihm gemeinsam schrieb Schriftsteller Clemens MeyerMeyer, Clemens das Drehbuch) hatte am 24.08.2019 Premiere auf dem Festival des deutschen Films – unüblich für eine Fernsehproduktion (Angriff auf Wache 08 2019).

Die grundlegenden Fragen danach, was das Genre ausmacht, sind alles andere als neu. Ein Beispiel für die Wirkmacht von Tradierungen: Für die Forschung steht offenbar fest, dass das Genre mit Edgar Allan PoePoe, Edgar Allans Murders in The Rue MorgueMurders in The Rue Morgue (Die Morde in der Rue Morgue) beginnt (vgl. z.B. Scaggs 2005, 7; Düwell 2018, 286), obwohl in der deutschsprachigen Literatur bereits mit Friedrich SchillerSchiller, Friedrichs Der Verbrecher aus verlorener EhreDer Verbrecher aus verlorener Ehre eine bahnbrechende und zentrale Kriminalerzählung vorliegt und mit E.T.A. HoffmannHoffmann, E.T.A.s Das Fräulein von ScuderiDas Fräulein von Scuderi wenige Jahrzehnte später eine Detektiverzählung (vgl. Bloch 1998, 40), die modern genug ist, um beispielsweise von ihr eine Brücke zu den Romanen um den Detektiv Brenner von Wolf HaasHaas, Wolf zu schlagen (zu möglichen weiteren Beispielen vgl. die Auswahl in Hamann 2016).

Dass es sich um eine international konventionalisierte Genregeschichte handelt, macht die, wenn auch in jüngerer Zeit monierte (z.B. Beck 2014, 33), Brüchigkeit der Argumentation nicht plausibler. So beginnt Richard Bradfords außerordentlich kundige Einführung in das Genre mit dem Hinweis auf Vorläufer wie SophoklesSophokles’ König ÖdipusKönig Ödipus, HerodotHerodots Rhampsinit und der MeisterdiebRhampsinit und der Meisterdieb oder ShakespeareShakespeare, Williams HamletHamlet (Bradford 2015, 1), wobei es sich hier auch um Dramen handelt.

Reclams Kriminalromanführer verortet „die anscheinend erste Detektivgeschichte der Weltliteratur“ 1679 in China und spart die englische gothic novel des 18. Jahrhunderts nicht aus (vgl. Arnold/Schmidt 1978, 43). In einer Liste der ‚hundert lesenswerten Krimis‘ kommen allerdings weder Schillers noch HoffmannHoffmann, E.T.A.s Erzählungen vor, ebenso fehlt FontaneFontane, Theodors Unterm BirnbaumUnterm Birnbaum. Dafür finden sich ganze neun Titel von Sir Arthur Conan DoyleConan Doyle, Arthur, aber nur zwei von Agatha ChristieChristie, Agatha (vgl. Arnold/Schmidt 1978, 403ff.), die (wie eingangs festgestellt) mehr Kriminalromane verkauft hat als jede*r andere Krimiautor*in. Folgende Schlussfolgerung liegt nahe: Jede Auswahl in einer Einführung kann nur eine sehr subjektive sein.

Bradford erwähnt SchillerSchiller, Friedrichs Verbrecher aus verlorener EhreDer Verbrecher aus verlorener Ehre und E.T.A. HoffmannHoffmann, E.T.A.s Das Fräulein von ScuderiDas Fräulein von Scuderi (Bradford 2015, 70f.), er betont sogar die wegweisenden Merkmale einer Psychologie des Verbrechens einerseits und der Entstehung der Figur einer Amateurdetektivin andererseits. Dennoch ist für ihn Edgar Allan PoePoe, Edgar Allans Figur Auguste Dupin der Prototyp des Detektivs, er ist sogar ‚Patriarch einer Nachkommenschaft von Holmes, Poirot, Miss Marple, Maigret‘ und den anderen bekannten Detektivfiguren (Bradford 2015, 7), und dies lediglich aufgrund eines Merkmals – der schlüssigen, auf Logik basierenden Detektion.

Dieses Merkmal wird aber nur für die schematisch ablaufenden Detektiverzählungen gelten. Es wird zu einem Merkmal trivialer Literatur. HoffmannHoffmann, E.T.A.s Das Fräulein von ScuderiDas Fräulein von Scuderi konterkariert es bereits, bevor es entsteht, und dies nicht zufällig als Reaktion auf die Defizite des Rationalismus der Aufklärung. Auch spätere Autoren wie Wolf HaasHaas, Wolf mit seiner Figur des Detektivs Simon Brenner werden sich nicht daran halten. Sogar PoePoe, Edgar Allans Erzählung bekommt durch die Figur des Täters – einen Affen – eine sehr untypische Note (Bradford 2015, 9).

Wie konnte es so weit kommen, weitgehend unwidersprochen PoePoe, Edgar Allan zum „,father‘ of the detective genre“ (Scaggs 2005, 7) zu erklären und ihn als Vater der rationalistischen Kriminalerzählung zu feiern? Auch darüber gibt Bradfords Einführung Auskunft, wenn er auf den Systematisierungsversuch von Tzvetan TodorovTodorov, Tzvetan verweist (die von 1966 stammende Typologie des Kriminalromans ist auch abgedruckt in Vogt 1998, 208-215). Doch bereits mit der Feststellung „Der Kriminalroman hat seine Normen“ und mit der Zuordnung des Krimis zur „Massenliteratur“ (ebd., S. 209) markiert Todorov deutlich, dass er eine bestimmte Ausprägung dessen meint, was allgemein in der Literaturwissenschaft unter Krimi verstanden wird.

Einige Systematisierungsversuche – Todorovs zählt zu den besonders populär gewordenen – haben das Bild eines Genres gezeichnet, das bei näherem Hinsehen deutlich an Kontur verliert. Einige wichtige Ansätze für mögliche Weiterungen gibt es bereits, etwa den Versuch, eine Geschichte der „Kriminalfallgeschichten“ an Beispielen aus den letzten vier Jahrhunderten zu schreiben (Košenina 2014). Mit der vorliegenden Einführung soll nun ein weiterer Versuch einer solchen Ausweitung des Blicks gewagt werden, und das hoffentlich, ohne den Fokus zu verlieren.

1.2 Vorgehensweise

Die bisherigen Versuche der Genrebeschreibung zeigen, dass man der heterogenen Thematisierung von Verbrechen in der fiktionalen Prosa-Literatur (auf die sich so gut wie alle Genrebeschreibungen beschränken) eine Systematik aufgezwungen hat, die deutliche Limitierungen hat und nur funktioniert, wenn man sich auf einige wenige stereotype Merkmale konzentriert – die dann vor allem zu Merkmalen trivialer Literatur über Verbrechen werden. Von prototypischen, bereits in den Anfängen hybriden Beispielen ausgehend soll daher überlegt werden, welche Themen und Merkmale jeweils welche Geltung beanspruchen, um so zu einer stärker auf die literarische und filmische Praxis bezogenen Beschreibung des Genres zu gelangen.

Dabei wird die Frage nicht unwichtig sein, welche Krimis aus welchen Gründen zu den herausragenden Beispielen ihres Genres gezählt werden können. Um beurteilen zu können, ob ein Text, ein Film oder eine Serie als besonders gelungen angesehen werden kann, sind aber zunächst die genrespezifischen Merkmale zu ermitteln: Welche Diskurse von Gerechtigkeit werden so präsentiert, dass sie beispielsweise als (sozialgeschichtlich bzw. gegenwärtig) relevant angesehen werden können? Wie ist das Verhältnis der außertextuellen Auffassung von Gerechtigkeit und der poetischen Gerechtigkeit des Texts? Welche Rolle spielen Emotionen textintern wie textextern, also einerseits für das Verhalten der Figuren und andererseits für die Rezeptionssituation? In welcher Weise und aus welchen Gründen werden bestimmte Figuren oder Handlungen als ‚gut‘ oder ‚böse‘ markiert?

Ob es sich bei Krimis um – nach einer Unterscheidung des Soziologen Niklas LuhmannLuhmann, Niklas – Kitsch, Kunsthandwerk oder Kunst handelt (Luhmann 1997, 300ff.), lässt sich so zwar ermitteln, aber natürlich nicht verbindlich festschreiben. Erstens sind die Kriterien der Beurteilung historisch und kulturell variabel und zweitens ist es jeder und jedem selbst überlassen, was sie oder er aus welchen Gründen rezipiert. Allerdings kann es niemandem, die oder der sich für das Genre interessiert, schaden, sich darüber zu informieren, welche besonderen Qualitäten Krimis aus Sicht einer fachwissenschaftlichen Beurteilung haben oder eben nicht haben. Immerhin sind Bücher geistige Nahrung und der Nahrungsaufnahme sollte zumindest eine Einschätzung der Qualität des Essens und vielleicht sogar seiner Risiken und Nebenwirkungen vorausgehen. Ein wichtiges Ziel dieser Einführung ist es daher auch, den professionelleren Blick auf Krimis zu schulen, so dass die Leserinnen und Leser nach der Lektüre dieses Buches besser dazu in der Lage sind zu entscheiden, welche Krimis sich für sie persönlich lohnen – zur Unterhaltung wie zur Vermittlung etwa in der Schule.

Bei aller Kritik an der bisherigen Systematik wird es schwierig sein, aus dem Stand eine neue Systematik zu entwickeln, die geeigneter ist als die alte, erst recht in einer Einführung. Daher soll die Grobstruktur die bisher üblichen Begriffe zwar zum Teil übernehmen, es soll in der Argumentation aber auch immer diskutiert werden, welche Limitierungen die Einordnung der jeweiligen Beispiele in eine solche ‚Schublade‘ hat.

Der Begriff der ‚Erzählung‘ soll nicht nur literarische Texte, sondern auch Filme und Serienfolgen umfassen. Die Kriminalerzählungen sind die allgemeinste Kategorie – also ohne eines der Merkmale, die für die folgenden Kategoriebildungen zentral sind (und wohl am nächsten an der oft so genannten ‚Verbrechensliteratur‘). In den Detektiverzählungen steht, wenig überraschend, eine Detektivfigur im Mittelpunkt, allerdings kann dies ein Polizei- oder ein Privatdetektiv sein – oder beides. Oftmals werden dann beide, Privatdetektiv und Polizist, als antagonistische Ermittlerfiguren eingeführt – man denke an Inspector Lestrade in den Sherlock-Holmes-Erzählungen und deren Adaptionen. Es gibt aber auch genügend Beispiele für Helferfiguren – so hat Detektiv Jim Rockford in den Rockford FilesRockford Files (Detektiv Rockford – Anruf genügt), 1974-80 gespielt von James GarnerGarner, James, einen Freund bei der Polizei. Ebenfalls kann ein Anwalt oder ein Richter oder ein Gerichtsmediziner Ermittler*in sein – solche Sonderfälle können hier nur erwähnt werden.

 

Thriller ist zu einem Sammelbegriff geworden für alle Erzählungen, die vorrangig auf Handlungsspannung setzen – daher werden Eingrenzungen unvermeidlich sein. Auf den Sonderfall Spionageerzählungen soll an dem prototypischen Beispiel James BondJames Bond kurz eingegangen werden. Spione sind im Auftrag von Regierungen international handelnde Figuren, die Verbrechen aufzuklären oder zu verhindern suchen oder auch selbst begehen. Komödien und Parodien nutzen Merkmale der genannten Subgenres, auch hier ist das Spektrum viel größer, als dies zu zeigen möglich sein wird. Es reicht von mit Humor erzählten Krimis über Genreparodien bis hin zu satirisch-kritischen Funktionalisierungen von Krimimerkmalen.

Zu Serien müsste eigentlich (mindestens) eine eigene Einführung geschrieben werden. Sie sind außerordentlich populär und auch wenn sie seit der Etablierung von Streaming-Kanälen in den 2010er Jahren noch einmal mehr zu boomen scheinen, so haben sie schon viel früher ein breites Publikum angezogen. Dies betrifft sowohl Miniserien wie scheinbar endlose Fortsetzungen in Staffeln mit zahlreichen Folgen, etwa von 1972-77 die erfolgreichen The Streets of San FranciscoThe Streets of San Francisco (Die Straßen von San Francisco) mit 120 Folgen in fünf Staffeln; durch sie wurde Michael DouglasDouglas, Michael zum Star. Auch Beispiele aus Deutschland ließen sich hier nennen, so wurden von Der KommissarDer Kommissar mit Erik OdeOde, Erik in den Jahren 1968-75 immerhin 97 Folgen produziert. Der internationale Verkaufsschlager DerrickDerrick mit Horst TappertTappert, Horst in der Titelrolle brachte es sogar von 1974-98 auf 281 Folgen in 25 Staffeln. Die österreichische Serie Kottan ermitteltKottan ermittelt, die von 1976-84 in sechs Staffeln auf 19 Folgen kam, gilt als eine der besten deutschsprachigen Genreparodien.

Nur angesprochen werden kann, dass es wichtige Überschneidungen zu anderen Genres und Gattungen gibt, etwa zum Drama und zur Lyrik. Das Spektrum reicht von hochkanonisierten Texten wie Heinrich von KleistKleist, Heinrich vons Gerichtsdrama und Komödie Der zerbrochne KrugDer zerbrochne Krug (1828) oder populären Gerichtsdramen wie HokuspokusHokuspokus von Curt GoetzGoetz, Curt (Urfassung 1828) mit den entsprechenden Verfilmungen bis hin zu Kriminalhandlungen auf der Bühne wie in dem wohl größten Bühnenerfolg aller Zeiten, Agatha ChristiesChristie, Agatha Mouse TrapMouse Trap (dt. Die Mausefalle), ein Stück, das seit dem Uraufführungsjahr 1952 bis zur durch das Corona-Virus bedingten Schließung der Theater 2020 täglich im Londoner West-End aufgeführt wurde. Auch in der Ballade finden sich oft Kriminalhandlungen. In Friedrich SchillerSchiller, Friedrichs Die Kraniche des IbykusDie Kraniche des Ibykus (1797) beispielsweise geht es um die Ermordung des Dichters Ibykus (Ibykos) durch Räuber, die sich später selbst entlarven. Frank WedekindWedekind, Franks satirisches Gedicht Der TantenmörderDer Tantenmörder (1902) handelt von einem jungen Mann, der sich für den Mord an seiner Tante aus Habgier vor einem Gericht rechtfertigt, und in Erich KästnerKästner, Erichs Die Ballade vom NachahmungstriebDie Ballade vom Nachahmungstrieb (1931/32) wird aus Spiel Ernst, wenn ein Kind von anderen verurteilt und hingerichtet wird.

Texte wie die beiden letztgenannten stehen in der Tradition der Moritat, einer Variante des Bänkelsangs, die vor allem im ausgehenden Mittelalter und in der Frühen Neuzeit von fahrenden Sängern gepflegt wurde. Bertolt BrechtBrecht, Bertolts DreigroschenopeDreigroschenoperr (1928) handelt nicht nur von Verbrechern und ihren Untaten; aus dem Drama stammt auch die berühmte Moritat von Mackie MesserMoritat von Mackie Messer, die von zahlreichen berühmten Sänger*innen adaptiert wurde (Louis ArmstrongArmstrong, Louis, Hildegard KnefKnef, Hildegard, Frank SinatraSinatra, Frank, Eartha KittKitt, Eartha, Robbie WilliamsWilliams, Robbie u.v.m.).

Auch innerhalb der fiktionalen Prosa-Literatur gibt es zahlreiche Überschneidungen, als Beispiel sei nur auf das Horror-Genre hingewiesen. Horrorerzählungen und -filme haben in der Regel mit Straftaten zu tun, so handelt Stephen KingKing, Stephens Roman ItIt (dt. Es) von 1986, ebenso wie seine nicht weniger populären Verfilmungen, von einem als Clown auftretenden Monster, das Kinder ermordet. Der sage und schreibe bereits 22. Roman des Autors hat zugleich Fantasy-Elemente; anders als andere Horrorproduktionen wie etwa, um ein Filmbeispiel zu nennen, Alfred HitchcockHitchcock, Alfreds PsychoPsycho von 1960. Darin geht es eigentlich um einen jungen Mann, der aus einem ödipalen Persönlichkeitskonflikt zum Mörder wird. Komödien wie Hot FuzzHot Fuzz (2007; Regie Edgar WrightWright, Edgar) arbeiten mit Krimi-, Thriller- und Horrorelementen.

Die Konzentration auf Prosaliteratur und Film (Spielfilme, Serien) und auf einige wenige Merkmale, die sich vor allem an der ‚Profession‘ – Ermittler oder Täter – der im Mittelpunkt stehenden Figur(en) orientieren, soll nicht als einziges, sondern als ein mögliches Raster verstanden werden, um die Hybridität und die Breite der Produktionen exemplarisch besser darstellen zu können. Die Notwendigkeit zu weiteren Beschränkungen liegt in der Natur der Sache einer solchen Einführung, etwa die Konzentration auf Texte der fiktionalen Literatur, auf fiktionale Filme und Serien fast ausschließlich deutsch- oder englischsprachiger Produktion. Eine Abgrenzung zu (halb-)dokumentarischen Formaten (etwa Aktenzeichen XY ungelöstAktenzeichen XY ungelöst oder den CSICSI-Serien) kann ebenso wenig erfolgen wie eine grundlegende Diskussion darüber, was unter Film oder Serie zu verstehen ist. Als Film wird hier der Regelfall des Spiel- oder Fernsehfilms gesehen mit seiner durchschnittlichen Länge von 90 Minuten; unter Serie wird alles verstanden von der abgeschlossenen Miniserie bis zu über viele Staffeln gehenden Serienformaten mit mehr oder weniger abgeschlossenen Handlungen je Episode oder Staffel.

Ein hier nur kurz zu erwähnendes Problem ist die Übersetzung oder Synchronisation von Kriminalerzählungen. Wohl wegen der vermuteten Trivialität des Genres lassen sich selbst bei den bekanntesten Werken Eingriffe beobachten, die philologisch nicht zu rechtfertigen sind. So stellt Monika Gripenberg zu einer Übersetzung von Agatha ChristieChristie, Agathas The Murder of Roger AckroydThe Murder of Roger Ackroyd (1926; dt. üblicherweise Alibi) fest, dass in „der deutschen Ausgabe des Romans“ eine „etwa vier Seiten lange Konversation einfach weggelassen“ wurde, und fügt hinzu: „[…] bei den deutschen Ausgaben Agatha Christies scheint es leider ein gebräuchliches Vorgehen zu sein, alles zu streichen, was nicht zum unmittelbaren Verständnis der Handlung notwendig ist“ (Gripenberg 2005, 52f.). Yaak KarsunkeKarsunke, Yaak hat vergleichbare Verstümmelungen an den Übersetzungen der Romane Raymond ChandlerChandler, Raymonds beobachtet (Karsunke 1978, 118). Bei englischsprachigen Texten und Filmen wird daher stets auf das Original zurückgegriffen.