Der Krimi in Literatur, Film und Serie

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Ebenso fließend ist die Grenze zur Gesellschaftssatire, dies gilt beispielsweise für Helmut DietlDietl, Helmuts Schtonk!Schtonk! (1992), zu dem Spielfilm schrieb Regisseur Dietl mit Ulrich LimmerLimmer, Ulrich das Drehbuch. Die Produktion mit Starbesetzung (Uwe OchsenknechtOchsenknecht, Uwe, Götz GeorgeGeorge, Götz, Ulrich MüheMühe, Ulrich u.a.) beruht auf einer wahren Begebenheit aus dem Jahr 1983. Gezeigt wird, wie ein begabter Fälscher Hitlers angebliche Tagebücher an die Illustrierte HHpress (in Wirklichkeit war es der Stern) verkauft und ihm sein neues Umfeld – bestehend aus Journalisten, Verlagsleitung und exponierten Angehörigen des Besitz- wie Bildungsbürgertums – mit ebenso viel Sensations- wie Geldgier auf den Leim geht. Der Titel ist ein Charlie ChaplinChaplin, Charlies Satire Der große DiktatorDer große Diktator (1940) entnommenes, von ‚Stunk‘ abgeleitetes Kunstwort.

Nicht nur durch Komik und Ironie werden aktuelle Strukturen der gesellschaftlichen Ordnung problematisiert. Ebenso wie Schtonk! ist der Thriller Der SandmannDer Sandmann (1995) von Regisseur Nico HofmannHofmann, Nico, mit Götz GeorgeGeorge, Götz in der Hauptrolle, als Film über die massenmediale Verarbeitung von Verbrechen konzipiert und darüber hinaus metafiktional. Eine junge, ambitionierte Journalistin macht eine Story über den Autor Henry Kupfer, der selbst eine Haftstrafe wegen Prostituiertenmordes verbüßt hat und Bücher über Serienmörder schreibt. Kupfer wirkt immer bedrohlicher und die Journalistin glaubt immer mehr, dass er tatsächlich ein gesuchter Serienmörder ist. Es stellt sich am Ende heraus, dass er ihr, sogar mit Hilfe ihrer Kolleg*innen, nur Angst eingejagt hat, damit sie ihn und sein neues Buch besonders medien- und werbewirksam vermarktet. Der Film nutzt die Techniken der Spannungserzeugung und führt sie zugleich als Techniken vor. Es handelt sich um einen Kriminalfilm und zugleich um einen Meta-Kriminalfilm, um einen Film über die Praktiken der Inszenierung von Verbrechen in den Massenmedien, im Buch und nicht zuletzt im Film selbst.

Der deutschsprachige Kriminalfilm zeigt sowohl allgemein übliche als auch für die deutschsprachige historische und kulturelle Tradition besondere Muster gesellschaftlicher Ordnung, die in Frage gestellt und, in den als besonders herausragend angesehen wie prämierten Filmen, in der Regel nicht wiederhergestellt, sondern nachhaltig erschüttert werden. Der Diskurs über die Gültigkeit von Normen und die Konsequenz von Normüberschreitungen, über Täter und Opfer tendiert nur in vor allem der Unterhaltung verpflichteten, an gängige Schemata anknüpfenden Filmen zur Schwarz-Weiß-Zeichnung, zu einer klaren Verteilung der Schuld. Die konventionelle Zuschreibungspraxis von ‚Gut‘ und ‚Böse‘ funktioniert in den bekannteren Beispielen der verschiedenen Sub-Genres des Kriminalfilms nicht mehr. Dies ist schon an der Oberfläche erkennbar, wenn ein hegemonialer Diskurs, der durch geschriebene (Gesetze) oder ungeschriebene (Praktiken) Normen autoritär strukturiert ist, im Wortsinn vorgeführt wird. Es wird gezeigt, dass die ‚Dispositive der Macht‘ (Michel FoucaultFoucault, Michel) den Interessen einiger Weniger dienen, die sich an Schlüsselpositionen von Staat oder Familie befinden und die ihre Macht zur Unterdrückung von Individuen oder Gruppen ge- und missbrauchen. Auch die individuelle Tat ist nicht mehr nur individuell, sie ist in vielfältige Bezüge eingebunden und Bestandteil eines Diskurses über ‚Überwachen und Strafen‘, wie er für die ausdifferenzierten modernen Gesellschaften grundlegend geworden ist. Die Ordnungsrahmen einer „Disziplinierung des Todes“ (Foucault 1983, 165) werden ebenso sichtbar wie die Grundlagen einer „Bio-Macht“ (Foucault 1983, 167), in der „das alte Recht, sterben zu machen oder leben zu lassen, abgelöst [wurde] von einer Macht, leben zu machen oder in den Tod zu stoßen“ (Foucault 1983, 165).

Zwei neuere Filme können als vergleichsweise einfache Beispiele dafür dienen, wie der Kriminalfilm durch die Thematisierung von Verbrechen als Störung der bestehenden Ordnung auf das Spektrum von problematischer individueller und institutioneller, lokaler und überregionaler Machtverteilung hinweist. Die Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte, insbesondere mit Nationalsozialismus und Holocaust, bleibt ein wichtiges Thema auch des Kriminalfilms. In Der Staat gegen Fritz BauerDer Staat gegen Fritz Bauer (2015), 2016 mit dem Hauptpreis des Deutschen Filmpreises ausgezeichnet, werden wahre Begebenheiten verarbeitet und mit anderen gesellschaftlichen Problemen verknüpft, vor allem mit der seinerzeit noch geltenden Strafbarkeit von Homosexualität. Der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer (1903-1968) war eine der treibenden Kräfte in der juristischen Aufarbeitung des Holocaust, so trug er mit dazu bei, dass Adolf EichmannEichmann, Adolf in Argentinien gefunden und vom israelischen Geheimdienst Mossad gefangen genommen werden konnte, auch bereitete er die Frankfurter Auschwitzprozesse (1963–1981) mit vor. Burghart Klaußner spielt die Titelrolle in dem Film von Lars KraumeKraume, Lars (Regie). Die österreichisch-deutsche Coproduktion Das finstere TalDas finstere Tal (2014), die Verfilmung eines Romans von Thomas WillmannWillmann, Thomas, knüpft an Traditionen des Western und des Heimatfilms an. Die Ende des 19. Jahrhunderts spielende Geschichte über den einsamen Rächer Greider (Sam RileyRiley, Sam) und seine Antagonisten, den reichen Bauern Brenner mit seiner Familie (Tobias MorettiMoretti, Tobias ist als Sohn Hans einer der Hauptdarsteller), wurde mit dem Österreichischen Filmpreis 2015 in acht Kategorien prämiert. Brenner und seine Söhne regieren autoritär und gewaltsam ein abgelegenes Dorf in den Alpen, der Patriarch zwingt die jung verheirateten Frauen, mit ihm ihr erstes Kind zu zeugen. Greiders juristischer Vater wurde gekreuzigt, weil er sich dagegen wehrte, und der möglicherweise illegitime Sohn des Brenner-Bauern begibt sich nun auf einen Feldzug gegen die Exponenten der brutalen Ordnung, in der auch der Priester seine Rolle spielt. Die Kritik an solchen autoritären, feudalen und religiösen Denkmustern steht in der Tradition von anderen Literatur- und Filmproduktionen aus Österreich, die sich insbesondere mit dem ‚Alltagsfaschismus‘ auseinandersetzen.

Allerdings ist zu fragen, inwieweit sich auch solche Umkehrungen der Maßstäbe der Bewertung (böse Ordnung – gutes, außerhalb der Ordnung stehendes Individuum) alter Zuschreibungsmuster bedienen. Noch innovativer sind Filme, die distanzerzeugende Mittel wie Metafiktionalität verwenden, um die Zuschreibungspraxis, die der Film selbst durch seine eigene Ordnung etabliert, ebenfalls zur Disposition zu stellen oder zumindest durchsichtig zu machen. Ein radikales Beispiel ist Orson WellesWelles, Orson’ Verfilmung von Franz KafkaKafka, Franzs Roman Der ProzeßDer Prozeß. Der Roman erschien postum 1925, die Verfilmung stammt von 1962. Wie viele der bereits genannten Beispiele handelt es sich um einen sogenannten Autorenfilm – Orson Welles hatte die Idee, schrieb das Drehbuch und führte Regie, außerdem spielte er eine der zentralen Figuren und wirkte am Schnitt mit. Anthony PerkinsPerkins, Anthony als Josef K. war den Kinozuschauern noch als Serienmörder aus PsychoPsycho in Erinnerung. Zweifellos handelt es sich um einen Kriminalfilm, es gibt einen Täter und eine Strafe – Josef K. wird am Schluss des Films von Vertretern der Ordnung erstochen. Allerdings bleibt in Roman und Film alles Wissen verborgen, das für einen logischen Kriminalfall unverzichtbar wäre: Welche Tat soll K. überhaupt begonnen haben? Wie ist das Gericht legitimiert? Im Verlauf der Handlung entstehen erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit dessen, was die Vertreter der Ordnung tun. Es werden nicht nur die üblichen Gut-Böse-Schemata aufgelöst, es ist nicht einmal mehr deutlich, wer nach den innerfiktional anzulegenden Maßstäben auf welcher Seite steht.

Auch deutschsprachige Produktionen durchkreuzen die in primär der Unterhaltung verpflichteten Filmen gängigen Muster, etwa Der TotmacherDer Totmacher (1995) von Regisseur Romuald KarmakarKarmakar, Romuald mit Götz GeorgeGeorge, Götz in der Rolle des Serienmörders Fritz HaarmannHaarmann, Fritz, der 1924 wegen des brutalen Mordes an mindestens 24 Jungen und Männern verhaftet, verhört und hingerichtet wurde. Die Verhörprotokolle dienen als Grundlage für das klaustrophobische Kammerspiel und George zeichnet das Bild eines zutiefst verstörten, sich nach Liebe sehnenden Mannes, der sich aber nur durch Gewalt artikulieren kann. Das Monster ist dennoch ein Mensch.

Legislative und Exekutive stellen den Ordnungsrahmen bereit, doch sind die heutigen ausdifferenzierten, hochkomplexen Gesellschaften vor allem auf Selbstdisziplinierung angewiesen. Diese Selbstdisziplinierung kann entweder durch unkritische Internalisierung von Regeln erfolgen oder darauf zielen, die eigene Reflexion über sinnvolle Techniken zu aktivieren, wie sich gerade auch durch eigenes Verhalten soziales Miteinander gewährleisten lässt. Triviale Kriminalfilme zielen auf die Internalisierung von Regeln, wobei dies auch durch Kritik an etablierten Ordnungsmächten geschehen kann, etwa wenn sie korrupt sind und die ihnen zugewiesene Aufgabe nicht mehr erfüllen. Durch Verwendung solcher Muster im Kriminalfilm wird nicht die Frage nach der Legitimität von Autorität gestellt, sondern die Restitution einer prinzipiell als sinnvoll erachteten, ‚naturalisierten‘ Autorität propagiert. Die hier diskutierten Beispiele des Kriminalfilms weichen von diesem Programm des Unterhaltungsfilms ab, denn sie werfen entweder einen kritischen Blick nicht nur auf die Vertreter*innen der staatlichen Autorität, sondern auf bestehende Ordnungsstrukturen. ‚Gut‘ und ‚Böse‘ werden, bezogen auf die Rollen wie auf das Verhalten der Figuren, als Zuschreibungen entlarvt, die Grenzen zwischen Täter und Opfer verschwimmen und die Kontingenzerfahrungen der (post-)modernen Gesellschaft lassen kein logisch-teleologisches Konzept von Aufklärung, hier verstanden als Aufklärung von Verbrechen, mehr zu. Das heißt nicht, dass ethisches Handeln unmöglich geworden wäre. Es ist nur schwieriger geworden, denn es muss situativ und (selbst-)verantwortlich abgesichert werden und es muss nicht mehr zur Folge haben, dass dadurch die gezeigte Welt ein Stück besser geworden ist.

 

Kriminalfilm ist also nicht gleich Kriminalfilm, und dies betrifft weniger die viel diskutierte, schwer festzulegende Zugehörigkeit zu den diversen Subgenres (Detektivfilm, Thriller u.a.) als vielmehr die aus der filmischen Inszenierung resultierende Haltung zur „Ordnung des Diskurses“ (FoucaultFoucault, Michel 2000) einer Gesellschaft. Der Kriminalfilm ist auch deshalb eines der spannendsten Genres, nur auf andere Weise, als dies gängige Rezeptionsmodi vermuten lassen.

Fragen zu diesem Kapitel:

Was ist und welche Rolle für die Entwicklung des Genres spielt ‚der Pitaval‘?

Mit welchem Text gerät die Motivation des Verbrechens in den Blick der Kriminalerzählung?

Wann beginnt die Entwicklung des Kriminalfilms?

Welche Rolle spielen Normverletzungen?

Welche Bedeutung hat der Nervenkitzel?

Wie machen Kriminalerzählungen in Literatur und Film Kategorien wie ‚Gut‘ und ‚Böse‘ als Zuschreibungen kenntlich?

Welche Überschneidungen gibt es zwischen Kriminal-, Detektiv- und Spionagefilmen (oder -serien)?

Welche die Grenzen des Genres erweiternden Filme wären beispielsweise zu nennen?

Inwiefern wird die Grenze von Kriminalfilm, Kriminalkomödie und Gesellschaftssatire fließend?

Wie werden Ordnungsstrukturen und Kontingenzerfahrungen miteinander vermittelt?

4. Kriminalerzählungen
4.1 Ein Sammelbegriff

Erzählt wird (fast) immer und überall, der Begriff der Erzählung kann daher zugleich allgemein und spezifischer als Gattungsbegriff der Literatur verstanden werden. Zur Gattung der Erzählung werden in der Literatur alle Erzähltexte gerechnet, die nicht als Roman bezeichnet werden, die in der Regel kürzer als ein Roman sind, aber länger und offener als andere Gattungen wie Novelle, Kurzgeschichte, Märchen, Legende u.a. Eine Erzählung wird bestenfalls dadurch definiert, dass sie keine besonderen Merkmale hat. Die Verwendung von Gattungsbegriffen kann insbesondere bei der Erzählung differieren. Die Begriffe Erzählung und Novelle werden nicht selten synonym verwendet. Bei Novellenzyklen spricht man von Rahmenerzählungen, in die Novellen eingebettet sind. Theodor FontaneFontane, Theodor beispielsweise zog den offeneren Begriff dem der Novelle vor, während sich die Forschung gern, wenn es um Fontanes ‚Erzählungen‘ geht, des Begriffs der Novelle bedient.

Kriminalerzählung wird hier, die Filmerzählungen einschließend, als Sammelbegriff für alle Krimis verstanden, die nicht Detektiverzählung oder Thriller sind. Dass es sich dabei um keine klar festlegbare Grenze handelt, soll am abschließenden Beispiel dieses Kapitels noch einmal gezeigt werden. Krimis kreisen um ein Verbrechen und sie haben Merkmale von Detektiverzählung und / oder Thriller. Während bei SchillerSchiller, Friedrichs Der Verbrecher aus verlorener EhreDer Verbrecher aus verlorener Ehre die Detektion fehlt, spielt sie in FontaneFontane, Theodors Unterm BirnbaumUnterm Birnbaum eine nicht unwesentliche Rolle, auch wenn sie – oder gerade weil sie – vom Täter beabsichtigt zu falschen Ergebnissen führt. In Nele NeuhausNeuhaus, Nele’ Böser WolfBöser Wolf wird die Handlung auch durch die Detektion vorangetrieben, doch entfaltet sich das Geschehen dynamisch und die Ermittler*innen sind oftmals überfordert und hinken der Entwicklung hinterher. Thrillerelemente, verstanden als spannungserzeugendes und auf ‚böse‘ Taten gerichtetes Handeln, gibt es schon bei Schiller und auch bei Fontane und Neuhaus. Sie sind konstitutiv für die meisten Krimis und sie sind wohl nur bei besonderen Detektiverzählungen, die sich auf die Auflösung eines zurückliegenden Falls konzentrieren, zu vernachlässigen.

Freilich bleibt es dabei, dass Krimi der Oberbegriff ist, da er alle Texte und Filme meint, die um ein Verbrechen kreisen. Insofern muss man mit der Unschärfe leben und sich stets fragen, was weshalb im engeren oder weiteren Sinn als Krimi bezeichnet werden kann.

4.2 Der Anfang im 18. Jahrhundert mit der Frage nach dem Motiv der (Un-)Tat: Friedrich Schillers Der Verbrecher aus verlorener Ehre (1786)

Als der erste bedeutende moderne Krimi im engeren und im weiteren Sinn kann Schillers Erzählung gelten, die nicht nur ein Verbrechen schildert, sondern auch und besonders die Frage nach der Motivation hinter der Tat stellt und deshalb den Täter als individuelle Figur zeichnet. Schiller hatte Vorlagen, die auf einen realen Fall zurückgehen – den des sogenannten ‚Sonnenwirts‘ Friedrich SchwanSchwan, Friedrich (1729-60): „Es handelte sich um einen wegen Mordes und Raubes im Juni 1760 in Mergentheim öffentlich geräderten Kriminellen, der auch jenseits der Grenzen Schwabens als berüchtigt galt“ (Alt 2009, 513). Der Erstdruck in der Zeitschrift Thalia trug noch den Titel Verbrecher aus Infamie, eine wahre Geschichte. 1792 erschien dann, diesmal auch unter Schillers Namen, eine zweite, im Text nur leicht veränderte Druckfassung (in den Kleineren prosaischen Schriften) mit dem geänderten Titel (vgl. Schiller 1993b, 1060f.).

Die Bewertung wird damit deutlich verändert, der Verbrecher wird nicht mehr als ‚infam‘ bezeichnet – auch wenn der ursprüngliche Titel ein Kunstgriff gewesen sein kann, um das Lesepublikum, das wenig Sympathie für Verbrecher wie den seinerzeit bekannten ‚Sonnenwirt‘ gehabt haben dürfte, im Laufe der Erzählung zu einer milderen Auffassung zu bekehren. Schließlich bezeichnet sich die Hauptfigur des Wilhelm Tell (1804) in ihrem berühmten Monolog in der ‚hohlen Gasse‘ als Mörder, obwohl das Schauspiel keinen Zweifel daran lässt, dass es sich bei dem ‚Mord‘ an Landvogt Geßler um eine absolut notwendige Tat handelt, mit der Tell unschuldige Leben rettet und die Schweiz von der Tyrannei befreit (Neuhaus 2017a, 112). Dennoch ist der zweite Titel Der Verbrecher aus verlorener Ehre präziser und er macht neugieriger, weil er den Verlust der ‚Ehre‘ als zentrales Ereignis setzt und implizit die Frage aufwirft, wie es so weit kommen konnte.

Bereits der Anfang (des Zweitdrucks, dem hier gefolgt wird) setzt die Motivation der Tat zentral und betont darüber hinaus noch ihre allgemeine Bedeutung:

In der ganzen Geschichte des Menschen ist kein Kapitel unterrichtender für Herz und Geist als die Annalen seiner Verirrungen. Bei jedem großen Verbrechen war eine verhältnismäßig große Kraft in Bewegung. Wenn sich das geheime Spiel der Begehrungskraft bei dem matteren Licht gewöhnlicher Affekte versteckt, so wird es im Zustand gewaltsamer Leidenschaft desto hervorspringender […]. (Schiller 1993b, 13)

Erstaunlich ist, dass Schillers Erzählung hier bereits, mehr als ein Jahrhundert vor den wichtigen Schriften Sigmund Freuds und lange vor den Ereignissen und Einsichten des 20. Jahrhunderts, alle Menschen als potenzielle Täter sieht, wenn die „Begehrungskraft“ nur, durch äußere Umstände und Einflüsse angestachelt, groß genug wird. Auch wenn betont wird, dass es „die republikanische Freiheit des lesenden Publikums“ sei, „selbst zu Gericht zu sitzen“ (Schiller 1993b, 14), so wird doch ebenso hervorgehoben, dass die Figur, um die es geht, zwar „durch des Henkers Hand“ gestorben sei, dass aber die „Leichenöffnung seines Lasters“ dennoch die Auffassung von „Gerechtigkeit“ modifizieren werde (Schiller 1993b, 15).

Die Leserlenkung wird durch die Namensgebung fortgesetzt. Christian Wolf ist ein paradoxer Name, der das Christliche und das Kreatürliche, den Heilsbringer der Menschen und das gefürchtete Raubtier zusammenbringt. Wir erfahren, dass der Vater gestorben ist und der Sohn seiner Mutter hilft, mehr schlecht als recht die ‚schlechte‘ Gastwirtschaft zur „Sonne“ zu betreiben (Schiller 1993b, 16). Zu den sozialen Nachteilen kommen physische: „Die Natur hatte seinen Körper verabsäumt“ (ebd.). Diese Ausgangssituation wird bereits bestimmend für Wolfs weiteres Leben: „Er wollte ertrotzen, was ihm verweigert war; weil er mißfiel, setzte er sich vor, zu gefallen. Er war sinnlich und beredete sich, daß er liebe. Das Mädchen, das er wählte, mißhandelte ihn […]“ (ebd.). Um sie mit Geschenken zu beeindrucken wird Wolf ein „Wilddieb“, damit konkurriert er aber auf fatale Weise mit einem seiner Nebenbuhler um die Gunst „Hannchens“. Es handelt sich um „Robert, ein Jägerpursche des Försters“ (ebd.). Der schafft es, Wolf auf die Spur zu kommen, und erreicht eine Bestrafung, die den jungen Wirt um sein ‚ganzes kleines Vermögen‘ bringt (Schiller 1993b, 17).

Einmal auf dem abschüssigen Weg, macht Wolf weiter – er wird wieder von Robert überführt und muss nun für ein Jahr ins Zuchthaus (ebd.). Danach möchte er sich bessern, doch es wird ihm nicht erlaubt:

Das Strafjahr war überstanden, seine Leidenschaft durch die Entfernung gewachsen und sein Trotz unter dem Gewicht des Unglücks gestiegen. Kaum erlangt er die Freiheit, so eilt er nach seinem Geburtsort, sich seiner Johanne zu zeigen. Er erscheint: man flieht ihn. Die dringende Not hat endlich seinen Hochmut gebeugt und seine Weichlichkeit überwunden – er bietet sich den Reichen des Orts an und will für den Taglohn dienen. Der Bauer zuckt über den schwachen Zärtling die Achsel; der derbe Knochenbau seines handfesten Mitbewerbers sticht ihn bei diesem fühllosen Gönner aus. Er wagt einen letzten Versuch. Ein Amt ist noch ledig, der äußerste verlorne Posten des ehrlichen Namens – er meldet sich zum Hirten des Städtchens, aber der Bauer will seine Schweine keinem Taugenichts anvertrauen. In allen Entwürfen getäuscht, an allen Orten zurückgewiesen, wird er zum drittenmal Wilddieb, und zum drittenmal trifft ihn das Unglück, seinem wachsamen Feind in die Hände zu fallen. (ebd.)

Die Bewertung des Verhaltens der ironisch so bezeichneten ‚Gönner‘ ist eindeutig, nicht einmal Schweine werden dem reuigen Sünder anvertraut. Man kann hier auch eine Anspielung auf die Bibel erkennen, darin lässt Jesus die Dämonen in Schweine fahren und ertrinken (Markus 5, 1-20). Christian Wolf wird aber gerade keine Erlösung zuteil wie dem Mann, der von den bösen Geistern beherrscht und von Jesus geheilt wird. Der Eindruck der Inhumanität des Verhaltens gegenüber Christian Wolf wird durch den intertextuellen Verweis noch verstärkt.

Aller schlechten Dinge sind in dem Fall drei und der dritte Rückfall wird mit drei Jahren Zuchthaus bestraft, die aus Wolf endgültig einen Verbrecher werden lassen. Der Erzähler wählt, um die Glaubwürdigkeit der Schilderung zu erhöhen, die direkte Rede einer als ehrlich markierten Zeugenaussage:

Auch diese Periode verlief, und er ging von der Festung – aber ganz anders, als er dahin gekommen war. Hier fängt eine neue Epoche in seinem Leben an; man höre ihn selbst, wie er nachher gegen seinen geistlichen Beistand und vor Gerichte bekannt hat. „Ich betrat die Festung“, sagte er, „als ein Verirrter und verließ sie als ein Lotterbube. Ich hatte noch etwas in der Welt gehabt, das mir teuer war, und mein Stolz krümmte sich unter der Schande. Wie ich auf die Festung gebracht war, sperrte man mich zu dreiundzwanzig Gefangenen ein, unter denen zwei Mörder und die übrigen alle berüchtigte Diebe und Vagabunden waren. Man verhöhnte mich, wenn ich von Gott sprach, und setzte mir zu, schändliche Lästerungen gegen den Erlöser zu sagen. Man sang mir Hurenlieder vor, die ich, ein lüderlicher Bube, nicht ohne Ekel und Entsetzen hörte, aber was ich ausüben sah, empörte meine Schamhaftigkeit noch mehr. Kein Tag verging, wo nicht irgendein schändlicher Lebenslauf wiederholt, irgendein schlimmer Anschlag geschmiedet ward. Anfangs floh ich dieses Volk und verkroch mich vor ihren Gesprächen, so gut mirs möglich war, aber ich brauchte ein Geschöpf, und die Barbarei meiner Wächter hatte mir auch meinen Hund abgeschlagen. Die Arbeit war hart und tyrannisch, mein Körper kränklich, ich brauchte Beistand, und wenn ichs aufrichtig sagen soll, ich brauchte Bedaurung, und diese mußte ich mit dem letzten Überrest meines Gewissens erkaufen. So gewöhnte ich mich endlich an das Abscheulichste, und im letzten Vierteljahr hatte ich meine Lehrmeister übertroffen.

 

Von jetzt an lechzte ich nach dem Tag meiner Freiheit, wie ich nach Rache lechzte. Alle Menschen hatten mich beleidigt, denn alle waren besser und glücklicher als ich. Ich betrachtete mich als den Märtyrer des natürlichen Rechts und als ein Schlachtopfer der Gesetze.“ (Schiller 1993b, 18)

Hier wird bereits eindrücklich zu einer Zeit, in der überhaupt erst der moderne Strafvollzug entsteht, die Möglichkeit zur Resozialisierung eingefordert. Wie unzeitgemäß dies sogar heute noch sein kann, zeigt ein Blick auf den Strafvollzug in anderen Ländern, darunter auch in den USA. Wolfs Rückkehr in seinen Heimatort macht deutlich, dass er nicht nur geächtet wird, sondern auch, dass ihm nichts mehr geblieben ist. Niemand, den er einst kannte, ist noch bereit, ihn zu grüßen. ‚Seine‘ Johanne hat sich durch Prostitution in „die verworfenste Kreatur“ verwandelt. Seine Mutter ist gestorben und das Häuschen gepfändet: „Ich hatte niemand und nichts mehr“ (Schiller 1993b, 20). Wolfs Entschluss steht fest: „Ich wollte mein Schicksal verdienen“ (Schiller 1993b, 21).

Immer noch ist damit die Wilddieberei gemeint, der er ohne schlechtes Gewissen nachgeht, zumal es keine andere Möglichkeit des Überlebens mehr für ihn gibt. Durch eine zufällige Begegnung wird er nun erst zum wahren Verbrecher – zum Mörder. Er sieht im Wald seinen früheren Nebenbuhler, „den Jäger Robert“ (ebd.). Er erschießt ihn, nicht ohne vom Erzähler durch die Schilderung der Tat implizit mildernde Umstände zugebilligt zu bekommen:

„Eine unsichtbare fürchterliche Hand schwebte über mir, der Stundenweiser meines Schicksals zeigte unwiderruflich auf diese schwarze Minute. Der Arm zitterte mir, da ich meiner Flinte die schreckliche Wahl erlaubte – meine Zähne schlugen zusammen wie im Fieberfrost, und der Odem sperrte sich erstickend in meiner Lunge. Eine Minute lang blieb der Lauf meiner Flinte ungewiß zwischen dem Menschen und dem Hirsch mitten inne schwanken – eine Minute – und noch eine – und wieder eine. Rache und Gewissen rangen hartnäckig und zweifelhaft, aber die Rache gewanns, und der Jäger lag tot am Boden.“ (Schiller 1993b, 21f.)

Die Schilderung zeigt, dass sich Christian Wolf im Moment der Tat gar nicht bewusst ist, was er tut, und dass er erst im Angesicht des Toten beginnt, seine neue, viel größere Schuld zu realisieren. Und noch einmal wird deutlich, dass er seine Tat nicht bewusst und mit Vorsatz ausgeführt hat:

„Etwas ganz besonders Schreckbares lag für mich in dem Gedanken, daß von jetzt an mein Leben verwirkt sei. Auf mehreres besinne ich mich nicht mehr. Ich wünschte gleich darauf, daß er noch lebte. Ich tat mir Gewalt an, mich lebhaft an alles Böse zu erinnern, das mir der Tote im Leben zugefügt hatte, aber sonderbar! mein Gedächtnis war wie ausgestorben. Ich konnte nichts mehr von alle dem hervorrufen, was mich vor einer Viertelstunde zum Rasen gebracht hatte. Ich begriff gar nicht, wie ich zu dieser Mordtat gekommen war.“ (ebd.)

Selbst in diesem Moment der größten Schuld – immerhin hat er einem Menschen das Leben genommen – versucht Wolf, Reste von Anstand zu bewahren:

„Unwillkürlich verlor ich mich tiefer in den Wald. Auf dem Wege fiel mir ein, daß der Entleibte sonst eine Taschenuhr besessen hätte. Ich brauchte Geld, um die Grenze zu erreichen – und doch fehlte mir der Mut, nach dem Platze umzuwenden, wo der Tote lag. Hier erschreckte mich ein Gedanke an den Teufel und eine Allgegenwart Gottes. Ich raffte meine ganze Kühnheit zusammen; entschlossen, es mit der ganzen Hölle aufzunehmen, ging ich nach der Stelle zurück. Ich fand, was ich erwartet hatte, und in einer grünen Börse noch etwas weniges über einen Taler an Gelde. Eben da ich beides zu mir stecken wollte, hielt ich plötzlich ein und überlegte. Es war keine Anwandlung von Scham, auch nicht Furcht, mein Verbrechen durch Plünderung zu vergrößern – Trotz, glaube ich, war es, daß ich die Uhr wieder von mir warf und von dem Gelde nur die Hälfte behielt. Ich wollte für einen persönlichen Feind des Erschossenen, aber nicht für seinen Räuber gehalten sein.“ (Schiller 1993b, 23)

Nun wird der „Sonnenwirt“ (Schiller 1993b, 25) auch Mitglied und sogar Anführer einer Räuberbande (Schiller 1993b, 28) – ähnlich wie Karl Moor in Schillers erstem Drama Die Räuber von 1981, dessen Verhalten ebenfalls durch die Umstände motiviert erscheint und der letztendlich erfolglos versucht, ein ‚edler‘ Räuber zu werden. Die Begegnung Wolfs mit einem ‚wilden Mann‘ (Schiller 1993b, 24), die Bemerkung: „In dem Zustande, worein ich versunken war, hätte ich mit dem höllischen Geiste Kameradschaft getrunken, um einen Vertrauten zu haben“ (Schiller 1993b, 25), der „Abgrund“, in dem die Räuberbande haust (Schiller 1993b, 26) und weitere Anspielungen deuten auf einen Teufelspakt. Doch führt gerade das Räuberleben bei dem ‚Verbrecher aus verlorener Ehre‘ zu einem immer stärker werdenden Gefühl von „Reue“ (Schiller 1993b, 30) und er beschließt, den Ausbruch des Siebenjährigen Krieges für einen letzten Versuch der Rückkehr in die gesellschaftliche Ordnung zu nutzen:

Der Unglückliche schöpfte Hoffnung von diesem Umstand und schrieb einen Brief an seinen Landesherrn, den ich auszugsweise hier einrücke:

„Wenn Ihre fürstliche Huld sich nicht ekelt, bis zu mir herunterzusteigen, wenn Verbrecher meiner Art nicht außerhalb Ihrer Erbarmung liegen, so gönnen Sie mir Gehör, durchlauchtigster Oberherr. Ich bin Mörder und Dieb, das Gesetz verdammt mich zum Tode, die Gerichte suchen mich auf – und ich biete mich an, mich freiwillig zu stellen. Aber ich bringe zugleich eine seltsame Bitte vor Ihren Thron. Ich verabscheue mein Leben und fürchte den Tod nicht, aber schrecklich ist mirs zu sterben, ohne gelebt zu haben. Ich möchte leben, um einen Teil des Vergangenen gutzumachen; ich möchte leben, um den Staat zu versöhnen, den ich beleidigt habe. Meine Hinrichtung wird ein Beispiel sein für die Welt, aber kein Ersatz meiner Taten. Ich hasse das Laster und sehne mich feurig nach Rechtschaffenheit und Tugend. Ich habe Fähigkeiten gezeigt, meinem Vaterland furchtbar zu werden, ich hoffe, daß mir noch einige übrig geblieben sind, ihm zu nützen.“ (Schiller 1993b, 30)

Doch wird der Fürst nicht „Gnade für Recht ergehen“ lassen (Schiller 1993b, 31). Wolf bekommt keine Antwort, auch nicht auf weitere Bittschriften und er verlässt die Räuberbande, um „aus dem Land zu fliehen und im Dienste des Königs von Preußen als ein braver Soldat zu sterben“ (Schiller 1993b, 31). Unterwegs wird er in einer „kleine[n] Landstadt“ (ebd.) durch eine Passkontrolle aufgehalten und macht schließlich einem „Richter“, der ihn „mit ziemlich brutalem Ton“ ausfragt (Schiller 1993b, 33), das Geständnis seiner wahren Identität, denn: „Ich glaube, daß Sie ein edler Mann sind“ (Schiller 1993b, 34).

Mit Wolfs Worten „Ich bin der Sonnenwirt“ (Schiller 1993b, 35) endet die Erzählung. Doch wissen die Leser*innen durch deren Anfang bereits, dass es für Christian Wolf kein Happy End geben wird – anders als am Schluss von Wilhelm HauffHauff, Wilhelms Märchen-Almanach Die KarawaneDie Karawane (1825), der mit dem intertextuell auf Schillers Erzählung verweisenden Geständnis endet: „Man nennt mich den Herrn der Wüste; ich bin der Räuber Orbasan“ (Hauff 1981, 684). Selim Baruch alias Orbasan ist ein Beispiel für gelungene Resozialisierung und offenbart mit dem positiven Beispiel einer mehrfach als ‚fremd‘ markierten Figur die Defizite einer späteren Zeit (Neuhaus 2017, 88b).

Schillers kurze Erzählung hat, das kann hier nur angedeutet werden, eine kaum zu überschätzende Wirkung entfaltet. Sie ist unzeitgemäß modern, auch durch die verwendeten Techniken, die viel weiter gehen als die sonst bekannten und verbreiteten Schriften über Kriminalfälle: „Ihre besondere Wirkung entfaltet Schillers ‚wahre Geschichte‘ zumal durch die Technik des Perspektivwechsels, die es gestattet, neben der Stimme des Erzählers auch jene Christian Wolfs zu Gehör zu bringen“ (Alt 2009, 521). So etwas war im Kontext der Zeit unerhört.