Die Rose im Staub

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Die Rose im Staub
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Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Teil 1

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Teil 2

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Epilog

Über die Sprache der Wüste

Eine kurze Zuordnung der Stämme

Über die Schrift

Daegons Lied

Nachwort der Autorin

An das tapfere Leservolk!

Über die Autorin

Bisher von Sarah Skitschak bei der Edition Roter Drache erschienen

Sarah Skitschak

DIE ROSE IM STAUB

Über Götter, Wüstensand und Zerbrochenes

Edition Roter Drache

Copyright © 2021 by Edition Roter Drache

Edition Roter Drache, Holger Kliemannel, Am Hügel 7, 59872 Meschede

edition@roterdrache.org; www.roterdrache.org

Illustration: L. S. Reinwarth

Umschlaggestaltung: Sarah Skitschak

Lektorat: Sarah Bräunlich

Alle Rechte vorbehalten.

Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Form (auch auszugsweise) ohne die schriftliche Genehmigung des jeweiligen Autors reproduziert, vervielfältigt oder verbreitet werden.

ISBN 978-3-96426-060-4

Fyr mín rosa.

Khree fra khrest de mín fyr.

Hen saghul de daegon na kharar naar standa.

En saghul briste. En saghul speargh.

Ach en saghul de gariadh.

Für Dich, mein Herz.

Dies ist keine reinbuntgezeichnete Chronik von Liebe und keine Erzählung von Männern, die weise Entscheidungen treffen.

Diese Seiten wollen Dir nicht immer gefallen. Sie werden sich mit beladenen Worten in Deinen Händen bäumen und Dir eine Welt zeigen, deren Gedanken, deren Ansichten und Handlungen Dir womöglich fremd erscheinen.

Ihre Schilderungen werden Dir von schicksalhafter Bindung berichten – von Liebenden, die an Schicksal glauben – von Göttern und den Menschen, die sich den Hohen bei ihrem Leben verschreiben.

Diese Legende wird den Pfad durch die Seiten nicht ohne Blut pflastern.

Auch novellieren ihre Worte keinen Text, in dem stets das Gute obsiegt.

Kehre mit mir nach Gwerdhyll, doch sei Dir beim Lesen bitte gewiss:

Dieses Buch kennt keine Helden.

Es kennt Menschen und ihre Geschichten.


Prolog

Einige Wochen zuvor …

Nakhara

Land der Namenlosen

»Verschissene West-Bastarde! Höchstwahrscheinlich genießen unsere Nachbarn den seltenen Regenschauer, während wir uns im hohen Gras den Schädel von der Sonne verbrennen lassen!«

Die Flüche des jungen Reiterkriegers drangen dumpf durch die Grashalme, die sich mit ihren vertrockneten Pflanzenskeletten vor meinem Sichtfeld auftaten. Ich sah eine Wand aus wankenden Wüstengrasstielen und verfolgte die raschelnden Wedelbewegungen, während sich drei Männer hinter den Halmen im Staub verfluchten, stritten, beleidigten, boxten. Als Relikte einer Bewässerungsaktion der Städter schlangen sich die dürren Grasranken dann über meine Begleiter, bedeckten die Leiber zu großen Teilen mit Rispen und schienen insbesondere einen der Kumpane zu reizen: Den einen Krieger, den man zum Schutz der Wasserdiebe im hohen Gras zurückgelassen hatte.

Beinahe wäre mir wohl ein Lachen entwischt. Die Gräser schwankten vor meinen Augen unter Zittern und Rascheln zur Seite, als der fluchende Mann einen der Rispenköpfe mit den Fingern von seiner Wange schnippte und derweil mit den Füßen einen regelrechten Tanz in den Wedeln vollführte. Seine Ledersohlen rollten über den staubenden Boden, entwurzelten einen wehrlosen Strauch und kamen schließlich zum Stillstand, als sich weitere Halme in Richtung seines Kopfes zu neigen begannen.

Ein frustriertes Knurren beendete den Aufstand.

Letztlich erhob sich eine dünne Sandwolke zum Himmel und erzählte ihre ganz eigene Geschichte. Die Geschichte, wie eine Kriegerfaust auf den Steppenboden traf, um in Resignation ebenso viel zu bewirken, wie es vorangegangene Fluchtiraden vermochten.

»Deine sogenannten West-Bastarde haben uns eine bisher ungeahnte Gelegenheit beschert, indem sie ein Loch in die Stadtmauer sprengten. Wäre jemand so freundlich, Krusadh das Sabbelmaul mit Sand zu stopfen? Seine Beschwerden treiben mich heute zur Weißglut.«

Ich konnte mir ein Schmunzeln kaum mehr verkneifen, wie ich da so die Diskussion der Männer verfolgte. Als hätte man einen unmündigen Jungen zwischen erfahrenen Wasserdieben platziert und jegliche Erklärung der Verhaltensregeln vergessen. Vermutlich hatte sein Grasgerangel die anderen Soldaten mit Ellenbogen oder Knien bedacht, einen ungünstigen Hieb in deren Seiten platziert und die gute Laune auf ein Existenzminimum schrumpfen lassen.

»Noch eine Bewegung und ich stopfe sein Maul mit Stahl!«

Da wollte man sich beinahe glücklich schätzen, die letzte Position im Gras ergattert zu haben und Krusadhs Zornesaktionen nicht direkt am eigenen Leibe zu spüren. Ein wenig Verständnis war mir ja möglich: Während die anderen Krieger auf ihren Pferden in Richtung der Stadt geritten waren, sollte er seine Pflicht als Wächter erfüllen und mit uns, den Wasserdieben, im Staub der Steppe verharren. Ein ausgebildeter Kämpfer sollte sich im Trockengras vor den Feinden verstecken, als erfüllte er seine Berufung nicht mehr und taugte bloß noch als letzte Reserve.

Der junge Krieger fühlte sich gedemütigt.

Doch letzten Endes …

Er erfüllte auch in dieser Funktion die Pflicht seines Stammes. Überhaupt Teil eines Wasserdiebstahls sein zu dürfen und den heiligen Ritualen der Wässerung beizuwohnen, kam einer schmeichelnden Ehrung gleich. Krusadh schien in seiner heißblütigen Intelligenzallergie kein Verständnis für das große Ganze seines Volkes zu hegen, sodass ich die Äußerungen der Wasserdiebe durchaus mit Zustimmung bedachte … und wegen der mangelnden Selbstkontrolle Krusadhs nur mehr den Kopf schütteln wollte.

Welch grenzenlose Arroganz man im Herzen hegen musste, sich selbst über eine Ehre dieser Art zu beschweren? Welch bitterböses Gedankengut wohl in seinem schmalen Schädel ruhte?

Denn … obwohl sich sein Hass dem Wortlaut nach auf die sogenannten Westvölker bezog, schien seine Wut eindeutig dem verletzten Ego geschuldet.

Ich ließ meinen Blick von den wispernden Gräsern zum Himmel gleiten und suchte nach Anzeichen für einen Regenschauer, den Krusadh in seinen Flüchen den verfeindeten Stämmen zugesprochen hatte. Doch lag das Himmelsgewölbe als wolkenloses Band über dem Land der Namenlosen, entsandte seine sengende Hitze über die Steppe und ließ den Stern der Dürre allein in der Zenithöhe stehen.

Da war bloß die Sonne.

Kein Zeichen des Regens.

Keine einzige Wolke.

Wie eine weißglühende Gottheit thronte der Feuerball im klaren Blau und brannte sich ins Antlitz eines regenlosen Landes, das seit Wochen keinen Tropfen des Lebens gesehen hatte. Als hätte jene Gottheit die Welt mit beiden Händen ergriffen, die Finger fest um den Kern geschlungen und sämtliche Feuchtigkeit aus dem Planeten gepresst. Fürwahr, die Trockenheit beherrschte die Steppe bereits vor Anbeginn unserer Zeitrechnungen, sodass jegliches Versprechen auf Wasser – und sei es auch aus dem Lästermaul eines Kriegers – die Hoffnung im Herzen aufkeimen ließ.

 

Es blieb eine sterbende Hoffnung, die in den letzten Zügen eines ebenso sterbenden Landes öfter enttäuscht denn entflammt worden war. Im Land der Namenlosen existierte kaum Wasser. Unsere Welt war die Wüste. Unsere Pflicht galt den Göttern, die uns gerade eben am Leben erhielten.

Ich war im Staub jener Welt aufgewachsen und kannte kaum mehr als die trostlosen Weiten der Ebenen, die sich vegetationslos in alle Himmelsrichtungen erstreckten – ganz gleich, an welchem Ort man sich aufhalten mochte. Oft hatten meine Augen grünende Oasen in der hitzeflimmernden Luft entdeckt, um kurze Zeit später deren Nicht-Existenz festzustellen und in Träumen an derlei Plätze zu schwelgen. Meine Füße waren nie über Grün gegangen, hatten niemals zuvor glatten Erdboden betreten oder waren am Ufer eines Sees entlanggewatet.

All diese Dinge kannte ich aus Geschichten.

Aus Geschichten, die zu Legenden geworden waren.

In meiner Realität blieben Böden von Rissen durchzogen, als bröckelte die Haut des Landes von seinem Kern. Erde platzte unter den erbarmungslosen Strahlen der Sonne und ließ keinen Raum für das Wachsen von Wurzeln.

Während mein Volk jedoch im Staub der Lande siechte, da hatte sich eine gottlose Gesellschaft der Wüste enthoben und Städte auf der Asche der anderen errichtet. Sie vergaßen die Namen unserer Götter, benannten das Land meiner Väter nach den verschwundenen Geistern und erbauten ihren eigenen Glauben auf den Trümmern des alten.

Die Städter. Die Städter mit ihren neuen Namen und Bauten.

Sie hatten sich selbst die Macht über das Leben verliehen.

Ich ließ meinen Blick über das blaue Himmelsband wandern und richtete meine Augen auf den kuppelförmigen Bauwerkkomplex, der sich am Horizont aus dem Wüstenboden erhob. Die Stadt Gwerdhyll schien den sandwirbelnden Bodenwinden zu entsteigen und über das Leid der Dürre hinauszuwachsen, als wäre sie von den Göttern selbst zu Großem erkoren. Doch hatten nicht die alten Götter die Stadt der Legenden erschaffen. Sie blieb das Zeugnis menschlichen Hochmuts und schmückte sich mit künstlich bewässerten Bäumen.

Die Stadt der Legenden schien kaum selbst mehr als die Illusion einer heilen Welt, als Fata Morgana, die für eine Weile über die Realität hinwegzutäuschen vermochte und doch die Wahrheit nicht vom Land nehmen konnte. Menschengeformte Steinkonstruktionen schmiegten sich zu einem Stadtberg aneinander, formten das Heim eines ganzen Volkes und verkörperten die Distanz zwischen jenen Gottlosen und uns. Ihre künstlichen Anlagen bohrten sich in das Herz unserer Welt und förderten das Wasser in ihre Kanäle, während wir – während mein Reiterstamm, meine Familie, mein Volk – auf trockenem Sandboden hausen musste.

Aus ebendiesem Grunde waren wir verpflichtet, ihr Wasser zu stehlen: Die Städter nahmen sich das Blut unseres Landes, ohne einen Anspruch darauf zu besitzen. Sie nahmen sich, worüber sie nicht verfügten …

Und seither hatte es keinen Regen gegeben.

So blieb es unsere heilige Pflicht, durch die Festungsanlagen jener Städte zu dringen und Wasser aus ihren Brunnen zu nehmen. Mit gefüllten Beuteln beförderten wir das Wasser zu denjenigen, die unsere Götter noch beim Namen zu nennen vermochten, die das Wasser an die Wüste zurückgeben konnten und über ihre Gebete die Erde unseres Landes kurzfristig mit Regen speisten. Die Stammesältesten sämtlicher Reiterstämme entsandten Wasserdiebe in die befestigten Häuser der Städter, um mit dem erbeuteten Gut ihre Rituale zu Ehren der alten Götter zu führen.

Ganz recht. Wir waren nicht allein.

Selbst die Völker feindlichster Gesinnungen sahen ihre Pflicht in der Verteilung des Wassers. Ja, selbst die Westvölker hatten vor wenigen Tagen Tribut geleistet, ein Loch in die Mauer der Legendenstadt gesprengt und auf diese Weise Wasser aus den Brunnen entwendet. Wo wir über Wochen aufgrund veränderter Wachstrukturen ohne Erfolg geblieben waren, hatten sie einen neuen Weg in die Stadt geschaffen und uns Anreiz genug für den nächsten Wasserdiebstahl geliefert.

Und nun? Nun lagen wir in sicherer Entfernung zur Stadt.

Lagen im Gras, warteten auf das Ergebnis des Ablenkungsmanövers unserer Krieger und zerflossen beinahe in der Hitze des immerwährenden Sommers.

Doch wir hatten neuen Mut in der gebrochenen Stadtmauer gefunden. In Trümmern und Teilen schöpften wir neue Hoffnung. Die Hoffnung, nun endlich wieder zu den Stadtbrunnen vordringen und das Wasser für die Rituale stehlen zu können.

»Meine Herren! So sehr ich die Stämme des Westens verabscheuen mag und so sehr mich das weibische Gezanke erheitert … Ich stimme Wassermeister Jharrn in seiner Argumentation vollkommen zu. Womöglich sollten wir das Loch in der Stadtmauer als Geschenk des Schicksals ansehen«, warf ich nun selbst in die Diskussion der Männer ein, um den sinnlosen Tiraden ein Ende zu setzen. »Sollten die Krieger ihre Aufgabe erfüllen, können wir unbemerkt durch die Bruchstelle schlüpfen und uns unter die anderen mischen. Das erscheint mir wesentlich leichter, als falsche Papiere zu besorgen oder über Mauern zu steigen.«

Jedoch sollte ich meine Worte umgehend bereuen, als ich die folgende Handlung bereits im Entstehen erahnte. Anstatt wegen meines Einschreitens erleichtert zu sein, schnellte nun der geballte Zorn jener Männer in meine Richtung und entlud sich auf dem noch weniger beliebten Mitglied der Gruppe.

Auf mir. Ausgerechnet auf mir. Auf der Frau, die nie hätte Wasserdiebin werden dürfen, da die heilige Pflicht doch für gewöhnlich den Männern des Stammes vorbehalten blieb.

»Deine Meinung war nicht gefragt, Nakhara«, grunzte Jharrn, während er seinen Kopf drohend in meine Richtung wandte.

Ein Blick aus dem Augenwinkel. Eine stille Drohung, die in diesem Falle genügte.

So gern ich meinen Dolch in seiner Kehle platzieren und das selbstgefällige Lächeln aus seinem Gesicht schneiden wollte, so gern ich ihm aus Gewohnheit eine bissige Bemerkung gegen die Brust donnern wollte, ich hatte ja doch keine andere Wahl. Wollte ich weiterhin Wasserdiebin unter den gesegneten Mitgliedern des Stammes bleiben, so hatte ich den Worten des Wassermeisters während des Diebstahls Folge zu leisten … und der bevorzugte es zumeist, eine schweigende Frau in den Reihen zu wissen.

Das stechende Blassgrün seiner Augen bohrte sich förmlich durch meine Lederrüstung, schien den improvisierten Panzer von meinem Körper zu schälen und die Haut unter den schützenden Lagen zu versengen. Obwohl ich mit der Hitze unseres Hauptsterns seit Jahren gut Freund war, so konnte ich doch das Gefühl der unerträglichen Temperaturen unter den Blicken des Meisters nicht leugnen.

Jharrn fuhr sich mit seinen erdverkrusteten Fingern unter der Nase entlang, sodass sich die braunen Schnörkel seiner Körperbemalung in skurrile Formen dehnten und den Titel des Meisters beinahe bis zur Unleserlichkeit verformten. Mit gespitzten Lippen spuckte er auf den Boden.

Eine deutliche Geste, mich nicht an weitere Worte zu wagen.

Wider Willen senkte ich das Haupt zu einer Geste der Demut und konzentrierte mich auf die glitzernden Spuckefäden am Boden, die rasch mit der Wüstenerde zu verwachsen begannen. Der Sand schluckte das Nass in gierigen Zügen, sodass sich der benetzte Flächenabschnitt innerhalb kürzester Zeit in einen klebrigen Klumpen verwandelte und dunkel vom Rest des Bodens abgrenzte.

Jharrn hatte gesprochen.

Noch hatte ich mir unter den Wasserdieben keinen Respekt erworben, sodass ich mir in ebendiesen Momenten Widerworte hätte erlauben oder mich gar dem Meister widersetzen dürfen, ohne den kostbaren Posten an den nächstbesten Mann in der Reihe der Jungen zu geben. Mit den Fäusten krallte ich mich in die nahegelegenen Wüstengrasbüschel, zwang mich zu kontrollierten Atemzügen und hielt den aufsteigenden Zorn in Schach. Nein, Jharrns Respektlosigkeit sollte mich nicht meiner Stellung entheben, hatte ich doch jenen Platz unter den Herren mit all meinem Herzblut und Schweiß erstritten!

Einige Jahre mochten wohl über die Lande ziehen; Jahre, in denen ich unter Jharrn das Haupt senken musste. Dann würde eine neue Ära der Diebe anbrechen, eine Zeit, in der ich mir die Anerkennung der männlichen Wasserdiebe erwarb und das festgefahrene Gedankengut des Stammes durchbrach. Eine Zeit, in der Frauen nicht bloß dem Pfad der Jäger und Krieger folgen würden, sondern den Respekt der Götter beim Ritual des Wasserdiebstahls zu verdienen und sich darin allen engstirnigen Regularien zu widersetzen vermochten.

Immerzu hieß es: Das Weibliche wäre zu wertvoll, die Aufgabe viel zu gefährlich, der Diebstahl Sache der Männer.

Doch im Herzen wusste ich:

Ganz egal, was Jharrn sagt …

Ich bin gut genug. Und mein Glaube trägt mich durch jede Gefahr.

Mit halbgeschlossenen Lidern beobachtete ich das Aufklaren des Wüstensandes, als sich Jharrns Spucke unter der Sommerhitze mit der flimmernden Luft vereinte und jegliche Erinnerung an seine Gesten verwischte. In jenen Momenten glitt ein Windhauch wie ein tröstendes Versprechen über meinen Körper, spielte mit den widerspenstigen Strähnen, die sich aus meinem Zopf gelöst hatten, und flüsterte mir eine verheißungsvolle Zukunft ans Ohr.

Eine, in der Wind über grüne Grasebenen tanzte. Eine, die allein mir gehören sollte.

Mit der Fingerkuppe löste ich den Sand von einem der Steppengrassprösslinge und strich über die schwachen Blätter der Pflanze. Noch ahnte ich nicht, dass die kleinen Wedel nicht aufgrund meiner bloßen Berührung zu vibrieren begannen.

***

Ein ohrenbetäubendes Donnern erfüllte die Luft und versetzte den Boden unter unseren Körpern in Schwingung, als wir den Warnton aus dem Rufhorn der Reiterkrieger vernahmen. Zunächst blieben wir ohne Regung auf unseren Posten im Gras, spürten den Bewegungen des Erdbodens nach und verharrten in vollkommener Verwunderung, als hätte man uns an Ort und Stelle mit Blei festgekettet.

Mit den Augen verfolgte ich den Weg zweier Erdklumpen, die verdächtig von ihren windgeformten Miniaturdünen zu rollen begannen. Dann erkannte ich eine gewisse Vertrautheit in den Vibrationen des Bodens. Dumpfe Klänge in rhythmischen Takten. Roh. Wild. Mal sanfter. Mal härter.

Unverkennbar der Melodie einer Hetzjagd folgend und …

»PFERDE!«

Jharrn fasste die unheilverkündende Erkenntnis in Worte.

Ein Warnton aus dem Horn unserer Reiter wäre wohl kaum über die Steppe gefegt, hätte es sich bei den Pferden um unsere eigenen Reittiere gehalten, oder?

Im Schock des eigenen Gedankenguts erfroren, starrte ich auf die wankenden Grasbüschel vor meinen Augen und lauschte dem Geräusch der donnernden Hufe, die in halsbrecherischer Geschwindigkeit auf unser Versteck zuhielten. Wie ein tosender Sturm erschütterte die Hatz der Reiter das Land, fegte gewittergleich über das Steppengras und versetzte selbst die Sandschicht über den verhärteten Erddeckeln in Schwingung. Einen Moment war mir, als vermochte der fliehende Sand eine Melodie anzustimmen.

Die Dünen sangen das Lied der Wüste.

Mein Herz schien einige Schläge lang auszusetzen, bloß, um in den folgenden Sekunden Kapriolen zu schlagen und mich endlich aus meiner Schockstarre erwachen zu lassen.

»Grundgütige Epona, was …?!«, wollte ich fluchen.

Dann ließ mich die Vernunft meine Worte vergessen und Taten anstatt sinnloser Flüche folgen. Ich zog mich an einem der Wüstengrasbüschel auf alle viere, reckte meinen Kopf über den Rand der Rispen und sah, was sich am Rande der Stadtgebiete ereignet hatte. Wo unsere Reiter die Mauerwachen hätten ablenken und fort von der Bruchstelle locken sollen, da harrten noch immer die Städter mit eisern erscheinenden Körpern. Jedoch standen die Tore der Legendenstadt Gwerdhyll weit offen und entließen berittene Soldaten auf das Land der Namenlosen, sodass unsere Krieger – in der Unterzahl und mit den jungen Kriegersprösslingen im Schlepptau – nur mehr die Flucht zu ergreifen vermochten.

Sie flohen kopflos. Haltlos. Unbedacht.

In unsere Richtung hielten die Reiter … und nahmen ein gesamtes Verfolgerpack mit sich.

»Verdammte Scheiße!«, bellte nun auch der Wassermeister, der direkt vor mir aus den Grasbüscheln schoss und fassungslos die staubwirbelnde Reitergruppe mit Blicken der Ungläubigkeit verfolgte. »Mit welch einer Torheit sind diese Männer gestraft?! Mit welch einer Strafe bin ich heute gesegnet?«

 

In einer fließenden Bewegung beugte sich Jharrn zur Seite, reckte seine Hand zwischen die Rispen und griff nach dem Kragen des Reiterkriegers. Krusadh wurde einfach vom Boden gerissen und konnte in den Händen des kräftigeren Mannes kaum das Gleichgewicht finden, als dieser die Hand um seine Kehle zu schließen begann. Wohl wussten beide Männer, in welch einem Tempo die Reiter auf unsere Position zusteuerten … und wie wenig Zeit vor der unmittelbaren Katastrophe verblieb … Doch schien der Wassermeister bloß einen Gedanken zu hegen: Krusadh für den nahenden Tod büßen zu lassen.

Jharrn schüttelte sein nahezu wehrloses Opfer mit beiden Händen, sodass sich die schwarzen Strähnen seiner Haare mit dem Schweiß in seinen Zügen verklebten und das Gesicht des Wassermeisters in eine teuflische Fratze verwandelten.

»Welche Anweisung haben die Männer?!«, brüllte Jharrn dem jungen Krieger entgegen.

Seine zierliche Nase kam dem kantigen Kriegergesicht viel zu nahe, als Krusadh mit den Händen nach den Armen des Meisters griff und seinen Kopf mit aller Wucht nach vorn schleuderte. Die breite Stirn traf die wesentlich schwächere Nasenpartie, als wäre ein Meteorit auf den trockenen Boden geschlagen.

Schon taumelte der Meister ein paar Schritte zurück.

Mit einem erschreckenden Male schien sein Blick in weite Ferne gerückt und richtete sich unter Irritation auf einen horizontnahen Punkt, als er das Blut unter seinen Nasenflügeln mit den nackten Unterarmen verwischte. Die Pupillen weiteten sich in ihren steppengrasgrünen Betten auf unnatürliche Größe, zuckten noch im Trauma des Schädelstoßes umher und versuchten vergeblich, sich auf die Distanz der nahenden Reitersilhouetten einzustellen. Es musste wohl in ebendiesen Momenten, in ebendiesen wenigen Herzschlagmomenten geschehen, da sich gerade noch der dritte Wasserdieb aus seiner Schockstarre in den Gräsern erhob – bloß, um von der Brust eines galoppierenden Pferdes erfasst und unter die Hufe geschleudert zu werden.

Wieder fand ich mich in einem Moment der Reglosigkeit.

Ich hörte den Schädel des Wasserdiebs knacken, als der Eisenbeschlag des Tieres durch den Knochen drang und das Gesicht in eine verzerrte Schreckensversion des einst bekannten Mannes verwandelte. Ich hörte den Schrei des stürzenden Stadtpferdes, das über den offenen Körper des Wasserdiebs rutschte und sich samt Reiter auf dem harten Erdboden überschlug. Das Knacken von Knochen, das Bersten von Rüstungsteilen, das Klirren von eisernen Waffen auf trockenem Grund. Erstickende Schreie eines Städters unter dem toten Leib seines Tieres. Das Gurgeln eines sterbenden Mannes mit durchstoßenem Brustkorb.

Blutregen spritzte aus seiner Kehle über den Sand, als handelte es sich dabei um sanfte Sommerergüsse am Rande einer Schlechtwetterfront. Dunkelrote Sprenkel benetzten den verdrehten Leib des gestürzten Pferdes, rannen über das schwarze Fell jenes Rappen und sammelten sich zu einer versickernden Lache.

Wie in Trance drehte ich mich um die eigene Achse und verfolgte die erste Welle der berittenen Städter, die bei unserem Anblick in Überraschung die Schwerter zückten, die mit ihren Schilden und Lanzen weiter auf uns zudonnerten und einem anderen Teil der Gruppe die Verfolgung unserer Reiter überließen. Aus den Mündern der Männer stieg ein bedrohlicher Chor gebrüllter Befehle, der die Pferde in Panik voranstürmen ließ, der mit den Galoppsprüngen lauter und lauter wurde, der sich sekündlich steigerte und zu einem ohrenbetäubenden Dröhnen anschwoll. Weißer Schaum stob aus den Mäulern der Tiere, bedeckte die schwitzenden Muskeln mit Speichel und flog durch die flirrende Wüstenluft.

Schneller und schneller wurde die Hatz.

Ich wandte mich um. Plötzlich in Panik. Mein Blick traf auf den des Wassermeisters, der endlich wieder zu klaren Gedanken kam und indessen sein Krummschwert aus der Halterung löste. Seine Füße stellten sich in Kampfposition, während seine Hände die gebogene Klinge vor den Körper führten und dem Sturm der Städter zu trotzen gedachten.

»Nakhara …«, schienen seine Lippen in sanftem Tonfall zu formen, doch Jharrns Blick blieb in eiserner Härte versteinert. »Lauf! Lauf, so schnell dich die Füße nur tragen! Lauf nach Hause!«

In diesen Sekunden blieben Demütigungsgefühle gleichgültig.

Ich zog meinen Dolch und stürzte davon.

Mit zitternden Gliedern rannte ich über die sandüberwehten Flächen der stadtnahen Steppe, schlug mich durch die hüfthohen Steppengräser in die Flucht vor den Soldaten Gwerdhylls und wagte keinen Blick mehr über die Schulter zurück. In meinen Ohren verhallten die klirrenden Laute der aufeinanderprallenden Klingen und mischten sich mit dem Geräusch meines eigenen Herzschlags, der in den rasenden Rhythmen meines Laufs bis in die Halsschlagader spürbar blieb. Der rudernde Kreislauf jagte Schwindelgefühle durch meinen Körper, als bewegte ich mich nicht mehr aus eigenen Kräften voran, als flöge ich durch die Steppengräser und würde von unsichtbaren Mächten getragen.

Das Gefühl für meine Extremitäten ertaubte.

Lediglich die harten Schläge der aufkommenden Sohlen auf heißem Sand … lediglich jene Erschütterungen schien mein Verstand noch eben erfassen zu können.

Vor meinen Augen vibrierte das Sichtfeld und verformte die Weiten der Wüste zu einem schwankenden Gebilde ohne Himmel und Erde. Farben zerflossen in ihren ureigenen Formen, wirbelten wie Sturmaugen durch die fliehenden Sandpartikel und täuschten meine Sinne, bis keine Orientierung mehr für mich blieb. Mein innerer Kompass zerschellte an den Felsen der Panik.

Schon verloren meine Füße den Halt auf den versandeten Flächen, schlidderten unkontrolliert über einen Dünenhang und verkanteten sich mit ledernen Fesseln ineinander, sodass mein Körper auf den Boden geworfen wurde. Ich reckte meine Hände vor das Gesicht, um meine Augen vor den Sandpartikeln zu schützen und den Städtern nicht gänzlich ohne Wehr ausgeliefert zu werden.

Dann fühlte ich, wie sich mein Leib überschlug … wie sich die dicken Lederfetzen meines Schutzpanzers zwischen die Rippen bohrten und die Luft aus meinen Lungen pressten, wie die Arme aus ihrer Position gerissen wurden und ohne Funktion im Fall ruderten, wie ich auf harte Steinbrocken geworfen wurde, wie sich meine Welt im Nichts der Ohnmacht auflösen wollte.

Ich landete hart auf dem Bauch, ohne mich weiter rühren zu können.

Das Donnern der Pferdehufe rückte näher und ich wollte schreien, wollte brüllen, wollte kämpfen, aufstehen, mich wehren … Mein eigener Körper versagte den Dienst, sodass ich reglos auf dem heißen Sand liegenblieb.

»Steh auf, Wasserdiebin! Steh auf!«, brüllte Krusadhs Stimme von Nahem.

Meine Lungen blähten sich bei den Atemversuchen und füllten sich brennend mit Wüstensand. Mit einem Male spürte ich starke Hände im Nacken, als der junge Reiterkrieger meinen Körper zu fassen bekam und panisch mit sich zu schleifen begann.

»Lauf! Lauf, lauf, lauf!«

Ich verlor mich im Farbengewirr der Wüste, die sich allmählich zu Sanddünen ohne Untergrund formte und tiefe Furchen unter meinen nahezu leblosen Beinen bildete. Meine Füße paddelten kraftlos über die Fläche, während Krusadh seinen Zug an meinem Nacken verstärkte und mich in den Stand zu ziehen versuchte. Schmerz durchzuckte mein Nervensystem.

Unter den pulsierenden Empfindungen meines Körpers fühlte ich mich wie gelähmt.

Noch niemals zuvor hatte ich solch einen starken Schmerz empfunden, niemals zuvor so wehrlos in den Armen eines Stammesmitgliedes gelegen und mich selbst nicht der Situation zu erwehren vermocht. Meine Lungen schienen sich mit purem Feuer zu füllen, als hätte man die Wüstenluft in Brand gesetzt, als hätte die Sonne nun sämtliche Energie in das blaue Band über unseren Köpfen geleitet und eine vernichtende Flammenwand entfacht.

Ich versuchte, die Hand an meinen Brustkorb zu legen.

Die Knochen darunter schienen der Berührung zu weichen … einfach nachzugeben … als wären sie nicht existent.

»Ich glaube, meine Rippen sind gebrochen, Krusadh!«, artikulierte ich mit pfeifender Lunge und geriet im Schock der Erkenntnis in vollkommene Apathie. »Ich kann die Knochen …«

»Halt dein Maul, verfluchtes Weibsbild, und lauf!«

Die Hand des Kriegers versetzte mir einen letzten Stoß, sodass ich einige Meter über den Sand stolperte und erneut über eine der Dünen rutschte. Ich stürzte hart auf die betroffene Seite, schlidderte kurz und krümmte mich dann zusammen. Ein unerträgliches Gefühl explodierte in meiner Brust, als wollte es die Bedeutung des Wortes Schmerz für alle Zeit von den Landen tilgen. Als der Atemreflex meine Lungen von innen gegen die Knochen blähte, da reagierte mein Körper gänzlich ohne mein Zutun.

Ich übergab mich.

Mein Magen schien sich mehrfach um die eigene Achse zu drehen, um einen Schwall säurehaltiger Flüssigkeit durch meine Kehle zu zwängen und schließlich auf den Wüstenboden zu entlassen. Zwar spürte ich die körpereigenen Prozesse, doch war mir, als sähe ich von außen auf die würgende Wasserdiebin hernieder … als beobachtete ich ihre letzten Momente.

Ich ahnte: Krusadh hatte mich nicht absichtlich in den Sand gestoßen … Trotz seines Verhaltens – ein solches Unrecht hätte er nicht begangen.

Als ich meinen Kopf zu den Verfolgern wandte, da sah ich seinen lanzendurchschlagenen Körper im Staub und verfolgte mit Schrecken …

… wie sich nun eine Walze der Stadtreiter ihren Weg über die Leiche des Kriegers bahnte.

***

»Nakhara! Nakhara, hörst du mich?«

Jharrns Stimme durchbrach die Schwärze der Bewusstlosigkeit, doch hallte ihr Echo in weiter Ferne. Ein Kribbeln durchlief meine Extremitäten, schwappte in Wellen durch meinen Organismus und drohte, mich in das süße Vergessen des Schlafs zu wiegen. Hitze brannte auf meiner Haut und jagte Schweißperlen über meine Stirn, wo sich die salzige Flüssigkeit mit geronnenen Blutkrusten vereinte. Der Gestank des Todes umwaberte mein Bewusstsein.