Traumatische Verluste

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Traumatische Verluste
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Roland Kachler

Traumatische Verluste

Hypnosystemische

Beratung und Therapie

von traumatisierten

Trauernden

Ein Leitfaden für die Praxis

2021


Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:

Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)

Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)

Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)

Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)

Dr. Barbara Heitger (Wien)

Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)

Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)

Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)

Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)

Dr. Roswita Königswieser (Wien)

Prof. Dr. Jürgen Kriz (Osnabrück)

Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg)

Tom Levold (Köln)

Dr. Kurt Ludewig (Münster)

Dr. Burkhard Peter (München)

Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Tübingen)

Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)

Dr. Rüdiger Retzlaff (Heidelberg)

Prof. Dr. Wolf Ritscher (Esslingen)

Dr. Wilhelm Rotthaus (Bergheim bei Köln)

Prof. Dr. Arist von Schlippe (Witten/Herdecke)

Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg)

Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt (Münster)

Jakob R. Schneider (München)

Prof. Dr. Jochen Schweitzer (Heidelberg)

Prof. Dr. Fritz B. Simon (Berlin)

Dr. Therese Steiner (Embrach)

Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin (Heidelberg)

Karsten Trebesch (Berlin)

Bernhard Trenkle (Rottweil)

Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler (Köln)

Prof. Dr. Reinhard Voß (Koblenz)

Dr. Gunthard Weber (Wiesloch)

Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)

Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)

Prof. Dr. Jan V. Wirth (Meerbusch)

Themenreihe »Hypnose und Hypnotherapie«

hrsg. von Bernhard Trenkle

Reihengestaltung: Uwe Göbel

Umschlaggestaltung: Heinrich Eiermann

Umschlagfoto: © www.peopleimages.com

Redaktion: Dr. Eva Dempewolf

Satz: Drißner-Design u. DTP, Meßstetten

Printed in Germany

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Erste Auflage, 2021

ISBN 978-3-8497-0376-9 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-8265-8 (ePUB)

© 2021 Carl-Auer-Systeme Verlag und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

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Inhalt

Vorwort

1Was sind traumatische Verluste?

1.1Eine andere Traumapsychologie und eine andere Trauerpsychologie

1.2Kennzeichen traumatisierender Verluste

1.3Traumatisierende Kontexte von Verlusten

1.4Traumatisierende Verluste als schreckliche Überwältigungs- und Vernichtungserfahrung

1.5Interventionen: Das Erstgespräch und die Verlustdiagnostik

2Was bewirkt ein traumatischer Verlust akut? – Peritraumatische Verlusttrauma-Reaktionen

2.1Die akuten Traumareaktionen als neurobiologische Reaktion des Organismus

2.2Dissoziative und andere peritraumatische Reaktionen bei einem traumatisierenden Verlust

2.3Das Verlusttrauma als prolongiertes Monotrauma

2.4Das Verlusttrauma als komplexes Man-involved-Trauma

2.5Interventionen: Die Diagnostik der akuten Traumareaktionen

3Das bipersonale Verlusttrauma – Das Trauma des Verstorbenen und das Trauma der Hinterbliebenen

3.1Das Verlusttrauma als bipersonales Trauma

3.2Das Trauma des Verstorbenen – Das Zentrum des Verlusttraumas

3.3Empathie, Identifikation und Internalisierung – Wie das Trauma des Verstorbenen zu den Hinterbliebenen kommt

3.4Die Traumatisierung der Beziehung zum Verstorbenen

3.5Grundsätze der bipersonalen Verlusttrauma-Therapie

3.6Interventionen: Die Vertragsarbeit bei einem Verlusttrauma – Fünf Einladungshorizonte

4Was ein Verlusttrauma langfristig bewirken kann – Die Komplizierte Trauma-Trauer-Folge-Störung (KTTS)

4.1Der gelingende Trauer- und Beziehungsprozess – Das hypnosystemische Trauer- und Beziehungsmodell

4.2Normale posttraumatische Reaktionen nach einem Verlusttrauma

4.3Die Trauma-Verlust-Reaktion – Wie sich Trauma und Verlustschmerz gegenseitig beeinflussen

4.4Zeitliche Verläufe der Trauma-Trauer-Reaktion

4.5Die Entstehung einer KTTS

4.6Kennzeichen einer KTTS

4.7Interventionen: Diagnostik der posttraumatischen Verlustreaktionen und der KTTS

5Die beziehungsorientierte Stabilisierungsarbeit und die stabilisierende Beziehungsarbeit bei einem Verlusttrauma

5.1Die beziehungsorientierte Stabilisierungsarbeit

5.2Die stabilisierende Beziehungsarbeit

5.3Die Arbeit mit dem Nicht-mehr-leben-Wollen und dem Wunsch des Nachsterbens

5.4Interventionen: Der Umgang mit Dissoziationen und Retraumatisierung

6Verlusttrauma-Therapie für den Ego-State des Verstorbenen

6.1Grundlagen der bipersonalen Verlusttrauma- Therapie als Trauma-Transformation

6.2Traumatherapie für den Ego-State des Verstorbenen im und durch das Gespräch

6.3Imaginative Traumatherapie für den Ego-State des Verstorbenen

6.4EMDR für das Trauma des Ego-State des Verstorbenen

6.5Herausforderungen und Schwierigkeiten bei der Traumatherapie für den Ego-State des Verstorbenen

7Verlusttrauma-Therapie für die Ego-States der Hinterbliebenen

7.1Vorbereitung der Verlusttrauma-Therapie für die Ego-States der Hinterbliebenen

7.2Nachholende Traumatherapie der Hinterbliebenen als Trauma-Transformation

7.3Traumatherapie für die Hinterbliebenen in Situationen mit dem verstorbenen nahen Menschen

 

7.4Verlusttrauma-Therapie bei einer miterlebten traumatisierenden Verlustsituation mit eigener Lebensbedrohung durch Tötungsandrohung

7.5Traumatherapie für die Hinterbliebenen in traumatisierenden Situationen ohne den Verstorbenen

7.6Herausforderungen und Schwierigkeiten bei der Traumatherapie für die Hinterbliebenen

8Beziehungsarbeit bei einem Verlusttrauma – Die Therapie der traumatisierten inneren Beziehung

8.1Der Zugang zu einer dissoziativ blockierten inneren Beziehung

8.2Vorbereitungen für die Arbeit an der traumatisierten inneren Beziehung

8.3Lösung von bisher Ungeklärtem und Ungelöstem – Klärungs- und Konfliktlösearbeit

8.4Lösung der blockierenden Bindung durch Überlebensschuld und Schuldgefühle

8.5Lösende Arbeit bei Zorn und Wut auf den Verstorbenen

8.6Arbeit an der Traumatisierung der inneren Beziehung nach einem Suizid

8.7Schwierigkeiten bei der Therapie der traumatisierten Beziehung

9Realisierungsarbeit bei einem Verlusttrauma

9.1Realisierungsarbeit als Realisierung der dissoziierten und vermiedenen Aspekte des Verlusttraumas

9.2Weitere Realisierungsarbeit und die Arbeit mit Verlustschmerz und Trauer

9.3Herausforderungen und Schwierigkeiten bei der Realisierungsarbeit

10Verlusttrauma-Psychotherapie der Folgestörungen eines Verlusttraumas

10.1Psychische Folgestörungen eines Verlusttraumas und der KTTS

10.2Vertragsarbeit und Psychoedukation bei einer KTTS und bei Folgestörungen

10.3Grundlegende Prozessschritte in der Transformation der Folgestörungen

10.4Somatisierung des Verlusttraumas und psychosomatische Störungen – Das Verlusttrauma aus dem Körper lösen

10.5Depression als Lebensverzicht – Die Depression aus dem Stillstand lösen

11Vom bipersonalen Verlusttrauma in ein wieder glückendes Leben

11.1Die traumatisierte Beziehung zum Leben und die Vermeidung des Lebens

11.2Das bipersonale Verlusttrauma – Integration in die eigene Biografie

11.3Die innere Beziehung zum Verstorbenen – Verbunden und gelassen ins weitergehende Leben integriert

11.4Die bleibende Abwesenheit des Verstorbenen – Immer wieder trauriger Teil des weitergehenden Lebens

11.5Wiederaneignung des Lebens – Zurück in ein wieder glückendes und neu sinnerfülltes Leben

Literatur

Über den Autor

Vorwort
Achtzehn Jahre …

… hat es gedauert, achtzehn lange Jahre, bis ich mich jetzt noch einmal dem Trauma des Todes meines Sohnes stelle, es noch einmal vor mir sehe, es noch einmal bewusst anschaue, es noch einmal reflektiere.

Das Schrecklichste, das geschehen konnte, ist an diesem Abend des 2. Oktober 2002 geschehen. Nie mehr werde ich dieses Datum, diesen Zeitpunkt vergessen – eingebrannt wie mit einem glühenden Stempeleisen in das Weiche meines Gehirns, hineinverschmolzen in die Gehirnzellen, ein Loch hineinbrennend.

Nie mehr werde ich vergessen, was damals geschehen ist, so sehr ich es gerne vergessen würde, wohl immer noch mit der Hoffnung, dass es nicht geschehen sei, nicht geschehen sei mit meinem Sohn, nicht mit meiner Frau, nicht mit meiner Tochter.

Diese eigene, ganz persönliche Erfahrung der Verlusttraumatisierung beim Unfalltod meines Sohnes ist der Hintergrund dieses Buches. Aber es ist nicht nur meine eigene traumatische Erfahrung, die mich bewegt, sondern vor allem auch die Traumatisierung, die mein Sohn bei seinem Unfall und durch seinen Tod erleben musste. Wenn ich daran denke, flammen mein Mitgefühl und meine Liebe zu ihm wieder in ganzer Intensität auf.

Aber darf man in einem wissenschaftlich fundierten Buch so subjektiv von der eigenen Erfahrung ausgehen? Eigentlich wohl nicht, geht es doch darum, objektiv und mit Distanz ein wichtiges Thema darzustellen und das therapeutische Vorgehen wissenschaftlich zu begründen.

Und doch ist es für mich nicht anders möglich: Ich muss und will von meiner eigenen Erfahrung ausgehen. Und das ist auch gut so. Denn vieles in diesem Buch ist nicht nur von mir erlebt, sondern jetzt mit dem Abstand und der Reflexion auch von innen her verstanden. Zudem kam inzwischen in diesen zurückliegenden achtzehn Jahren auch die traumatherapeutische Arbeit mit sehr vielen traumatisierten Trauernden mit unterschiedlichsten schwersten Verlustsituationen dazu. Und auch hier sind es nicht nur die Erfahrungen der Hinterbliebenen, sondern die Schicksale und Traumatisierungen der verstorbenen Menschen, die einfließen. Ich danke den Hinterbliebenen, die mich an ihren eigenen schmerzlichen Traumatisierungen teilhaben ließen und die mir von dem traumatischen Sterben ihres nahen Menschen erzählt haben. Ich danke ihnen, dass ich sie begleiten durfte und so den bipersonalen Prozess der Traumatisierung bei traumatischen Verlusten noch genauer und besser verstehen konnte. Ich konnte zunehmend lernen, was traumatisierte Trauernde, aber auch die Ego-States der Verstorbenen brauchen und was ihnen hilft. Ich konnte darüber diesen hier vorgestellten neuen Ansatz der Verlusttrauma-Therapie für schwer Trauernde und dafür wiederum viele neue Methoden entwickeln, die den Hinterbliebenen helfen, trotz ihrer schweren Traumatisierung und ihres intensiven Verlustschmerzes Wege in ein Leben zu finden, in dem es wieder Freude, Glück und neuen Sinn geben darf.

Und natürlich habe ich die wissenschaftlichen Erkenntnisse, insbesondere der Neurowissenschaft und Traumapsychologie, aber auch die Erfahrungen von Kolleginnen und Kollegen in der Arbeit mit der traumatisierten Trauer aufgegriffen und integriert.

So halten Sie ein Buch in den Händen, das ein in Deutschland bisher übersehenes, aber so wichtiges Thema in der Trauerpsychologie darstellt, das durch eigene schmerzliche Erfahrung und der von vielen anderen Hinterbliebenen und deren Verstorbenen geprägt ist und das schließlich Ihnen helfen will, traumatisierte Trauernde nahe und zugleich professionell zu begleiten. Möge dieses Buch in diesem Sinne seinen Dienst für viele erbringen – für die traumatisierten Hinterbliebenen und für Sie als Berater und Beraterinnen, als Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, und nicht zuletzt für die Weiterentwicklung einer neuen, hilfreichen Trauma-Trauerpsychologie.

Remseck bei Stuttgart

Roland Kachler

1Was sind traumatische Verluste?

Fallbeispiel 1: Der sinnlose Tod eines Zweijährigen

Bei dem zweijährigen Lars wird in der Kinderklinik routinemäßig eine zunächst komplikationslose Darmspiegelung durchgeführt. Die Mutter bleibt in der darauffolgenden Nacht bei ihrem Sohn in der Klinik. Sie bemerkt, dass es ihrem Sohn schlecht geht und dass er wohl Fieber hat. Sie informiert mehrmals die Pflegekräfte, die ihr aber versichern, dass alles in Ordnung sei. Als dann auf weiteres Drängen der Mutter die diensthabende Ärztin kommt, liegt der Junge schon leblos in seinem Bettchen und reagiert nicht mehr. Die Mutter steht wie erstarrt daneben und nimmt schon nicht mehr richtig wahr, wie nun die Ärztin die Notfallmaßnahmen in Gang setzt. Der Junge kommt auf die Intensivstation, während die Mutter und der inzwischen gerufene Vater draußen vor dem Krankenhaus voller Verzweiflung warten. Sie sehen, wie der Oberarzt und der Chefarzt in die Klinik hasten. Ihre Ohnmacht und ihr Entsetzen werden immer größer. Nach zwei Stunden werden sie zum Chefarzt gerufen, der ihnen den Tod ihres Sohnes mitteilt. Die Mutter bricht schreiend zusammen, wird erst medizinisch und dann von der Klinikseelsorge betreut. Der Vater ist voller Wut und informiert noch aus der Klinik die Polizei, die dann in die Klinik kommt und mit den ersten Befragungen beginnt. Bei der angeordneten Obduktion stellt sich heraus, dass bei der Darmspiegelung der Darm des Jungen durchstoßen wurde und er letztlich an einer Sepsis verstarb.

In diesem Beispiel zeigen sich die verschiedensten Aspekte eines schweren traumatischen Verlustes. Der plötzliche, völlig unerwartete Tod eines geliebten kleinen Kindes, das Miterleben seines Leidens, die Erfahrung einer eigenen überwältigenden Ohnmacht und die weiteren Situationen, von der Eröffnung der Todesnachricht bis zu Bestattung, sind massiv traumatisierend. Beide Eltern werden zu mir zur Trauerarbeit überwiesen. Doch es geht hier offensichtlich nicht nur um eine Trauerbegleitung, sondern auch um die Arbeit mit dem Trauma und seinen Folgen wie dem Schock, dem Betäubt- und Erstarrtsein und den immer wieder einbrechenden Schreckensbildern vom Tod des Jungen. Zugleich brechen immer wieder intensivste Verlustschmerz-Attacken durch, die sich im Schreien und in Weinanfällen besonders bei der Mutter zeigen. Und keinesfalls übersehen werden dürfen die intensiven Gefühle der Liebe der beiden Eltern zu ihrem Jungen, die Sehnsucht nach ihm und das Mitleiden mit ihm. Fragen insbesondere der Mutter nach dem Warum des Todes des Kindes, nach der eigenen Mitschuld, und das Erleben der Sinnlosigkeit, der Ungerechtigkeit und der Willkürlichkeit des Todes brechen immer wieder auf. Eine intensive, lange Verlusttrauma- Psychotherapie für den verstorbenen Jungen und für die Eltern beginnt. Für solche und andere traumatischen Verluste brauchen wir als Berater und Psychotherapeutinnen ein neues Verständnis der Traumatisierungs- und Trauerprozesse und natürlich viele konkrete Handlungsmöglichkeiten für die traumatisierten und trauernden Hinterbliebenen.

1.1Eine andere Traumapsychologie und eine andere Trauerpsychologie

Viele Verluste werden von den Hinterbliebenen als traumatisierend erlebt. Wir sprechen dann von einem traumatisierenden oder traumatischen Verlust (Thompson, Cox a. Stevenson 2017; Carpenter a. Redcay 2019). Die damit verbundene Trauma- und Verlustreaktion bezeichnen wir als Verlusttrauma. Dieses ist mit einer massiven Traumareaktion verbunden, die einerseits den Reaktionen bei anderen Traumatisierungen gleicht, sich andererseits aber auch von diesen fundamental unterscheidet.

Deshalb brauchen wir ein neues traumapsychologisches Verständnis des Verlusttraumas. Die Psychotraumatologie eines Verlusttraumas muss ganz neu aufgestellt werden!

 

Dies wird häufig übersehen, sodass viele Trauerbegleitungen und -beratungen die Traumareaktion übergehen und versuchen, bei der Trauer einzusetzen. Nach einem traumatischen Verlust kommen die Betroffenen jedoch zuerst als Traumatisierte, die zugleich spüren, dass sie vom Trauma betroffene Trauernde sind, und erst später dann im eigentlichen Sinne zu Trauernden werden. Deshalb spreche ich in diesem Buch meist von Hinterbliebenen, weil diese Traumatisierte und Trauernde sind.

Ebenso sind die Trauerprozesse nach einem traumatischen Verlust ganz andere, weil sie von den Traumareaktionen massiv beeinflusst sind. Doch nicht nur die unmittelbare Verlust- und Trauerreaktion, sondern auch die Beziehung zum Verstorbenen1 sieht nach einem Verlusttrauma anders aus. Nach meinem Verständnis ist die Beziehung zum Verstorbenen ein zentraler Teil jedes Trauerprozesses, der hypnosystemisch verstanden immer auch ein Beziehungsprozess ist. Die Grundlage dieses Buches ist der von mir entwickelte hypnosystemische Traueransatz, in dem die innere Beziehung zum Verstorbenen ein wesentlicher Teil eines Trauer- und (!) Beziehungsprozesses ist (Kachler 2017; 2018; 2019). Deshalb brauchen wir auch ein neues Trauerverständnis für die Trauer- und (!) Beziehungsreaktion in einem Verlusttrauma.

Wir können also sagen, dass das Trauma bei einem Verlust den Verlustschmerz und die Trauer massiv beeinflusst und dass umgekehrt der Verlust die Dynamik einer Traumatisierung verändert. Zugleich verändert die Traumatisierung im Verlust auch die innere Beziehung der Hinterbliebenen zum Verstorbenen nach dessen Tod.

Merke!2

Die Traumatisierung bei einem schweren Verlust beeinflusst massiv die Trauer- und Beziehungsreaktion. Die Trauer- und Beziehungsreaktion gibt umgekehrt auch der Traumareaktion eine andere Dynamik.

Ein Verlusttrauma setzt sich zusammen erstens aus dem Verlust eines nahen, geliebten und existenziell wichtigen Menschen, der deshalb als schwerer Verlust erlebt wird, zweitens aus einem die Hinterbliebenen und den Verstorbenen (!) verletzenden, überwältigenden und damit traumatisierenden Tod und drittens aus den traumatisierenden, situativen Kontexten für die Hinterbliebenen bei diesem Verlust. Schließlich umfasst das Verlusttrauma viertens eine komplex miteinander interagierende Trauma-, Trauer- und Beziehungsreaktion der Hinterbliebenen. Die Art der Trauer- und Beziehungsreaktion hängt neben den traumatisierenden Aspekten auch von der bisher gelebten Beziehung der Hinterbliebenen zu ihrem verstorbenen nahen Menschen ab. Die Intensität der Trauma- und Trauerreaktion wird zudem von der Biografie, den Ressourcen und verfügbaren Abwehrmechanismen der Hinterbliebenen beeinflusst. Trotz dieser individuellen Kriterien bei den Hinterbliebenen ist ein schweres Verlusttrauma wie alle Traumata gerade auch dadurch definiert, dass es von der Mehrzahl der Betroffenen als überwältigend, bedrohlich, vernichtend und katastrophal, mithin also als traumatisierend erlebt wird (Maercker 2013).

Merke!

Ein Verlusttrauma umfasst den schweren Verlust eines geliebten Menschen, die Traumatisierung des Verstorbenen (!) und der Hinterbliebenen, die erlebten traumatisierenden Verlustsituationen und die sich gegenseitig beeinflussenden Trauma-, Trauer- und Beziehungsreaktionen der Hinterbliebenen.