Die Rose im Staub

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Da stand sie. Allein. Vor der Markierung. Zögerte.

Durch die Menge in ihrem Rücken ging ein erleichtertes Raunen …

… doch durch mein Herz ging ein unerwarteter Dolchstoß, der mich meine Wahl aufs Tiefste bereuen ließ.

Noch während die verhüllte Gestalt wie eine Marmorstatuette auf der Stelle verharrte, vermutete ich bereits mit Furcht im Gemüt, dass ich dieses eine Mal die falsche Wahl getroffen haben sollte.

»Komm nach vorn«, presste ich meinen Befehl hervor.

Und obgleich ich beinahe auf ihre Weigerung hoffte und sie vor meinen inneren Augen auf der Flucht vor den anderen Soldaten sah, obgleich ich hoffte, sie würde sich umdrehen und durch die Menge in Richtung der Stadttore stürzen, obgleich ich im Stillen an ihre Vernunft appellierte … raffte die Gestalt ihren Sonnenmantel und überbrückte die Distanz bis zum Wachposten ganz ohne Zögern. Die vermeintliche Händlerin nahm den Wasserbeutel in ihre Linke, ließ die Rechte heimlich in Richtung des Gürtels verschwinden und hob den Blick, als sie meine Position erreichte.

Kaum ein halber Meter trennte uns mehr.

Durch die Bewegung ihres Kopfes schälte das Sonnenlicht ihre Miene aus dem Schatten der Kutte und enthüllte die atemberaubendsten Augen, die mir in meinem Leben jemals hätten begegnen sollen. Strahlendes Stahlblau reflektierte den Schein ihrer Blicke, verwandelte die Tiefen ihrer Iris in Teiche von Silber und raubte mir im bloßen Anblick den Atem. Die sonnengebräunte Haut schmiegte sich in satten Farbverläufen unter die Brauen und wartete auf den glänzenden Wangen mit weißer Stammesbemalung auf. Das Haar – dunkelbraun, etwas strohig, doch zu einem üppigen Zopf zusammengebunden und seitlich über die Schulter gelegt.

Ich wusste umgehend, dass es sich um eine Wilde aus dem Land der Namenlosen handelte.

Dennoch versagte mein Geist jegliche Reaktion.

Mir blieb nur, die katzenhaften Züge der Frau mit meinen Blicken Stück für Stück zu umschweifen und jede Sekunde des Anblicks mit meinen Erinnerungen aufzusaugen, um das gottgleiche Bildnis niemals mehr vergessen zu müssen. Hatte ich stets an die Nicht-Existenz von Göttern geglaubt, so sah ich mich nun der lebenden Lügenstrafe der Gedanken gegenüber. Eine solch anmutige Wildheit in ihrer Miene, die unübertreffliche Perfektion in den Proportionen, die Augen, die jegliche Seele durchdrangen … Jegliches Detail ihres Körpers schien von überirdischen Gegebenheiten gesegnet worden zu sein, als hätte sich tatsächlich ein Gott das Abbild dieser Frau ersonnen.

Ich mochte meinen eigenen Augen nicht glauben.

Es war, als erweckte ihr Anblick binnen Sekunden Altes in mir, als hätte ich sie schon einmal in Träumen oder Gedanken gesehen und wäre darin dem Schöpfungsfunken begegnet – ohne ein Verständnis dessen ergreifen zu können.

»Den … den Pass«, stammelte ich mit geweiteten Augen, obwohl ich um die Lächerlichkeit meiner eigenen Aufforderung wusste.

Mein Gegenüber schien nicht einmal zu blinzeln. Die Namenlose reckte mir den Wasserschlauch entgegen und enthüllte indessen weitere Stammesbemalungen an ihren Fingern, sodass ich in einer Impulsreaktion näher an sie herantrat und die weiße Farbe vor den Augen der umstehenden Städter verbarg. Ihre Hand wurde an meinen Brustpanzer gedrückt, zuckte in der Berührung rasch nach hinten und ließ den Wasserschlauch in den Spalt zwischen unseren Körpern fallen.

Es waren Sekunden, in denen mir das Denken unmöglich erschien.

Mit einem uneleganten Platschen kam der Fellbeutel auf dem Pflasterstein auf.

Dann wusste ich nichts mehr. Absolut nichts mehr.

In jeder anderen Situation wäre wahrscheinlich eine Gedankenwalze über mich gekommen und hätte mich mit Zweifeln niedergedrückt, hätte mich an meine Befehle erinnert und daran, dass man mir gebot, die Wilde zu töten. In jeder anderen Situation wäre meine Hand zum Griff des Schwertes geschnellt, bloß, um dort zögernd innezuhalten und meine größte Angst vor aller Welt offen preiszugeben.

Doch nun. Nichts.

Rein gar nichts.

Während mich die stahlblauen Blicke der Frau durchbohrten und kaum einen Gedanken hinter der Fassade erkennen ließen, beugte ich mich zu ihrem Wasserschlauch und las ihn von den Pflastersteinen. Über die Handlung kam ich der Wilden noch näher und gab mich, als hielte ich neben dem Schlauch auch einen Wasserpass in den Händen. Mit einem Male waren wir uns derart nahe, dass ich den Duft der Weiten an ihr wahrzunehmen vermochte, dass ich sogar die einzelnen Noten von Kräutern, von schwitzenden Pferden und getrockneten Wüstenrosen in mir aufnehmen konnte. Durch die fehlende Distanz waren Einblicke von außen kaum möglich.

»Zwei Kellen«, las ich den nicht vorhandenen Pass, als steuerte eine fremde Macht meine Lippen. »Signatur des Senators Rhodon. Siegel. Stempel. Alles in Ordnung.«

Die Augen der Frau weiteten sich auf die Größe von Wagenrädern, als sie die laut verlesenen Worte vernahm und die Intention des Theaters bei sich verstand. Sie schien den Mund zu einer Antwort zu öffnen, löste die Hand von ihrem Waffengürtel und schloss letztlich die Lippen, ohne je eine Erwiderung gegeben zu haben.

Ich blinzelte.

Sie nickte.

Dann nahm sie weiterhin wortlos den Wasserschlauch entgegen und stahl sich an mir vorbei in Richtung des Brunnens. Als mein Blick abermals durch die Massen auf dem Marktplatz ging … entdeckte ich drei weitere Männer in Kutten. Drei Männer, die das Spektakel sehr genau verfolgten.

Ein echter Hüne.

Zwei kleinere neben ihm.

Auch Wasserdiebe, dachte ich noch.

Und gleich darauf …

Schockschwerenot, was habe ich gerade getan?


Kapitel 4

Nakhara

Land der Namenlosen

Die Nachmittagssonne entsandte ihre flirrende Hitze über die Dünen und verwandelte die Hänge am Horizont in schunkelnde Sandgiganten, deren Abbilder sich im Takt der Wärmewellen bewegten. Wie Kinder der Weite jagten sich die Sandwirbel über das Blau des Firmaments, lösten den oberen Schopf der Steppenberge und trugen die Dünenkronen sanft mit dem Wind. Mit wilden Pinselbewegungen zeichnete die Luftströmung Silhouetten von Staubfiguren in die Höhe und verwarf sie mit einem einzigen Atemzug wieder. Die Böen verwehten die tanzenden Wirbel in Schweigen. Eine allumfassende Stille schien sich über den Ort zwischen den Wüstenwogen zu legen. Als wollten selbst die singenden Sandwesen über meinen Aufenthaltsort schweigen – als wollten sie das Geheimnis meiner Oase bewahren und sich keinerlei Lieder über den Platz ersinnen, den ich seit frühester Jugend zu meinem Eigen erkoren hatte.

Zum wievielten Male mich jene Dünen wohl sahen?

Ob sie mich so manches Mal ebenfalls schmerzlich vermissten?

In Kindertagen war mir die Steppensenke zwischen den Versandungen des Ostens immer ein Anlaufpunkt gewesen, hatte mich selbst über den Tod meiner Eltern in tröstender Sicherheit gewogen und mir stets eine Heimat jenseits des Nomadenlagers geboten. Obgleich die Dünen selbst als Nomadenvolk fortdauerten und wie mein Stamm über die Jahre weiterwanderten, so war mir bei der Rückkehr an ebendieses Fleckchen stets ein Platz unter dem großen Felsen zu meiner Rechten geblieben.

Da sollte man meinen, einem Kind der Wüste seien keine Lieblingsorte vergönnt, pah!

So saß ich nun.

Ich saß auf den Knien; die Hände in der höheren Sandschicht begraben.

Saß wortlos dort, lauschte den Winden und genoss es, den festeren Grund unter den losen Schichten zu fühlen.

Das rote Gestein zu meiner Seite trotzte wie jeher den Partikeln der Weite, warf seinen kühlenden Schatten auf meinen Körper und bewahrte mich vor den erbarmungslosen Fängen der Sonne. Wie ein schützendes Dach schwebte der größte Felsbrocken über mir und klammerte sich doch untrennbar an die Säule des Muttersteins, als könnte ihn kein Sandsturm der Jahrtausende jemals aus seiner Position lösen. Beinahe wollte ich an göttliche Fügung glauben, dass mir ein nahezu geheimer Hort wie ebendieser zuteil geworden war.

Für mich blieb es mehr als ein Versprechen auf echten Schatten.

Es war mein Reich. Mein Ort. Mein ganz eigenes Stück Steppe.

Allein die Präsenz dieses Ortes ließ mich zur Ruhe kommen, schlang sich wie eine behütende Decke um meinen Körper und beruhigte meinen Herzschlag auf ein erträgliches Maß. Nach den Ereignissen des Wasserdiebstahls in Gwerdhyll hatte ich nicht mehr daran geglaubt, der Muskel würde je wieder einen normalen Rhythmus einschlagen können … oder zumindest ein anderes Tempo als den Jagdgalopp kennen. Zwar verfolgte mich das Trauma des Unfalls nicht mehr, doch blieb die vermeintliche Erlösung von den Gedankenbildern bloß ein Teil der Verdrängung. Eine Verdrängung durch andere Erlebnisse, die meinen Geist erschüttert hatten.

Dieser Mann …

Der Soldat aus Gwerdhyll.

Das Bildnis eines Städtersoldaten bohrte sich förmlich in meinen Schädel, ließ jegliches Unfallgeschehen auf das Maß einer Nichtigkeit schrumpfen und nahm den Hauptteil meiner Gedankenwelt ein.

Er hat mich nicht getötet.

Er …

Das Antlitz des Kriegers eroberte wahrlich meine gesamte Aufmerksamkeitsspanne und war nur schwerlich aus meiner Vorstellung zu tilgen, als hätte sich der Mann mit seiner unerwarteten Handlung in meinen Fantasien festgefressen. Ja, als hätte seine gänzlich unangemeldete Gnade meine Welt in ihren ureigenen Grundfesten erschüttert und mein Bild von Städtern wie Soldaten infrage gestellt, sah ich doch für gewöhnlich die Völkermörder hinter den Mauern in ihnen. Noch immer fiel es mir schwer zu glauben, was auf dem Marktplatz von Gwerdhyll geschah.

 

Ich war als Wasserdiebin in die Stadt gekommen. Den Schlauch in der Hand. Die Kumpane im Nacken. Jharrn und die anderen am Rande des Platzes.

Der Wassermeister hatte mich auf meinen ausdrücklichen Wunsch den heiligen Akt des Diebstahls durchführen lassen, sodass ich mit Mut im Herzen an den Brunnen herantrat … bloß, um sogleich von besagtem Städtersoldaten nach meinem Wasserpass gefragt zu werden. Zunächst war ich den Impulsen der Panik erlegen und hatte die Hand an den Dolch gelegt, mich letztlich jedoch mit dem Tod gut Freund gestellt, um die anderen Wasserdiebe vor den Soldaten zu schützen und meine Familie nicht durch mein Verhalten in Gefahr zu bringen.

Es musste wohl ebendieser Moment gewesen sein. Der Herzschlag. Die Panik. Der Mut, der sie brach.

Es musste wohl ebendieser Moment gewesen sein, da das Trauma des Unfalls seine Krallen aus meiner Gedankenwelt riss und auf ewig in den Gassen der Wüstenstadt entschwand. Der Moment, da die Albtraumfänge verblassten.

Während ich dann aus freien Stücken dem Tod in die Arme gegangen war, ja, meine Furcht vor den Ereignissen ein für alle Male aus meinen Schreckensvorstellungen tilgte, hatten sich die Götter bereits einen anderen Spielplan für mich überlegt und um meinen weiteren Weg gewürfelt. Tatsächlich wollte es wie ein bloßes Würfelspiel mit dem Zufall anmuten, wie sich die Szenerie von diesem Augenblick an entwickelte und ohne mein Zutun ins Gegenteil kehrte, wie sich das Schicksal über meine Entscheidung erhaben zeigte. Statt umgehend durch das Schwert eines Wasserwächters zu sterben, sollte ich von den Göttern begnadigt werden und mein Wasser ohne weitere Konsequenzen aus dem Zentralbrunnen schöpfen dürfen.

Jharrn hatte gewitzelt, der Soldat habe sich seinem Geist gegenübergesehen. Die anderen hatten gewitzelt, mein Gesicht wäre wohl Abschreckung genug.

Und schon ritt man ins Lager des Stammes zurück, um der Ältesten die Ausbeute zu übergeben, das wasserspendende Ritual mit den anderen Stammesmitgliedern vorzubereiten, den Triumph dieses Wasserdiebstahls gebührend zu feiern. All diese Dinge schienen wie bloße Ereignisketten hintereinander abzulaufen, schienen sich förmlich in ihrer Geschwindigkeit zu überschlagen, und drohten, mich mit all ihren Eindrücken zu überwältigen.

Kein Wunder daher, dass ich vorübergehend aus dem Dorf geflüchtet war.

Noch immer blickte ich auf die blauen Kaskaden des Himmelsbands, als wäre irgendwo zwischen Blassblau und Cyan, den wehenden weißen Sanden und Dünenkronen, ein Sinn hinter all diesen Dingen verborgen. Als wären all jene Abfolgen aus einem Grunde geschehen und in tröstlicher Gewissheit einer Planung erfolgt, die dem guten Zweck unserer Götter dienten, die eben nicht dem Zufall geschuldet waren und mich in den Weiten des Kosmos verloren glauben ließen. Als wäre ich nie in echter Gefahr gewesen, weil die Götter einen anderen Weg für mich verfügten.

Meine Blicke strichen über die Sandwehen der Dünenspitzen und verfolgten die fliehenden Körner, als könnte ich mich für einen Moment aus den Fesseln des Körperlichen lösen und mit ihnen über das klare Himmelsband tanzen.

Nach Gwerdhyll. Der Stadt, in der mein Schicksal eine Kurve geschlagen hatte.

Vor der blauen Leinwand manifestierte es sich erneut: das Antlitz des Soldaten, der mein Leben in andere Bahnen lenkte.

Ich wollte ihn hassen; wollte ihn wahrlich hassen und bald schon vergessen wie die anderen Städter, doch …

Ich sah sein breitgeformtes Gesicht direkt vor Augen, sah selbst die Form seiner buschigen Brauen, die geschwungene Form seines Stirnansatzes und die kurzen Locken auf seinem Haupt, deren Farbe ich wohl kaum auf andere Weise als durch das Wort straßenköterblond zu bezeichnen glaubte. Ja, ich sah selbst das Grün seiner durchdringenden Iris, das im Gegensatz zu Jharrns stachelgrünem Blick wie die sanfte Färbung einer Graspflanze anmuten wollte, das mich bis in die Tiefen meiner Seele durchdrang und mich mit seinem Versprechen auf Leben beinahe in ein Gefühl des Geborgenseins hüllte. Alle Einzelheiten der Soldatenzüge zeichneten sich auf den blauen Grund, machten mich selbst seine kurzen Bartstoppeln und die hauchzarten Schnittnarben auf den Wangen erkennen.

Es war, als stünde der Mann unmittelbar vor mir.

Als projizierte sich sein Antlitz direkt in den Himmel.

Obwohl ich mir jegliche Erinnerung an das Gesicht des Mannes verbot und mir die Reaktion meines Körpers bei mir höchstselbst nicht zu erklären vermochte, so durchströmte doch ein unleugbares Gefühl für Fügung meinen Aderkreislauf. Wie warmer Honig sickerte das befremdliche Empfinden durch meine Nervenbahnen, ummantelte meinen Geist mit einer augenscheinlichen Bestimmtheit und jagte mir indessen kalte Schauer über den Rücken. Die Augen des Städters schienen sich in meine Seele zu brennen, mich an eine bekannte Person erinnern zu wollen, die ich in Erinnerungen jedoch nicht mehr greifen konnte.

Vergangenes. Verwaschenes. Verweht wie die Dünen.

Ein Gefühl für Hitze und Kälte zugleich, als wären in diesen Sekunden auf dem Marktplatz von Gwerdhyll … als wären zwei Welten kollidiert, die sich niemals hätten begegnen dürfen … die sich unweigerlich begegnet waren, auf dass sie sich nicht ohne Weiteres voneinander zu lösen vermochten.

Soll es wirklich derart schicksalsgebunden gewesen sein oder folge ich einer Sinnestäuschung?

Sag mir, Städter jenseits der Mauern, weshalb kann ich dein Gesicht nicht vergessen?

Erinnerst du dich an mich oder wird mein Bild dir entgleiten?

Bin ich bloß eine Wilde?

Weshalb hast du mich dann nicht getötet?

Ich nahm einen tiefen Atemzug in die beklemmende Stille, die jegliche Vertrautheit aus der Farbe meines Lieblingsortes gewaschen und die Atmosphäre meiner Sandoase gewandelt hatte. Dann schüttelte ich entschieden den Kopf, straffte meine Schultern nach hinten, nahm einen weiteren Atemzug und machte mich glauben, ich könnte auch dieses Erlebnis eines Tages vergessen.

Schließlich handelte es sich um einen wertlosen Städter. Der Feind hinter den Mauern. Das ureigene Übel.

Nein, dir stehen meine Gedanken nicht zu!

Mit der Hand angelte ich nach einer ledernen Tasche.

Der schlauchförmige Beutel aus Ziegenfellen und Rinderhaut lag mittlerweile von Sand überzogen im Staub, verwuchs allmählich mit den Farben der Wüste und wäre bald gänzlich mit der Steppe verschmolzen, hätte ich ihn nicht in meiner Kurzschlussreaktion aus seiner misslichen Lage befreit. So klopfte ich mit energischen Bewegungen die feinen Partikel aus dem Ziegenfell und platzierte das gute Stück erst danach auf dem Schoß, um meine Finger ins Innere der Tasche gleiten zu lassen.

Es dauerte nicht lange, ehe ich das Objekt der Begierde zu fassen bekam.

Meine Fingerkuppen ertasteten den rauen Stamm einer Pflanze. Die zierlichen Knospen. Die Wurzelknolle.

»Na also.«

Ich schloss meinen Griff um die sich verjüngende Stelle des Holzteils und befreite die Wüstenrose aus dem Schatten des Beutels. Kaum war die Pflanze aus dem Dunkel geglitten, da entwich mir auch schon ein behaglicher Seufzer, wie ich da so auf meinen Schützling blickte und das kostbare Gut in den Händen wog. Bald schon würden Blüten in Farben von zartrosa bis rot aus den Knospen brechen, den Stamm in eine Krone aus Blumen hüllen … und meinem Lieblingsplatz eine neue Maske verleihen.

An diesem Ort wollte ich meinen Schützling pflanzen. Ich wollte wieder eine Wüstenrose pflanzen, wie ich es mir seit jeher zur Aufgabe machte.

Denn – ungeachtet meiner Geschichte, ungeachtet der Kommentare meines Stammes, ungeachtet all der düster darbenden Dinge der Welt, ungeachtet des Schicksals, ungeachtet der Götter – da hegte ich einen utopischen Traum im Herzen.

Den Traum, meine Wüste würde eines Tages im Meer zahlreicher Wüstenrosen erblühen und sich über den Staub ihrer Vergangenheit erhaben erweisen.

In einer vorsichtigen Geste strich ich über die Blätter der Rose, führte sie unter meine Nase und kostete den Duft des puren Grüns jenes Wunders. Wohl wusste ich um die zahlreichen Strapazen, die hinter dem kleinen Sprössling lagen und ihn so manches Mal an den Rand des Todes getrieben hatten, die mich um die bloße Existenz des Grüns hatten bangen und mich mit allen Mitteln für das Pflänzchen hatten kämpfen lassen. Wohl wusste ich um die Mühen hinter dem Grün, die es nun einmal kostete, wollte man den Setzling mit wenigen Wasserresten von Ritualen und Pferdemist am Leben erhalten.

Doch die Rose hatte selbst den dürrsten Perioden getrotzt.

Sie hatte überlebt. Meine Rose war bereit, in die Steppe entlassen zu werden und auf den Regen des nächsten Rituals zu harren.

Ich bedachte die größte der Knospen mit einem Kuss und setzte die Rose auf den versandeten Boden. Dann befreite ich eine Harke aus meinem Gürtel, schob die oberen Sandschichten beiseite und machte mich daran, ein Loch in die härteren Erdschichten unter den Verwehungen zu graben. Der trockene Boden platzte, bröckelte, sprang wie die trockenen Lippen des Landes, doch grub sich das Werkzeug Schicht für Schicht in die Tiefe und schuf ein Bett für die Rose im Staub.

»Du wirst nicht lange auf den Regen warten müssen«, versicherte ich der Pflanze mit mutiger Brust. »Die Älteste hat das Ritual für den morgigen Abend angesetzt – und so die Götter es wollen, schenken sie uns einen Schauer, der das Land für eine Weile befriedigen kann. Dann bist du sicher.«

Obgleich ich mir sehr wohl der Tatsachenlage bewusst war und ebenfalls nicht daran glaubte, dass der Schössling mich auf irgendeine Art zu verstehen vermochte, so kam ich nicht umhin, mit Stolz über meinen Traum zu sprechen. Die blühende Wüste blieb der stetig währende Antrieb, der mein Leben wieder in geregelte Bahnen lenkte und mich einen Sinn aus meiner Existenz schöpfen ließ.

»Lass mich nicht umsonst hoffen, kleine Rose«, bat ich das Pflänzchen.

Aus dem Wasserschlauch entließ ich die kläglichen Tropfen, die nach der Übergabe an die Stammesälteste noch im Transportgefäß verblieben waren. Die aufgewühlte Erdschicht schluckte das Wasser mit gierigen Zügen und verfärbte sich derart rasch, dass man meinen mochte, sie wäre ein Verdurstender an der Schwelle des Todes.

Womöglich lag dieser Umstand der Wahrheit nicht fern.

Ich bettete die Wüstenrose in die feuchtgewordene Höhle und schlug die Erdklumpen wieder über die Wurzel, um sie danach mit weiteren Wassertropfen fest auf den Knollenstamm zu drücken. Die lehmartige Masse schien mit dem Stamm zu verwachsen, verankerte die Pflanze an ihrem Platz und ließ sie selbst den Wüstenwinden trotzen.

Da stand sie nun. Meine Wüstenrose.

Da stand sie und machte mich glauben, dass der Tag wohl doch noch ein guter werden würde.

Zu diesem Zeitpunkt konnte und wollte ich nicht erahnen, wie sehr ich mich in jenem Glauben nur täuschte.

***

»Ich wusste, dass ich dich hier finden würde.«

Die knarzende Frauenstimme hinter den Felsen ließ den Atem in meiner Kehle stocken, so sehr hatte ich mich in meine Gedankenwelten vergraben und in den Utopien einer blühenden Wüste verloren. Zunächst erschien mir der Klang jener Worte derart fremd, derart Stille zerstörend und fehl an diesem friedlichen Ort, dass ich die Person hinter den Sätzen über Minuten nicht einordnen konnte. Dann allerdings trat die Gestalt hinter den Steinen hervor …

… und ich landete unwillkürlich in der Realität.

»Sei gegrüßt, Nakhara«, krächzte die Stammesälteste.

Ein Schmunzeln legte sich auf das faltenzerfurchte Gesicht jener Frau, deren Körper unter einem roten Leinengewand verborgen war und indessen jegliche Körperlichkeit an die zahlreichen Stofflagen zu verlieren schien. Die Zeremonienkleidung bedeckte den buckligen Leib wie eine Wand des Unantastbaren, täuschte die Sinne mit zahlreichen Perlen und reflektierte die Sonne mit ihren bunten Scherben, sodass man glaubte, die Älteste würde über die Sanddünen schweben. Lediglich ihre knochigen Hände verliehen der Gestalt ein wenig Menschlichkeit, wie sie da so ohne jegliche Hautfarbe aus den Ärmeln ragten und sich an einen Gehstock aus Wurzeln klammerten.

Silbernes Haar schmiegte sich als Zopf an die Wange. Die Miene lag im Schatten eines dunklen Turbans, doch ihre Augen, die blitzten stahlblau aus der Nacht ihrer Kleidung.

»Sei willkommen, Älteste«, ließ ich mit einem ehrfürchtigen Nicken verlauten und erstarrte sogleich mit offenem Munde, als ich mir meiner wenig ehrfürchtigen Position vor ihr gewahr wurde. »Ach herrje, ich …«

 

Für gewöhnlich war die Stammesälteste mit einer angemessenen Verneigung zu begrüßen, wohingegen ich noch immer am Boden kauerte und meiner Rose augenscheinlich mehr Respekt in den Gesten zollte als der Lebensbringerin meines Stammes höchstselbst.

Ich saß auf dem Boden! Auf den Knien. Im Sand.

Schon fuhr ich in einer eiligen Bewegung in den Stand und stolperte über meine kribbelnden Beine, torkelte letztlich in Richtung der Felsen, stützte mich an die große Säule und raffte mich rasch zu einer besseren Haltung. Während auf den Lippen der Ältesten ein Lächeln der offensichtlichen Belustigung erschien, mühte ich mich gegen die Nebenwirkungen der lang gehaltenen Knieposition und versuchte, den Knicks nicht noch ungeschickter als meine Aufstehtorkeleien zu vollführen. Dann klopfte ich mir den imaginären Staub von der Kleidung. Man mochte meinen, ein Skorpion hätte mich in mein Sitzfleisch gestochen.

»Oh Götter! Entschuldigung. Ich war in Gedanken«, brabbelte ich mit hochroten Zügen in mich hinein, während die Bewegungen meiner Hände einer gewissen Hektik verfielen.

Mein Kommentar provozierte jedoch nur ein weiteres Lachen ihrerseits. Diesmal … gänzlich ungehalten. Und laut.

Die Älteste lachte mit ihrer knarzenden Reibestimme derart laut auf, dass der knochige Brustkorb unter den Stofflagen zu wippen begann und mit den aufgenähten Perlen und Scherben um die Wette zu schlackern schien. Der raue Klang erschütterte die Stille unter den Steinen, echote in den verborgen Steinschlünden fort und trieb mir mehr und mehr Röte auf die Wangen, bis ich glaubte, meine Haut könnte nicht röter werden.

»Mein Kind, mag ich auch deine Älteste sein, so bin ich doch noch immer deine Großmutter gewesen«, artikulierte die Frau zwischen den vergnügten Glucksern. »Dieser Ort kennt nur uns beide. Dich kennt er vermutlich besser als mich. Lass uns die Göttersalbung für ein paar Minuten vergessen.«

Ihr Faltengesicht veränderte den Ausdruck mit dem Gesagten und verwandelte sich in einen Blick voller Liebe.

»Du bist noch immer mein Kind. Du bist meine Tochter im Blut, Nakhara. Seit uns die Stämme des Westens deine Mutter genommen haben, bist du alles, was mir geblieben ist.«

Sie blinzelte.

»Ja, wir sind ein Stamm, aber wir sind auch Familie.«

Mein gepeinigter Herzschlag beruhigte sich unter den Worten, die der Stammesältesten äußerst selten über die Lippen kamen und zumeist im Geheimen geflüstert wurden. Obwohl diese Frau mich seit frühester Kindheit großgezogen hatte, ja, einer Mutter noch am nächsten gekommen war und mich durch die schwere Zeit ohne Eltern getragen hatte, sollte uns eine Nähe dieser Art seit ihrer Machtübernahme schlichtweg nicht mehr möglich sein. Mit ihrem Titel war sie auch für mich zur Ältesten des Stammes geworden.

Zur Führerin des Geistes. Zu einem Teil der Göttlichen.

Unantastbar und unnahbar sollte sie sein – und der Moment, da sie verdrängte Erinnerungen in mir erweckte, blieb umso kostbarer und reiner für mich. So verschwand letztlich auch die Röte aus meinen Zügen und nahm die Schamgefühle gleich mit sich fort, als ich mir gewahr wurde, dass meine Großmutter als Blutsfamilie – nicht als gottgleiche Gestalt – zu mir treten wollte.

Ich überbrückte die merkwürdige Distanz und fiel der buckligen Gewandungsgestalt um den Hals, presste den dürren Körper immer enger an mich und atmete ihren vertrauten Duft, als könnte ich den Moment auf diese Weise ewig bei mir behalten. Die Stammesälteste umschlang ihrerseits meinen Bauch, drückte ihr Gesicht an meinen Brustkorb und schloss die Umarmung mit dem Wanderstab hinter meinem Rücken.

Durch die nicht unerheblichen Größenunterschiede würde es stets bei einer skurrilen Form des Zuneigungsaustauschs bleiben. Dennoch schätzte ich die Sekunden der Nähe, die man für gewöhnlich an einer Hand abzuzählen vermochte.

»Ich bin stolz auf dich, Nakhara«, flüsterte die Frau. »Ich wollte es dir bereits bei deiner Ankunft im Lager sagen, dir erzählen, wie stolz ich auf deinen ersten Wasserdiebstahl bin, wie glücklich ich mich mit dir als mein eigen Fleisch doch schätzen darf. Du bist heute tapfer deinen Ängsten entgegengetreten und hast deine Dämonen in Gwerdhyll besiegt, indem du den Männern keinerlei Mühen mehr gelassen hast. Du hast deinen ersten Diebstahl erfolgreich gemeistert – und meine Brust wollte bersten vor Glück … Aber du bist so schnell zwischen den Zelten davongestürzt, dass mir gar keine Gelegenheit zu einem Gespräch mehr gegeben war.«

Wir lösten uns.

Ihre stahlblauen Augen bohrten sich in die meinen und schienen förmlich vor Sorge durchtränkt, als könnte sie jegliches Geschehen in meinen Gesichtszügen lesen, als könnte sie jeden meiner Gedanken erahnen und auch den jungen Soldaten aus meiner Erinnerung sehen. Ihre Hand reckte sich weit in die Höhe und schmiegte sich an meine Wange, als ich mich zu meiner Großmutter herunterbeugte und ihr mit gerunzelter Stirn entgegenblickte. So manches Mal zweifelte ich an ihren Worten, in denen sie versicherte, die Götter schenkten ihr keinerlei Fähigkeiten zur Gedankenübertragung.

Ich blieb ein offenes Buch für die Frau.

»Ich war unruhig. Der Angriff verfolgt mich noch immer«, wagte ich mich mit vorsichtigen Floskeln an eine Lüge. »Ich kann diesen Tag vor Gwerdhylls Toren nicht aus meinen Gedanken tilgen, als wäre er niemals wahrlich geschehen oder hätte keine Leben von uns genommen. Mögen die düsteren Dämonen, wie du sie bezeichnest, auch auf ewig aus meinem Geist geflohen sein … Ein Splitter der Gedanken wird mir immer bleiben.«

Wahrlich … Ich hatte gelogen!

Es handelte sich um einen gänzlich anderen Splitter, der mir aus Gwerdhyll geblieben war.

Aber …

Wie sonst sollte man auch von einer Begegnung mit einem Städter berichten, der einen nicht bloß mit dem Leben hatte davonkommen lassen, sondern bis in die tiefsten Winkel der Wüste verfolgte, dessen Antlitz vor blauem Himmel erschien und dessen Blick sich in die eigene Seele bohrte? Wie sonst erzählte man der Anführerin eines Stammes, dass man sich auf skurrile Weise mit dem Menschen verbunden fühlte, dass man eine gewisse Vertrautheit in seinen Zügen erkannte und ahnte, dass ein Geheimnis hinter den Dingen lag … all dies, obwohl man ihn aus blankem Herzen hasste?

Die Augen der Ältesten wanderten über meine Züge, lasen darin scheinbar eine verborgene Wahrheit und senkten sich dann zu unser beider Fußspitzen.

»Nun gut, ich wollte dir nicht zu nahe treten«, murmelte sie. »Manches Wissen steht mir nicht zu … und dennoch: Wir müssen uns unterhalten, Nakhara.«

Ich trat einen Schritt zur Seite, vollführte beinahe einen panischen Sprung – fühlte mich wie vom Blitz der Götter getroffen, hatte mich doch soeben die Erinnerung an das Gespräch mit Jharrn wieder in ihre Fänge geschlagen.

Über die Grübeleien war die unheimliche Begegnung im Zelt beinahe in Vergessenheit geraten, doch nun, da die Älteste offensichtliche Anspielungen einwarf …

Grundgütige Epona! Wie konnte ich nur vergessen, was Jharrn gesagt hat?

Nach dem Wasserdiebstahl. Ich soll es schon bald erfahren. Es wird definitiv geschehen. Ich soll es nicht unnötig schwer machen.

All diese Dinge hat der Wassermeister in seine Worte gebunden … und nun?

Als ich erneut die Züge der Stammesältesten las und ein gewisses Unbehagen darin erkannte, da war mir, als müsste mir das Herz hinauf in die Kehle steigen oder gänzlich seine Tätigkeit an den Schockzustand verlieren. Selten hatte ich solch eine Emotion in ihrer Miene gesehen … und noch seltener war mir ein solcher Blick zuteilgeworden, sodass ich umgehend nach Atemluft schnappte.

»Du wirst dir sicher denken, dass ich nicht nur aufgrund meines Stolzes den weiten Weg gekommen bin«, konstatierte die Stammesälteste, während sie unruhig mit den Füßen wippte.