Traumatische Verluste

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1.2Kennzeichen traumatisierender Verluste

Der Tod eines nahen Menschen hat bei den meisten betroffenen Hinterbliebenen in aller Regel hohe traumatisierende Wirkung, wenn folgende Kriterien zutreffen:

Existenzielle Bedeutung des Verstorbenen: Je wichtiger der verstorbene Mensch für die Betroffenen ist, je näher und fester die Bindung zum ihm ist und je intensiver die Beziehung gelebt wurde, desto schwerer wird der Verlust gerade dieses besonderen Menschen erlebt. Man könnte vereinfacht auch sagen: Je größer die Liebe zwischen den beiden, desto massiver wird der Verlust genau dieses Menschen erlebt.

Die existenzielle Wichtigkeit und die Tiefe der Liebesbindung werden von den Betroffenen natürlich ganz subjektiv erlebt und definiert. Deshalb verbietet sich jede Wertung von außen, stattdessen wird sie durch die Betroffenen ganz von innen und von der Beziehung zu diesem geliebten Menschen her vorgenommen. Sehr häufig sind es auch sehr individuelle Gründe, die die Bedeutung eines nahen Angehörigen bestimmen. So verliert eine Frau, die selbst kinderlos geblieben war, ihren für sie so wichtigen 30-jährigen Neffen bei einem schweren Autounfall und erlebt das wie den Tod eines eigenen Kindes.

Totalität des Verlustes: Bei einem schweren Verlust spüren die Betroffenen sofort, dass der Tod ihres nahen Menschen alles umfasst, alles trifft und alles zerbricht – alles ist anders, nichts ist mehr so, wie es bisher war. Diese Totalität des Verlustes erfasst die ganze Person der Betroffenen ganz und gar, das ganze bisherige Leben ist verändert, in Frage gestellt und vernichtet. Eine Ehefrau sagt nach dem tödlichen Unfall ihres Mannes: »Nichts ist mehr so, wie es war, ohne meinen Mann kann ich nicht leben.« Die Totalität des Verlustes schafft das Gefühl der Überwältigung und der eigenen Ohnmacht.

Plötzlichkeit des Verlustes: Plötzliche Verluste treffen die Hinterbliebenen völlig unvorbereitet, sozusagen von einer Sekunde auf die andere. Der Verlust kommt für sie völlig unerwartet, außerhalb jedes denk- und fühlbaren Erwartungsrahmens. Deshalb können sie sich weder zeitlich noch psychologisch auf dieses massive Ereignis vorbereiten. Hinterbliebene können deshalb ihre psychologischen Abwehrmaßnahmen nicht aktivieren, um sich zu schützen. Der Verlust trifft also auf wehrlose und verletzbare Angehörige: »Es war wie ein Blitzschlag, als die Polizei vor der Türe stand.« Ohne innere Vorbereitung führt der plötzliche Tod zu einer totalen Überwältigung der Hinterbliebenen.

Zudem ist kein Abschied möglich, häufig auch keine Klärung oder Aussprache über Konflikte oder belastende Geheimnisse. Genauso wenig ist es den Hinterbliebenen möglich, die letzte gemeinsame Zeit mit dem nahen Menschen bewusst zu erleben und aufzunehmen.

Unzeitigkeit des Verlustes: Der Tod des nahen Menschen kommt meist insofern unerwartet, als dass mit ihm zum jetzigen Zeitpunkt nicht zu rechnen war. Er läuft allen Erwartungen zuwider und wird als viel zu früh erlebt, besonders dann, wenn der nahe Mensch noch Kind oder Jugendlicher ist oder aber auch deutlich jünger, als es der normalen Lebenserwartung entspräche.

Die Hinterbliebenen erleben dies als Zerbrechen der sicher geglaubten Zukunft, Lebenskontinuität und der Sicherheit des Lebens. Dieses Zerbrechen der berechtigten Erwartungen und der üblicherweise vorauszusetzenden Regelhaftigkeit des eigenen Lebens wird als traumatisch erlebt, weil nun alle bisherigen Denk-, Fühl- und Handlungsroutinen abrupt abgebrochen und verunmöglicht sind.

Vernichtungserfahrung: Bei schweren Verlusten wird der Tod unmittelbar als Vernichtung des Verstorbenen und zunächst auch der Beziehung zum Verstorbenen erlebt, die nie mehr real gelebt werden kann. Damit wird auch die Vernichtung oder zumindest die massive Bedrohung der eigenen existenziellen Lebensgrundlage empfunden. Dies wird besonders deutlich und spürbar, wenn der Tod durch gewaltsame Einwirkungen wie bei einem Mord oder entstellenden Unfall eintritt. Hier wird der vernichtende Tod als etwas Furchtbares mit Gefühlen des Grauens erfahren. Auch Suizide werden häufig als Selbstvernichtung des nahen Menschen erlebt, der dabei auch die Beziehung zu den Hinterbliebenen vernichtet oder zumindest fundamental in Frage stellt.

Gewaltförmigkeit des Verlustes: Traumatisierende Verluste haben häufig gewaltsame Aspekte, z. B. bei einem tödlichen Unfall. Wird dabei auch der Körper des nahen Menschen (wie beispielsweise bei einem gewaltförmigen Suizid durch Erschießen) entstellt, wird die Gewalt des Verlustes konkret sichtbar. Oft wirken auch die vorgestellten Bilder vom verletzten, entstellten Körper des nahen Menschen traumatisierend. Je gewaltsamer der Tod des geliebten Menschen erlebt wird, desto stärker ist auch die Vernichtungserfahrung, und desto stärker ist die traumatisierende Wirkung des Verlustes.

Erlebte Todesnähe: Wird der Tod des nahen Menschen unmittelbar wie bei einem Unfall miterlebt, wird die Nähe des Todes durch eine eigene Lebensgefährdung selbst erfahren. Kommt dazu wie bei Kriegshandlungen die eigene Lebensbedrohung durch Gewaltandrohung, wird die traumatische Wirkung des Verlustes erhöht.

Zudem wird durch den miterlebten Tod des nahen Menschen eine unmittelbare bedrohliche Todesnähe erlebt, die eine existenzielle Ohnmacht und Lähmung bewirkt.

Zufälligkeit und Sinnlosigkeit des Verlustes: Betroffene erleben den schweren Verlust intuitiv als sinnlos und als Ergebnis zufällig zusammentreffender, willkürlich erscheinender Ereignisse. Dies erzeugt ein ungläubiges, entsetztes Nicht-Verstehen, verbunden mit einer bodenlosen Leere und dem Gefühl der Sinnlosigkeit. Oft wird der Tod des nahen Menschen auch als willkürlich und ungerecht erlebt, was eine wütende Ohnmacht auslöst.

Die hier genannten Kriterien eines traumatischen Verlustes wirken kumulativ auf die Betroffenen und erklären die traumatisierende Wirkung einer solchen Erfahrung.

Merke!

Ein traumatisierender Verlust ist als eine plötzliche und schreckliche existenzielle Vernichtungserfahrung zu verstehen, die oft gewaltförmig ist.

Folgende Verlustsituationen werden in aller Regel als traumatisierend erlebt:

•Verlust eines Kindes

•Suizid des Angehörigen

•Verluste in der Kindheit und Jugend

•Verluste in der Schwangerschaft und bei der Geburt

•Unfalltod und plötzlicher Tod durch Herztod, Ruptur eines Aneurysmas oder aufgrund anderer medizinischer Ursachen

•traumatische Erfahrungen des Verstorbenen vor seinem Tod, z. B. bei Behandlungsfehlern im medizinischen Kontext

•Verluste bei scheinbarer oder realer eigener Mitverantwortung der Hinterbliebenen

•Verluste bei Man-made-Katastrophen und damit Mitverantwortung anderer

•Mehrfach-Verluste

•Großschadensereignisse und Beteiligung der Massenmedien

•entwürdigende Behandlung des Verstorbenen

•uneindeutiger und/oder unvollständiger Verlust, z. B. keine Möglichkeit des Abschiednehmens zu Beginn der Corona-Krise

•Verluste bei der Flucht und Migration

•Reaktivierung früherer Verlusttraumata oder anderer Traumata

Jede dieser traumatisierenden Situationen, von denen diese Aufzählung eine unvollständige Auswahl darstellt, hat eine ganz eigene Dynamik und auch besondere Aspekte der Traumatisierung. Ich werde immer wieder auf einzelne der hier aufgeführten Verlusttraumata und der entsprechenden Fallbeispiele eingehen.

An dieser Stelle möchte ich kurz auf Flüchtlinge zu sprechen kommen, die häufig schon in der Heimat und dann oft auf der Flucht nahe Menschen auf traumatisierende Weise verlieren oder sie in der Heimat mitsamt derselben zurücklassen müssen. Häufig erleben sie auch bei der Überfahrt selbst lebensbedrohliche, traumatisierende Umstände. Deshalb sind Flüchtlinge meist multipel von Verlusttraumata und traumatisierenden Lebensbedrohungen betroffen, sind also mehrfach Traumatisierte und schwer Trauernde. Weil dann ihr Aufenthaltsstatus oft unsicher ist, kann eine Verlusttrauma-Psychotherapie nur sehr begrenzt durchgeführt werden und es muss häufig zunächst bei der Stabilisierung bleiben.

1.3Traumatisierende Kontexte von Verlusten

Die oben genannten Kennzeichen bei schweren Verlusten reichen in aller Regel aus, um ein Verlusttrauma bei den Betroffenen zu bewirken. Sehr häufig gibt es aber auch Kontexte beim Sterben und Tod des Angehörigen, die die Traumatisierung der Hinterbliebenen massiv verstärken. Die Mutter im obigen Fallbeispiel 1 erlebt mehrere massiv traumatisierende Situationen, beginnend beim Wahrnehmen der Leblosigkeit des Jungen über das Miterleben der Notfallmaßnahmen, das verzweifelte Warten, die Mitteilung des Todes und schließlich das Auftauchen der Polizei mit ersten Befragungen.

Bei der Arbeit mit traumatisierten Hinterbliebenen müssen wir deshalb die konkreten Umstände des Todes des nahen Menschen und des Miterlebens oder der Mitteilung des Todes erfragen, um deren traumatisierende Wirkung einschätzen zu können:

Miterleben des Todes des nahen Menschen: Das unmittelbare Erleben des Todes eines nahen Menschen ist in aller Regel massiv traumatisierend, weil sein Sterben über das Mitgefühl direkt am und im eigenen Körper miterlebt wird. Zudem sind hier der eigene Kontrollverlust und die eigene Ohnmachtserfahrung, aber auch Versagensgefühle, den Tod nicht verhindern zu können, besonders stark. So erlebt die Ehefrau, deren Mann in ihren Armen mit einem plötzlichen Herztod zusammenbricht, das Sterben ebenso unmittelbar wie die eigene Hilflosigkeit, ihn nicht mehr retten zu können. Auch die Erfahrung der Todesnähe, manchmal auch der eigenen Todesbedrohung z. B. bei einem Unfall, verstärkt die traumatisierende Wirkung solcher Verlustsituationen.

 

Erlebtes oder vermutetes Leiden beim Tod des nahen Menschen: Für viele Hinterbliebene ist das Erleben oder die Vermutung, dass der nahe Mensch bei seinem Sterben leiden musste, unerträglich. Das Leiden des Verstorbenen wird über das Mit- und Einfühlen als eigenes Leiden am eigenen Körper und damit häufig als traumatisierend erlebt.

Auffinden des Verstorbenen: Meist rechnen die Hinterbliebenen nicht damit, ihren nahen Menschen verunglückt, leblos oder tot vorzufinden, so wie die junge Frau, die ihre jüngere 16-jährige Schwester erhängt im Treppenhaus entdeckt. Sie sinkt auf die Treppen nieder und bleibt lange Zeit in einer totalen Erstarrung, bevor es ihr gelingt, die Notfallnummer in ihrem Handy einzugeben.

In der Auffindesituation wird der verstorbene Mensch meist sehr ausgeliefert, sehr ohnmächtig, manchmal auch entstellt oder in entwürdigenden Situationen vorgefunden. Auch das Schließen des Sarges und das Wegbringen des Leichnams durch das Bestattungsunternehmen kann noch einmal zusätzlich als traumatisierend erlebt werden.

Überbringung der Todesnachricht: Obwohl die Todesnachricht in aller Regel professionell von Polizei und Krisendienst oder Notfallseelsorge überbracht und eine Betreuung angeboten wird, ist die Situation für viele Hinterbliebenen doch traumatisierend, weil sie meist völlig unerwartet und ganz plötzlich kommt. Die Hinterbliebenen sind der Wucht der Nachricht, die selbst unfassbar, irreal und absurd klingt, ausgeliefert. Ein Elternpaar wird nachts um vier Uhr aus dem Schlaf gerissen. Vor der Tür stehen die Polizei und der Krisendienst, um den Unfalltod des 20-jährigen Sohnes nach seinem Diskobesuch mitzuteilen.

Mitbeteiligung am Tod des nahen Menschen: Sind die Hinterbliebenen kausal am Tod des nahen Menschen beteiligt, das heißt für seinen Tod mitverantwortlich, so wirkt das schockartig eintretende existenzielle Schuldgefühl massiv traumatisierend. Ein Mann verliert durch einen Sekundenschlaf die Kontrolle über das Auto und kommt von der Fahrbahn ab, dabei stirbt das befreundete Ehepaar im Fond des Wagens. Noch an der Unfallstelle bekommt er deren Tod mit und versinkt in einer Überflutung von Scham und Schuld, um dann mit dem Wunsch, auf der Stelle ebenfalls sterben zu wollen, zu erstarren.

Nachfolgende Interventionen beim Tod des Angehörigen wie polizeiliche Befragungen: Immer wieder werden Hinterbliebene unmittelbar nach dem Tod des nahen Menschen befragt oder zur Identifizierung des Verstorbenen herangezogen. Diese Prozeduren werden oft als völlig unpassend und überfordernd, manchmal auch als kränkend erlebt. Ein Vater kann nicht einschlafen, weil jeden Abend das Bild von der Identifizierung seines verstorbenen Sohnes auftaucht, der in einem abweisenden, kahlen Kühlraum aufgebahrt war.

Beschlagnahmung des Leichnams: Wird der Leichnam des verstorbenen nahen Menschen z. B. bei einem Unfall oder Suizid unmittelbar nach dem Tod beschlagnahmt, wird er den Hinterbliebenen entzogen. Sie können nicht die so wichtige unmittelbare Nähe zum Verstorbenen erleben, vielmehr ist er für sie fern, und sein Tod wird noch irrealer.

Großschadensereignisse mit Präsenz der Öffentlichkeit: Stirbt ein naher Mensch bei einem Großschadensereignis wie bei der Love-Parade in Duisburg, verstärken die mediale Berichterstattung und häufig auch die Präsenz von Presse das traumatische Verlustereignis, zudem sind die Hinterbliebenen oft der Neugier durch das Umfeld ausgesetzt. Wird der Tod eines nahen Menschen bei einem Großschadensereignis selbst miterlebt, intensivieren das meist auftretende Chaos und die massiven Reize der Rettungsaktionen das Verlusttrauma (Müller-Lange, Rieske u. Unruh 2013; Hausmann 2016).

Unklare Wartesituationen beim Sterben des nahen Menschen: Nicht selten müssen wie im Fallbeispiel 1 Angehörige in oder vor der Klinik auf die Nachricht über den Zustand des schwer verunglückten nahen Menschen warten. Sie befinden sich dabei in einem extrem spannungsvollen, ohnmächtigen und deshalb traumatisierenden Zustand zwischen einer verzweifelten Hoffnung und einer zerreißenden Angst vor einer möglichen Todesnachricht.

Abgebrochene oder nicht zugelassene Abschiedsrituale: Schwere Verluste, bei denen wie in der Covid-19-Krise die Beziehung abgebrochen wurde bzw. keine persönliche Begleitung beim Sterben möglich ist, wirken häufig traumatisierend, besonders auch wegen der Schuldgefühle gegenüber dem Verstorbenen. So muss die Familie wegen der Corona-Hygienemaßnahmen draußen auf den Treppenstufen des Krankenhauses sitzen, während der Vater einige Meter weiter allein in einem Krankenzimmer stirbt.

In den traumatisierenden Kontexten werden immer auch Auslösereize, sogenannte Trigger konditioniert, die dann später entweder die Traumareaktion oder Verlustschmerz-Reaktion auslösen. Diese Trigger sind oft Aspekte aus der Verlusttrauma-Situation, z. B. der Schrei des sterbenden nahen Menschen, sein Gesichtsausdruck, das von ihm getragene Kleidungsstück, der Ton der Sirene oder das Blaulicht, oft aber auch kleinste, scheinbar nebensächliche Aspekte wie der Geruch im Vorraum der Intensivstation, die Brille des Notarztes oder die Knöpfe an der Uniform der Sanitäter.

Merke!

Traumatisierende Kontexte bei einem Verlust verstärken in aller Regel die Traumatisierung und sind Teil eines Verlusttraumas. Zudem werden in den traumatisierenden Kontexten Trigger für traumatische Trauerreaktionen konditioniert.

1.4Traumatisierende Verluste als schreckliche Überwältigungs- und Vernichtungserfahrung

Treffen mehrere der genannten Merkmale eines traumatisierenden Verlustes und traumatisierende Kontexte beim Tod des nahen Menschen zusammen, dann setzt bei den Betroffenen ein massives Traumaerleben ein, das sich im Wesentlichen in fünf große Erlebensbereiche zusammenfassen lässt (Hanswille u. Kissenbeck 2010; Peichl 2012; van der Kolk 2019):

Erschrecken und Entsetzen: Für die Betroffenen ist das denkbar Schrecklichste und zugleich unvorstellbar Schlimmste, nämlich der Tod eines nahen Menschen, eingetreten. Im Erschrecken kommt es zu einem Tunnelblick und einem ersten Erstarren (Schauer u. Elbert 2010), der Atem stockt, und das Herz steht still. Das Entsetzen ist oft mit einem Gefühl von Grausamkeit und Grauen verbunden.

Überwältigung und Schock: Der Tod eines nahen Menschen raubt den Betroffenen jede Handlungsmöglichkeit und wird als totale Überwältigung erlebt. Erfahrungen der Desorientierung, Verwirrung und Sprachlosigkeit sind Ausdruck der Überwältigung und verstärken diese. Es folgen weitere Aspekte des Schocks wie verstärkte Erstarrung, Denkblockaden, Zittern, schwache Beine, Übelkeit und emotionale und körperliche Taubheit. Im Schock setzen nun die verschiedenen Dissoziationserfahrungen ein (vgl. nächstes Kapitel), durch die die grausame Realität als unwirklich und irreal erscheint.

Lähmung und Hilflosigkeit: Die durch den Schock ausgelöste im Körper erlebte Lähmung zeigt den Hinterbliebenen, dass sie nichts mehr für ihren nahen Menschen tun können. Sie sind durch den Tod des nahen Menschen und die eigene Lähmung jeder Handlungsmöglichkeit beraubt und erfahren dies als gänzlichen Kontrollverlust und Hilflosigkeit.

Ohnmacht und Verzweiflung: Die Hilflosigkeit überflutet als Ohnmachtsgefühl die Betroffenen und entzieht ihnen jegliche Energie und Kraft. Dies äußert sich als körperliche und emotionale Schwäche, die bis zu einem Kreislaufkollaps oder einer körperlichen Ohnmacht gehen kann. Die Ohnmacht wiederum zeigt sich nun auch emotional als panikartige und abgründige Verzweiflung, in der es keine Hoffnung auf Rettung des Verstorbenen und damit der eigenen Person gibt. Die Verzweiflung leitet dann das Aufgeben und die Unterwerfung unter die irreversible Tatsache des Todes ein.

Intensivste Verlustschmerz-Attacken: Zwar wird in der Überwältigung und im Schock der Verlust nur teilweise realisiert, aber in der Tiefe wird der Tod des nahen Menschen durchaus gewusst. Das ruft kurze intensivste Durchbrüche des Verlustschmerzes hervor, z. B. in Form eines Schmerzensschreis, des Schluchzens, einer Weinattacke oder eines Weinkrampfes. Die Verlustschmerz-Attacken sind dann meist so intensiv, dass es entweder zu einem Zusammenbruch oder zu einer raschen Dissoziation, also zur Abspaltung des Schmerzes kommt.

Beachte!3

Vor der Trauer steht der Verlustschmerz, der als intensive körperliche Erfahrung den Verlust signalisiert und sich zunächst im Schmerzensschrei, im Schluchzen und dann in einer Weinattacke äußert.

Natürlich sind diese hier beschriebenen Erfahrungsbereiche bei den Hinterbliebenen oft im Chaos der Gefühle vermischt, wechseln sich abrupt ab oder brechen immer wieder erneut intensiv auf. Die intensiven Gefühle gehen wie im folgenden und im nächsten Exkurs beschrieben auf eine neurobiologische Reaktion des Organismus der Betroffenen zurück.

Exkurs:

Das Kampf- und Fluchtsystem – Freezing, Lähmung und Numbing

Das Kampf- und Fluchtsystem ist die evolutionsbiologische Grundlage für die unmittelbare Traumareaktion, auch bei einem Verlusttrauma (Flatten 2011; Peichl 2012; Elbert u. Schauer 2014).

Eine lebensbedrohliche Situation aktiviert bei Säugetieren und beim Menschen die Amygdala, die in beiden Gehirnhälften lokalisiert und ein zentraler Teil des limbischen Systems, des emotionalen Gehirns, ist. Die Amygdala alarmiert den ganzen Organismus, indem sie die Stressachse mit dem Hypothalamus, der Hypophyse und der Nebennierenrinde aktiviert. Es kommt zu einer starken Ausschüttung von Adrenalin und Noradrenalin, um den Organismus in seinen Kampfoder Fluchtmodus zu versetzen. Der Blutdruck und die Herzrate steigen, der Atem wird schneller und flacher, es kommt zu Schweißausbrüchen, und die Muskelspannung nimmt zu.

Der Organismus ist nun bereit zu kämpfen oder zu fliehen. Im Kampf oder in der Flucht wird dann die bereitgestellte körperliche Aktivierung und Energie umgesetzt. Ist beides aber nicht möglich, greift der Organismus auf die letztmögliche Überlebensreaktion zurück, auf den evolutionsbiologisch angelegten Totstellreflex. Dieser Reflex ist bei Säugetieren die einzige Möglichkeit, einem Verfolger zu entkommen, wenn dieser von dem scheinbar toten Tier ablässt. Nun wird der ganze Organismus eingefroren, was als Freezing bezeichnet wird. Auch die einsetzende Paralysierung ist Zeichen des Schocks.

Erleben Betroffene den Tod eines nahen Menschen oder erfahren von diesem, ist die Todesnähe und die nun erfahrbare Übermacht des Todes eine der massivsten Bedrohungen. Das Erschrecken und der Schreck sind die erste evolutionsbiologisch angelegte Alarmreaktion der Amygdala, die sofort und ohne Umweg über den Cortex anspringt. Sofort wird das Gehirn mit Adrenalin und Noradrenalin überflutet und das sympathische Nervensystem massiv aktiviert. Im gleichen Augenblick spüren die Betroffenen aber auch, dass nun ein Kämpfen oder Fliehen aussichtslos ist. Über den Schreck, den Schock und die Panik werden nun wie bei anderen Säugetieren der Totstellreflex und der Parasympathikus aktiviert und die Aktivierung des Sympathikus abrupt abgebrochen, was zunächst ganz früh mit Übelkeits-, Schwäche-, Schwindel- und Ohnmachtsgefühlen einhergeht. Der Totstellreflex, die Aktivierung des Parasympathikus und die Ausschüttung von Endorphinen produzieren nun das traumatische Erleben. Der Schreck und Schock werden über das Freezing fixiert, der Organismus, insbesondere der Muskelapparat, wird paralysiert, und der für das Denken zuständige präfrontale Cortex und das Sprachzentrum werden blockiert. Es werden ein Tunnelblick und Betäubung, aber auch Verwirrung, Desorientierung und Sprachlosigkeit erlebt. Dazu kommt es nun zu verschiedenen dissoziativen und peritraumatischen Erfahrungen, in denen alles unwirklich erscheint (mehr in Kapitel 2). Auch der Hippocampus, der normale Erfahrungen in das biografische Gedächtnis integriert, wird in der Traumatisierung blockiert, sodass das Verlusttrauma unverbunden als emotionale Überwältigung unverarbeitet stehen bleibt, dann dissoziiert und oft auch fragmentiert wird.

 

Merke!

Ein Verlusttrauma wird in intensivsten Emotionen wie Erschrecken, Entsetzen, Verzweiflung, Ohnmacht und massivstem Verlustschmerz erlebt, die im Schock rasch weitgehend dissoziiert werden, sodass emotionale Taubheit einsetzt.

Diese emotionalen und psychophysiologischen Reaktionen in einem Verlusttrauma sind »normal«, das heißt, dass praktisch alle Menschen in ihrem Organismus auf ein Verlusttrauma damit reagieren.

Da der Organismus der Betroffenen die massiven Erfahrungen im Verlusttrauma nicht lange aushalten kann und auch nicht gänzlich zusammenbrechen und dekompensieren will, setzt in aller Regel sehr rasch die Schutzreaktion der Dissoziation ein. Die intensiven Emotionen werden deshalb sehr rasch gedämpft, betäubt und abgespalten. Dazu im nächsten Kapitel mehr.