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Begnadet - Buch 1-2

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Begnadet - Buch 1-2
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Begnadet - Schmetterlingseffekt - Buch 1 6

Prolog 7

Aeia – Sechs Tage zuvor 8

Aeia - Blut 15

Aeia - TREECSS 18

Aeia - KIF 27

Alex - Machtverhältnisse 30

Aeia - Selbstgespräche 33

Aeia - Professor Meusburger 38

Vigor - Bestimmung 43

Aeia - Xmemorarenikation 44

Aeia - Asklepiosstab 56

Aeia - Stechmücken 62

Aeia - Vegimenü 67

Aeia - Talenttest 83

Aeia - Sexy-Walk 98

Aeia - Akte 53, Todesfall Julio Malleki 101

Vigor - Zweikomponentenkleber 108

Aeia - Tiefgarage 109

Aeia - Karma 113

Aeia - Das Mal 119

Aeia – Catwalk 123

Levi - Tiefschlafphase 128

Lu - Todesangst 132

Aeia - 3000 PETA Flops 140

Aeia - Refugium 148

Richard - Influenza 157

Aeia- Biblische Ausmaße 160

Aeia - Geheimnisse 164

Aeia - Systemzusammenbruch 168

Aeia - Artefaktenarchiv 170

Familienmitglied - Artefaktenarchiv 173

Aeia - Erwischt 175

Aeia - Lektionen 182

Stefan Kohler - Heinrich von Stephan Str. 4, 79100 Freiburg 187

Aeia - Splitterfasernackt 188

Aeia – Fakten, Fakten, Fakten 191

Aeia - 016-A4 195

Aeia - Intuition 205

Aeia - 15130815 47°59’43"nB 7°51’11"öL 208

Aeia - Gate 34 210

Aeia – Kyalas Akte 213

Aeia - Davidis Büro 218

Aeia - Über dem Mittelmeer 220

Aeia - Alptraum 227

Aeia - Das Mal 233

Begnadet - Déjà-vu - Buch 2 236

Levi - Uniklinik Freiburg / Labor 237

Aeia - Boing 747, EgyptAir Flug 672 238

Aeia - Absturz 241

Levi - Darknet 247

Aeia - Anne 252

Aeia - Kennwort 259

Beamte - Rosastraße 279

Aeia - Crash 281

Dr. Theresa Schulte - DNA 288

Aeia - Krankenhaus 289

Pflegerin - Intensiv 1 302

Jakar - Intensiv 1 304

Aeia - Gruselig 306

Levi - SMS 307

Aeia - Uniklinikum Notfallaufnahme 309

Levi - Uniklinikum 312

Aeia - Intensivstation 313

Aeia - Flucht 320

Aeia - Nach Hause 326

Aeia - Erwacht 332

Jakar - Meisteranwärter 336

Aeia - Einweihungsritual 340

Aeia - Jarno 369

Aeia – Aufgewacht 380

 

Aeia - Motoradfahrt 384

Aeia - Festgeschnallt 387

Aeia - Déjà-vu 398

Aeia - Motorradfahrt die zweite 404

Aeia - Wieder festgeschnallt 407

Aeia - Münster 412

Aeia - Gefesselt 419

Aeia - Flucht 429

Aeia - Rettung 434

Aeia - Postausgang 437

Aeia - Museum - Wochen später 442

Davidi - Ursprung allen Lebens 444

Aeia - Vigor 445

Aeia - Jarno 451

Begnadet - Wiedergeburt - Buch 3 - Vorschau 461

Charakterguide 462

Was bisher geschah: 464

Aeia - 13 Jahre nach dem Tag im Louvre 465

Michail - 21 Jahre nach dem Tag im Louvre 467

Naomi - Kulturen 473

Zac - Naomi 477

Vorschau auf Violet 486

Violet - Die 7. Prophezeiung 486

Inhalt: 486

Violet - Die 7. Prophezeiung 488

Buch 1 - Verletzt 489

Prolog 490

Kapitel 1 492

Kapitel 2 497

Für Sandra-Carina M., Christine R., Tarika V., Petra M.

Danke für Eure unglaubliche Unterstützung.

Begnadet - Schmetterlingseffekt - Buch 1

Prolog

Als Aeia zu sich kommt, ist sie kaum fähig, ihre Augen zu öffnen. Ihr Kopf fühlt sich an, als habe ihn ein Zementklotz zerschmettert. Ihre Gedanken kreisen wie Aasgeier um ihr am Boden liegendes Ich.

Aber noch ist sie am Leben.

Sie sitzt auf einem harten Metallstuhl, der am Boden festgeschraubt ist und ihre Hände sind mit Handschellen auf ihrem Rücken gefesselt.

Sie blickt an sich hinab und sieht ihren Schmetterling, was eine schreckliche Erkenntnis ist. Blickt sich um, befindet sich in einem quadratischen, vollständig gekachelten Raum ohne Fenster.

Grelle Neonröhren erleuchten diesen Ort und sie hat schlimme Vermutungen, was hier alles Grauenhaftes geschehen ist, geschehen wird. Sie sieht einen Glastisch, der drei Meter entfernt steht. Ihre Kleider liegen dort. Daneben ihr Smartphone und andere Dinge, die jetzt zur Nebensächlichkeit werden.

Neben dem Tisch ist auf einem Stativ eine Videokamera befestigt.

Was hat man mit ihr vor?

»Gott, wo bin ich?«

Aeia – Sechs Tage zuvor

Es ist Montag.

Ich liege in einem französischen Bett - das ich mir seit einem Jahr mit Levi teile - eingekeilt zwischen drei Wänden. Durch das alte Sprossenfenster fallen die ersten Sonnenstrahlen auf mich herab. Auf dem Fensterbrett steht ein Foto von Levi, meinem Freund.

Wie hübsch er ist. Die blonden Haare stehen ihm wild vom Kopf ab. Dafür war ich verantwortlich, erinnere ich mich. Seine blauen Augen, das kantige Profil, die Nase. Alles passt harmonisch zusammen wie bei einer römischen Skulptur. Ich könnte mich jeden Tag aufs Neue in sein Gesicht verlieben. Aber diese Tatsache würde ich ihm natürlich nie verraten.

»Levi, wo bist du?«, rufe ich laut.

Stille. Keine Antwort.

Ein Blick auf den Wecker verrät mir, wie spät es ist. Levi ist zwar kein Student mehr, aber um diese Zeit ist er normalerweise noch nicht in der Uniklinik. Ich kuschle mich auf meine Lieblingsseite in der Hoffnung, er würde mich jeden Moment mit einer duftenden Tasse Kaffee wecken. So wie es Levi fast jeden Morgen praktiziert.

Ich warte vergeblich. Langsam klettere ich über die Fußseite aus unserem Liebesnest. Dort bleibe ich für ein paar Momente sitzen, erstaunt darüber, wie anstrengend das gerade war. Hatte ich nicht eine ganze Nacht lang geschlafen? Und trotzdem bin ich noch hundemüde.

Ich schleppe meinen schläfrigen Körper in unser kleines Tageslichtbad. Den einzigen Luxus, den wir uns in unserer kleinen Studentenwohnung leisten können. In vier Jahren wird Levi seine Ausbildung beendet haben und ich mein Psychologiestudium. Spätestens dann werden wir uns eine schönere, größere Wohnung oder vielleicht sogar ein kleines Haus mieten können.

Wieder überwältigt mich eine Müdigkeitsattacke und ich muss ausgiebig gähnen, mich auf die Toilette setzen, um nicht der Länge nach umzukippen.

Ich denke nach. Es ist schön, sich von Levi verwöhnen zu lassen, aber es fühlt sich schrecklich an, sich von ihm aushalten zu lassen. Er zahlt den Großteil der Miete und die Lebensmittel. Ich würde gerne mehr dazu beisteuern.

Ab heute wird sich das hoffentlich ändern.

Um Acht muss ich mich im Institut einfinden. Bei meiner neuen Ausbildungsstätte und meinem zukünftigen Professor, Ronan Meusburger. Mir ist es immer noch ein Rätsel, wie ich es mit meinen durchschnittlichen Uni-Leistungen geschafft habe, hier einen Platz zu ergattern. Das TREECSS-Institut ist zwar nicht so bekannt wie das Frauenhofer, aber man sagt sich, es würde zur Elite zählen. Ich bin glücklich, denn ich habe dadurch die Möglichkeit mein Psychologie-Studium weiterzuführen und gleichzeitig an Projekten mitzuarbeiten. So werde ich endlich auch wesentlich zur Aufbesserung unserer Haushaltskasse beitragen können. Ich bin gespannt, wie hoch mein monatliches Einkommen sein wird. Vermutlich nicht sehr hoch, denn hauptsächlich werde ich ja dort sein, um mein Studium zu Ende zu bringen.

Plötzlich wird mir elend schlecht. Ich gleite von der Toilette, schaffe es noch rechtzeitig, den Deckel zu öffnen und mich schmerzvoll zu übergeben. Muss an der Aufregung liegen. Ich will selbstverständlich den hohen Erwartungen meiner zukünftigen Ausbildungs- und Arbeitsstätte gerecht werden.

Ich richte mich auf, halte mich am Waschbeckenrand fest und spüle mir den ekligen Geschmack aus dem Mund. Betrachte meine schmale Gestalt im Spiegel. Ich sah auch schon mal besser aus, stelle ich fest. Neben der Lampe entdecke ich jetzt Levis Nachricht in Form eines gelben Post-it auf dem Spiegel haften.

ILU Engel

Musste früher los.

SeeU

Darunter ein verkümmertes Herz. Zeichnen war noch nie seine Stärke. Ich schenke der Haftnotiz einen Handkuss, flüstere: I love you too, ziehe Slip und Nachthemd aus, schnappe mir die Zahnbürste und stelle mich Zähne schrubbend unter die Dusche.

Beim Einseifen fallen mir gleich zwei Dinge auf. Ich habe schon wieder einen Piekser in der Armbeuge und jetzt noch zusätzlich eine gerötete Stelle neben meinem Bauchnabel. Vage versuche ich mich daran zu erinnern, was letzte Nacht zwischen Levi und mir lief. Als mir keine vernünftige Erklärung einfallen will, beschließe ich, im Laufe des Tages irgendwo Halt zu machen und Mittel gegen Stechfliegen oder Insektenvernichtungszeugs zu kaufen, mit dem ich das Bett ausräuchern werde. Vielleicht sollte ich zuvor aber noch Levi fragen, ob ihm der Geruch etwas ausmachen würde, grüble ich, während ich mich abtrockne, Jeans und BH anziehe. Ich föhne meine Haare und lege an meinem Gesicht letzte Hand an.

Schließlich blicke ich erwartungsvoll in den Spiegel. Eine Augenweide bin ich noch immer nicht. Meine dunkelbraunen, glatten Haare hängen links und rechts von meinem Gesicht, gerade wie ein Duschvorhang, auf meine Schultern herunter. Die Frisur ist mir halbwegs gelungen. Aber die Ränder unter meinen Augen sind fast so dunkel und grün wie meine Augen selbst. Sieht nicht besonders gesund aus.

Mit dunklem Kajal und hellem Makeup helfe ich nach und so langsam erkenne ich die 20jährige junge Frau wieder, von der Levi nicht seine Finger lassen kann. Man sieht es mir an, dass ich keine deutschen Wurzeln habe. Italienisch, spanisch und lateinamerikanisch, vermute ich.

Ich muss an meine Adoptiveltern denken. Meine Adoptivmutter hat mich verlassen, als ich sechs war. Genauso wie meine echte Mutter mich verlassen hat, weggegeben hat. Damals war ich erst zwei. Ich kann mich eigentlich überhaupt nicht mehr an sie erinnern. Es existiert nur ein verschwommenes Gesicht vor meinem inneren Auge. Aber das könnte auch eine ganz andere Person sein.

Meinen leiblichen Vater habe ich nie kennengelernt. Es wäre ein Glücksfall, wenn ich das auch von meinem Adoptivvater und seinem Sohn behaupten könnte.

Meine Eingeweide ziehen sich zusammen, als weitere Erinnerungen in mir aufsteigen wollen. Bilder des pompösen Hauses, in dem wir wohnten. Es steht heute noch in Oberau, einem der drei südlichen Stadtteile von Freiburg. Ich war dort seit Jahren nicht mehr. Seitdem ich von dort geflohen bin.

Ich sehe meinen Oberkörper im Spiegel, die Narben, die niemals verschwinden werden, die mich immer daran erinnern werden, was in jenem Haus Schreckliches mit mir passiert ist.

Ich flüchte mich mit meinen Gedanken an andere Orte. Sehe mich im Sommer als kleines Mädchen bis an die Flussufer der Dreisam laufen. Dort lasse ich mir die frische Luft ins Gesicht wehen und lausche der Stille der Natur. Ich flüchte mich in die Farben der Weinhänge, egal zu welcher Jahreszeit, verschlinge sie mit meinen Augen in meiner Fantasie. Ich flüchte mich in die Ruhe, die mich umgibt, in die Erinnerung an mondlose Nächte, in denen ich unbemerkt das Haus verlassen habe und abgehauen bin. Als ich mich in den leichten Nebeln versteckte, bis ich gefunden wurde.

Es funktioniert. Mein innerer, seit Jahren antrainierter, Schutzmechanismus funktioniert. Beschützt mich vor meinen eigenen Erinnerungen.

 

Ich unterdrücke erfolgreich Ängste und Tränen, die nur meinen Kajal verwischen würden. Ich nehme ein paar dunkle Strähnen und verberge damit die fast verblasste Narbe, die quer von meiner linken Schläfe bis zu meinem Ohr verläuft. Auch ein Geschenk meines Bruders.

Und dann holt mich meine andere Vergangenheit ein. Die Zeit, die ich im Heim verbrachte. In der ich allein war. Ungeliebt. Niemand hat verstanden, warum ich solche Angst hatte und ich habe nie verstanden, warum ich den anderen Kindern mit meiner Zurückgezogenheit Angst einjagte. Ich war immer die, die anders war. Die Fremdartige, Unnahbare, von der man sich fernhielt.

Aber das alles war besser als mein Bruder, der, unter der Aufsicht seines Vaters, seine sadistischen Gewaltfantasien an mir ausleben durfte.

Mein Atem geht schneller und mein Herz schlägt mir plötzlich bis zum Hals. Aeia, konzentriere dich auf das Positive. Auf das Positive, sage ich zu dem Spiegelbild, das mich anstarrt. Ich versuche, meinen Schutzwall wieder zu aktivieren.

Denke an Anne.

Anne, meine Adoptivmutter, war wundervoll. Sie schenkte mir jeden Tag die größte Kraft im ganzen Universum. Die bedingungslose Liebe einer Mutter.

Sie kannte meine wahren Wurzeln und akzeptierte mich einfach so, wie ich war.

Ich lege mir meinen Schutzengel um den Hals und streiche zweimal über das Medaillon. Betrachte die feine Goldarbeit im Spiegel.

Sie hat ihn mir gegeben, kurz bevor auch sie mich verlassen hat. Damals war ich sechs.

Ich schaffe es. Wische die Erinnerungen endgültig fort.

Alle.

Ich habe jetzt Levi und er würde mir nie etwas Schreckliches antun. Er wird mich hoffentlich niemals verlassen.

Ich bin liebenswert und ich kann sehr gut für mich selbst sorgen. Das ist es, was ich Levi zeigen will.

Meine Füße tragen mich über kühle Fliesen in die Küche, die gleichzeitig auch Wohn- und Esszimmer ist. Ich setze einen Kaffee auf, schmiere ein Marmeladenbrot und entdecke das getrocknete Blut auf dem Stück Papier auf dem Tisch.

Aeia - Blut

Das Papier ist grau, faserig und alt wie Pergament.

Das Blut ist meins.

Ich sehe es noch in jeder Einzelheit vor mir, wie der rote Saft begierig von dem Vertrag aufgesaugt wurde. So als hätte er schon lange nur auf diesen einen Moment gewartet, so als hätte er nach meinem Blut gedürstet.

Ich lege das Marmeladenbrot aus der Hand, halte den Vertrag zwischen meinen Fingern. Ihn mit einem Tropfen meines Blutes und dem Abdruck meines rechten Daumens zu besiegeln, sollte mich vielleicht misstrauisch stimmen. Andererseits hat es auch etwas Spannendes an sich. Etwas Geheimnisumwobenes umgibt das TREECSS-Institut. Ein Blick auf die Küchenuhr drängt mich zur Eile. Ich gehe ans Fenster und rufe wie jeden Morgen nach meiner Katze Inka, die heute noch nicht zum Fressen erschienen ist. Vergebens. Sie kommt nicht.

Ich stelle ihr eine Tagesration Trockenfutter vor die Wohnungstür und ein paar Minuten später habe ich unsere kleine Studentenwohnung verlassen und steuere auf meinen Käfer zu, den ich in der Straße parallel zum Colombipark abgestellt habe.

Ich bin gerade im Begriff einzusteigen, als mich etwas Kleines, Schwarzes, Miauendes davon abhält. Inka kommt klagend und erzählend aus der Hecke, die die Straße vom dahinterliegenden Park abtrennt. Sie miaut wie eine Katze, die einen guten Fang gemacht hat. Einen Vogel oder vielleicht auch eine Maus.

Oh nein. Ich bringe es nicht übers Herz. Falls das kleine Ding noch leben sollte, muss ich ihm helfen. Ich beuge mich zu Inka hinunter, in der Hoffnung, nichts Totes zwischen ihren Fängen zu entdecken.

»Na, was hast du denn da?«, frage ich meine kleine Heulsuse, die sich nun schnurrend um mein Bein herumwickelt. Ich sehe, was sie stolz zwischen den Zähnen herumträgt. Sehe weder Fell noch Federn, nur Blut und Fleisch. Bevor mir das Frühstück hochkommt, wende ich mich ab. Da gibt es nichts mehr zu retten.

Plötzlich lässt Inka ihren Fang fallen und als ich begreife, was es ist, was da zu meinen Füßen liegt, wird mir doch übel. Ich stupse das Ding mit meinem Fuß an und verfolge geschockt, wie ein abgetrennter Daumen ein Stück wegrollt.

Irritiert stehe ich da und beobachte meine Katze, wie sie ihn ableckt.

»Igitt, Inka. Lass das!«

Ich bewege mich wieder, wende mich von Inka ab, hin zu dem Gebüsch, aus dem sie zuvor gekrochen ist. Langsam schiebe ich die Äste auseinander. Ich versuche, auf alles gefasst zu sein. Auf einen betrunkenen Obdachlosen vielleicht, der es nicht mitbekommt, wenn ihm meine Katze einen Finger abbeißt. Macht Inka so etwas überhaupt? Sind Katzen eigentlich zu so etwas fähig?

Ich werde brutal mit der Realität konfrontiert. Mir bleibt das Herz stehen, als etwas überraschend Schweres auf meine Hand rutscht. Etwas Grauen erregendes hat sich in den Ästen verheddert. Es ist die Hand zum fehlenden Daumen. Ich kreische, springe zurück. Taumle, bis ich mit dem Rücken am Auto stehe. Ein älterer Mann kommt vorbei. Sein Hund, den er Gassi führt, verjagt Inka und er fragt mich, ob er mir helfen könne, ob mit mir alles in Ordnung sei. Es vergehen nur Sekunden und ich benötige nicht einmal Worte, damit er begreift.

Aeia - TREECSS

Ich befinde mich auf der A5, bin unterwegs zum TREECSS-Institut, als mich die aktuellen Meldungen im Radio in ihren Bann ziehen.

Eine Leiche wurde in den frühen Morgenstunden im Colombipark gefunden. Eine junge Frau hat das Opfer entdeckt.

Diese Frau bin ich.

Der Polizei zufolge handelt es sich bei dem Toten um einen Mann. In den Nachrichten schildern sie nicht, was ich mit eigenen Augen gesehen habe. Sie erwähnen nicht, dass dem Toten die Haut abgezogen wurde. Die Leiche wurde lediglich auf schrecklichste Art verstümmelt.

Furchtbar, zu welchen Dingen Menschen fähig sein können, meint der Nachrichtensprecher. Im idyllischen Colombipark, wo Schlösschen, Kiefern und Blumenbeete keine 100 Meter von dem Ort entfernt liegen, wo die Polizei ihre Wache hat.

Ein Mord in Freiburg. Direkt vor meiner Haustür.

Ich schalte das Radio ab. Kurble das Seitenfenster runter und atme ein paar Mal tief die sommerliche Luft ein. Solange, bis es mir besser geht und ich die gruseligen Bilder aus meinem Kopf verbannt habe.

Eine gute Stunde nach dem Horrorerlebnis komme ich mit meinen samtroten Käfer auf dem weitläufigen Areal des Instituts an. Es ist über die A5 in fast genau 45 Minuten Richtung Süden zu erreichen und befindet sich auf einer bewaldeten Anhöhe.

Das ganze Gelände und das ehemalige Schloss wurden von TREECSS vor Jahrzehnten aufgekauft. Ich habe das im Internet recherchiert. Leider war nicht viel mehr herauszufinden. Nachdem das Schloss und seine Nebengebäude drohten, aufgrund fehlender Mittel, zu zerfallen, wurde beschlossen, es in private Hände zu geben. Man erhoffte sich ein Stück Kultur zu bewahren.

Aber das, was ich jetzt von dem Gebäude durch die Windschutzscheibe sehe, ist bestimmt nicht das, was sich Historiker unter Erhaltung vorstellen.

Das alte Schloss ist zwar noch vorhanden, es macht jedoch lediglich einen Bruchteil des gesamten Komplexes aus. Es wurde von den Architekten beeindruckend in das Moderne integriert. Mein Blick schweift über verspiegelte Glasfronten, kantige Bürotürme und verspielte, kirchenähnliche Nebengebäude, die alle über Stege auf unterschiedlichen Ebenen miteinander verbunden sind. Ich bin baff. Habe nicht mit so etwas Imposantem gerechnet.

Ich steige aus meinem Käfer aus, blicke zurück und von der Anhöhe des Anwesens eröffnet sich mir ein grandioses Panorama. Das Rheintal mit den Vogesen ist zu sehen. Ich blicke gegen Süden. Der Dunstschleier hinter dem Jurakamm löst sich auf und die schneebedeckten Berge der Alpen treten in weiter Ferne hervor. Der Ausblick ist atemberaubend, lässt mich vergessen, was ich heute Morgen erlebt habe.

Ich reiße mich los, muss weiter und wende mich wieder dem Institutsgebäude zu. In seiner ursprünglichen Form hat es sich hunderte Jahre im Familienbesitz der von Kaltenbachs - einem alten Rittergeschlecht - befunden.

Lediglich der verspielte Rokoko-Dekor und die geschwungene Freitreppe, die hoch zu den Eingangsportalen führt, erinnern an die alten Bilder im Internet.

Ich schreite die Treppe hoch und fühle wieder, wie todmüde ich bin. Wie durch die Mühle gedreht. Ich beschließe, abends noch früher ins Bett zu gehen.

Dann stehe ich vor den verschlossenen Türen meiner zukünftigen Wirkungsstätte. Hier würde ich mein Studium beenden und Geld verdienen.

Aber zunächst studiere ich die Türen. Es gibt keine Klinke, keine Klingel.

Ich sehe hoch und lese den Namen, der in metallenen Lettern über den Türportalen prangt: TREECSS.

Was der Name des Instituts, diese sieben Buchstaben, bedeuten, konnte ich, auch nach intensiven Recherchen, nicht in Erfahrung bringen. Aber alles sieht bist jetzt sehr vielversprechend aus und ich bereue es nicht, die Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg hierfür einzutauschen.

Das Geräusch von aufspritzendem Kies und einem Motor, der brüllt wie ein wütender Dämon, lassen mich herumfahren. Ein pechschwarzer Porsche prescht ungezähmt auf das Institutsgelände. Mit schlitterndem Heck fräst er sich um die Ecke und kommt schließlich auf dem Parkplatz unter den mächtigen Bäumen zum Stehen.

Ich sehe zu dem Porsche. Reiche Schnösel können sich wohl überall einkaufen.

Ich spüre aber auch einen Funken Hoffnung in mir aufglühen, denn der Fahrer könnte mir bestimmt zeigen, wo ich mich anmelden muss.

Ich bin verblüfft. Denn es ist eine Frau, die aussteigt.

Das Erste, was ich von ihr zu sehen bekomme, sind ihre schwarzen, eleganten, hochhackigen Schuhe und ihre langen, schlanken Beine. Sie kommt auf mich zu, bewegt sich mit übermenschlicher Anmut und einer Selbstsicherheit, die ich mir nur erträumen kann.

Sie trägt ihre dicken, blonden Haare in einem kunstvoll geflochtenen Zopf. Eine weiße Bluse und ein nicht zu kurzer, brauner Rock betonen ihre auffallend attraktive Figur und runden den Gesamteindruck elegant ab.

Ihr teures Auto zwinkert ihr zum Abschied zweimal zu, als sie es abschließt und zu mir herüberkommt.

Als ich ihr beim Gehen zusehe, erinnert sie mich an Heidi Klums Germany´s next Topmodel. Ich überlege kurz, ob ich vielleicht auch ein Lauftraining für Models bei YouTube studieren und mir außerdem von meinem ersten Gehalt einen großen Wandspiegel zum Üben kaufen sollte.

Ich lasse den Gedanken verpuffen, weil wir keinen Platz für einen Wandspiegel haben und auch keinen, um Laufen zu üben.

Tatsache ist, dass diese Frau von einer atemberaubenden Aura umgeben ist und aussieht wie ein Supermodel. Die Männer müssen ihr zu Füßen liegen.

Sie entdeckt mich, lächelt mich an wie eine alte Freundin und während sie neben mir anhält, bekomme ich einen trockenen Mund, weil ich registriere, wie jung sie noch ist.

Sie ist bestimmt erst Anfang zwanzig.

»Hi, du siehst aus wie ich an meinem ersten Tag«, sagt sie mit einem flockenleichten bayrischen Akzent.

»Studierst du auch hier?« Toll. Ich hätte erst denken sollen und anschließend reden. Was soll sie hier denn sonst machen.

»Ich bin Luise, aber alle nennen mich einfach Lu und nein, ich studiere nicht. Ich arbeite und unterrichte im TREECSS«, sagt sie beiläufig und streckt mir ihre Hand entgegen. Ich bemerke ihre perfekten Fingernägel. Sie hat einen kräftigen Händedruck und eine warme, seidige Haut.

»Ich bin Aeia«, sage ich verlegen und kann den Blick nicht von ihren himmelblauen Augen nehmen.

»Aeia? Spreche ich das so richtig aus? Das klingt nicht deutsch, oder?«

»Nein, nicht wirklich. Meine Mutter kommt aus Guatemala. Sie ist eine echte Maya-Indianerin. Daher mein Name. Aber ich bin in Deutschland aufgewachsen.«

»Ich stamme aus Schliersee in Oberbayern«, gesteht sie.

»Das habe ich mir gedacht.«

Lu sieht mich interessiert an. »Was hast du dir gedacht?«

»Dass du aus Bayern kommst.«

»Das hört man, oder? Ich kann das einfach nicht ablegen«, sagt sie und lächelt.

»Ja, das hört man und ich finde es sehr sympathisch«, sage ich und meine es auch so ehrlich, wie es über meine Lippen kommt. Sie lächelt mich wieder an. Die Art, wie wir uns begegnen, ist für mich komplett neu. Ich scheine mich auf Anhieb mit ihr zu verstehen. Oder sie sich mit mir. Ungewöhnlich, aber es fühlt sich echt an.

»Ist heute tatsächlich dein erster Tag?«

»Ja.«

»Aeia, pass auf. Ich will nicht unhöflich sein, aber ich bin etwas in Eile. Wenn du Lust hast, dann treffen wir uns heute Mittag in der Mensa und ich stell dir ein paar meiner Freunde vor? Aber jetzt muss ich los, meine Mitarbeiter und Studenten warten schon auf mich und du solltest dich auch beeilen. Es wird nicht gern gesehen, wenn man zu spät kommt. Vor allem nicht am ersten Tag.« Das sehe ich genauso und ich nicke.

»Hast du deinen Arbeitsvertrag denn schon unterzeichnet?«

»Ja«, mit meinem Blut, will ich ergänzen, lasse es aber sein.

»Und auch eine Anfertigung ans Institut geschickt?«

Ich bestätige auch das.

»Mit welchem Finger hast du ihn besiegelt?«, will sie wissen und ich zeige ihr meinen rechten Daumen.

»Gut, drücke ihn hier drauf«, sagt sie und zeigt mir eine kleine unscheinbare Glasplatte auf dem linken der beiden riesigen Türflügel. Sie ist eingebettet in ein Ornament, das sich, bei näherem Betrachten, als abstrakter Schmetterling entpuppt.

Ich höre, wie sich schwere Riegel zur Seite schieben. Als der Letzte in seiner Endposition einrastet, vibrieren die Türflügel wie bei einem kleinen Erdbeben, um dann majestätisch auseinander zu schwingen.

Fast schon zwanghaft erinnere ich mich an die Tore von Moria aus Der Herr der Ringe Saga. Dort sagte Gandalf das Wort Mellon (Freund auf elbisch), damit sich die Tore öffneten. Hier wird ein Freund an seinem Fingerabdruck erkannt. Andere Welt. Andere Zeit. Wobei Fingerabdrücke, bei den Möglichkeiten der hochauflösenden Fotografie, doch gar nicht so sicher sind, weiß ich aus dem Fernsehen, aber schon schlüpfe ich hinter Luise ins Innere. Die mächtigen Türen schließen sich wie von Geisterhand, nachdem wir sie passiert haben.

Sie wendet sich mir zu. »Weißt du, wo du hin musst?«, fragt sie.

»Nein, nicht so genau«, gestehe ich. »Die Bewerbung und der Vertrag liefen ausschließlich schriftlich ab. Ich habe nicht einmal jemanden gesehen. Das Einzige, was ich weiß, ist die Adresse, das heutige Datum und die Uhrzeit.«

»Das ist alles, was wir brauchen. Und glaub mir, DIE, wie du sie nennst, haben dich schon gesehen. Vermutlich schon lange bevor du überhaupt wusstest, dass es DIE und das Institut überhaupt gibt. Nichts wird hier dem Zufall überlassen und schon gar nicht die Auswahl, wer dazu gehört und wer nicht. Komm, ich zeige dir, wie du zu deinem Professor findest.«

Wir stehen in einem Raum, der einen Halbkreis beschreibt. Hinter uns befinden sich die Eingangstüren und noch eine Glasplatte mit Schmetterling. Mein Fingerabdruck wird auch nötig sein, wenn ich das Institut wieder verlassen will. Vor uns befinden sich drei Fahrstuhltüren. Jede gleicht der anderen bis ins kleinste Detail. Luise führt mich zu einem Touchscreen, der vor den Fahrstühlen auf einem drehbaren Sockel montiert ist. Die Büste des Gründervaters des Instituts hätte hier auch gut hingepasst.

Mit ihrem Daumen (langsam gewöhne ich mich an dieses genetische Kennwort, welches alle Schlüssel, Chipkarten und Passwörter ersetzt) erweckt sie den Monitor zum Leben. Er ist riesig und dann erklingt eine Stimme: »Guten Morgen Dr. Kleist, es ist 8:23 Uhr. Sie sind heute spät dran.«

Doktor? Ich schrumpfe neben Lu, neben Dr. Luise Kleist, um mindestens zehn Zentimeter.

»Guten Morgen, Eve. Ich bin in Begleitung.« Dr. Luise Kleist schaut mich mit ihren blauen Augen an. »Aeia und wie noch?«

»Engel«, höre ich die unverwechselbare Stimme aus den Lautsprechern meinen Nachnamen sagen.

Dann sieht Dr. Kleist auf den Monitor und runzelt die Stirn.

»Seltsam, Eve kennt dich bereits. Ich bin überrascht. Warst du schon einmal bei TREECSS?«

»Nein.«

»Mhm, wirklich komisch. Engel also? Dein Nachname ist Engel?«

Ich nicke.

»Was für ein schöner und treffender Name«, sagt sie und wendet sich dann wieder dem Monitor zu. »Also Eve, hör mir zu. Würdest du bitte Aeia Engel an ihrem ersten Tag helfen, sich zurechtzufinden?«

»Selbstverständlich Dr. Kleist, ich stehe Frau Engel zu Diensten.«

»Danke Eve.«

»Das ist eine Selbstverständlichkeit. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Tag.«

Lu nickt. »Danke.« Dann schenkt sie mir ihr makellos weißes Lächeln und sagt: »Ihr Kommunikationsverhalten muss ich unbedingt verbessern. Sie ist noch etwas hüftsteif.«

Sie meint das Computerprogramm. Wow, hat sie das etwa programmiert?

»Eve ist eine KIF«, erklärt Dr. Luise Kleist weiter.

Ich nage auf meiner Unterlippe herum. Höre wieder damit auf, als es mir selbst auffällt. »Eine KIF?«, frage ich.

»Künstliche Intelligenz und das F steht einfach nur für Freiheit. Sie besitzt einen fünfzigprozentigen Freiheitsgrad für Emotionen und Lernfähigkeit. Die zweite Hälfte wird durch determinierte Programmcodes gesteuert, die vor allem ihr soziologisches Verhalten und ihre rationalen Entscheidungen kontrollieren.«

»Hört sich kompliziert an«, sage ich flugs.

Lu muss lachen. »Ja, irgendwie schon. Irgendwie aber auch nicht. Sie wird dir auf alle Fälle helfen. Wir sehen uns dann gegen 12:00 Uhr in der Mensa, Okay? Bin gespannt auf deine ersten Eindrücke, Aeia.«

»Okay«, sage ich langsam. Meine ersten Eindrücke sind bereits jetzt schon heftig. Aber Dr. Luise Kleist gegenüber werde ich mich wohl gewählter ausdrücken müssen.

»Ciao Aeia«, lächelt sie zum Abschied. Ich lächle auch, wenn auch bestimmt nicht so perfekt. Lu befiehlt mit ihrem Fingerabdruck einen Fahrstuhl herbei und dann ist sie auch schon in dem Gebäude abgetaucht. Ich gehe auf den riesigen Monitor zu und räuspere mich, bevor ich mich vorstelle.